Es geht voran

Die Bedeutung der Baucontainer im Kiez

Der Blick auf schutt­überladene Baucontainer beim Spaziergang durch den Kiez regt den Gedanken an, die Renovierung Kreuzbergs schreite voran. Da keimt die Hoffnung auf eine Zukunft in einer zentralbeheizten Altbauwohnung mit gefliestem Badezimmer, Geschirrspülmaschine und romantischer Aussicht auf die Hasenheide auf. Doch der Blick auf die Marktsituation zum Beispiel in der Bergmannstrasse lässt dieses Luftschloss zerplatzen wie eine Seifenblase. Eine solche Wohnung muss man sich heutzutage schon kaufen, dumm nur, dass sich das kaum einer leisten kann.

Wo wie hier gebaut wird steigen vermutlich bald die Mieten.

Foto: pskWo wie hier gebaut wird steigen vermutlich bald die Mieten. Foto: psk

Dass hier irgendetwas schiefläuft, fiel sogar der Wirtschaftswoche auf. Im März 2009 bescheinigte sie dem Berliner Immobilienmarkt den drittletzten Platz: Mäßige Wirtschaftskraft, sehr mäßige Standortqualität, stagnierende Sozialstruktur – alles durch die Brille des Kapitalanlegers gesehen.

Doch unverdrossen wird weiter renoviert, entmietet, die Miete erhöht und gebaut. Nun hat ein aktiv-kreativer Umgang der Kreuzberger mit gesellschaftlich wirtschaftlichen Gegebenheiten eine lange Tradition. Die Polit-Bewegung der 70er mündete fließend in die Hausbesetzer-Bewegung der 80er, die sich gegen spekulativ erzeugten Leerstand richtete, der Platz für schöne neue Betonbunker geschaffen hätte.

Paradoxerweise wird der Erfolg dieser Hausbesetzer-Bewegung dem Kiez jetzt zum Verhängnis. Das Blatt hat sich gewendet, trotz schlechter Bewertung in Kapital-Fachzeitschriften treten auf dem Kreuzberger Wohnungsmarkt vermehrt solvente Käufer auf, die schicke, szenenahe Altbau-Eigentumswohnungen zu horrenden Preisen erstehen. Aber keine Sorge, auch diese Käufer tragen ihr eigenes Paradoxon mit sich herum. Ist der Umzug ersteinmal überstanden, geht es an die Neustrukturierung des Wohnumfeldes. Wer zwischen zweihunderttausend und einer Million Euro für eine Eigentumswohnung hinblättert, toleriert keine Lärmbelästigung. Mit Hilfe des Ordnungsamtes wird genau die Szene, wegen deren Nähe der Preis gezahlt wurde, mundtot gemacht. Kiez und Kneipe berichtet seit geraumer Zeit über die einschlägigen Probleme der Wirte in dieser Hinsicht.

Trotz der aktuellen Maßnahmen zum Milieuschutz scheint der Raum für die lebendige Szene in Kreuzberg zu schwinden. Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen?

Die politischen Direktkandidaten fordern – je nach politischer Couleur – Veränderungen im Mechanismus der Vergleichsmieten (Wawzyniak), Mietpreisbindungen (Ströbele), Raumzuweisungen für Kulturschaffende (Böhning), flexiblere Handhabung amtlicher Auflagen (Löning) oder bedingungsloses Grundeinkommen (Lengsfeld). Ob irgendeine dieser Maßnahmen gegen einen Verdrängungswettbewerb wirkt, der über die Umwandlung in (oder »Schaffung von«) Eigentumswohnungen geführt wird, bleibt zu beobachten. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass überhaupt Schutzmaßnahmen durchgesetzt werden können.

Kultur und Szene werden von real existierenden, lebendigen Menschen gemacht. Falls die aktuellen Tendenzen anhalten, werden diese Menschen durch einen Typus verdrängt, der »Szene« als ein Produkt begreift, das man kaufen und konsumieren kann. Es bleibt die Frage, wie ein kreativer Umgang mit solchen Gegebenheiten aussehen könnte. Die ersten Flucht-Tendenzen nach Neukölln werden sichtbar – sollte sich die Geschichte dort wiederholen? Der gemeinschaftliche Kauf eines Bonner Stadtteils und anschließende Umwandlung à la Worpswede scheint wenig wahrscheinlich und es ist als Kreuzberger auch nicht einzusehen, weshalb man sich von seinem eigenen Publikum aus der Stadt jagen lassen sollte.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

Erkenne den Kiez

Nein, ein Bundestagsabgeordneter muss nicht ein Nebenbürgermeister im Kiez sein. Und sicher kann er nicht die bundespolitische Gesetzgebung nach den Bedürfnissen der Kreuzberger umschmieden. Da ist es nur verständlich, wenn der ein oder andere bei einer Wahlveranstaltung klar macht, wie weit die Möglichkeiten eines Bundespolitikers im lokalen Bereich reichen. Doch wo, wenn nicht im eigenen Kiez, kann er seine Persönlichkeit vor dem Wähler herausarbeiten. Die Wahlprogramme der einzelnen Parteien sind ja bekannt und dass sich die Kandidaten diesen Programmen im Großen und Ganzen verpflichtet fühlen sollten, versteht sich von selbst. Wer also noch nicht weiß, wo er am 27. September sein Kreuzchen machen soll, der kann doch seine Entscheidung davon abhängig machen, wie es der Kandidat mit dem Kiez hält.

Drei aus dem Kiez in den Bundestag?

Die Chancen der Kandidaten sind unterschiedlich – aber für fast jeden gut

In einem sind sich alle Kandidaten einig: Der Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer-Berg-Ost ist der spannendste im ganzen Bundesgebiet. Das liegt zum einen daran, dass hier mit Hans-Christian Ströbele der einzige Grüne antritt, der bislang ein Direktmandat im Bundestag errungen hat. Zum anderen spielt sicherlich eine Rolle, dass die anderen Parteien durch die Bank weg starke Kandidaten ins Rennen geschickt haben.

Doch wer wird am Ende tatsächlich in den Bundestag einziehen? Theoretisch könnte der Wahlkreis in der nächsten Legislatur sogar von drei Abgeordneten vertreten werden. Wahrscheinlich ist das nicht – aber ganz ausgeschlossen eben auch nicht.

Grundvoraussetzung für dieses Szenario ist zunächsteinmal, dass ein Mann gewählt wird. Die Erklärung ist einfach und hat nichts mit männlichem Chauvinismus zu tun. Tatsächlich ist keiner der drei Männer über die Landesliste abgesichert.

Sichere Listenplätze haben Halina Wawzyniak (Linke) und Vera Lengsfeld (CDU) nun auch nicht gerade – aber aussichtsreiche. Die bürgerliche Kandidatin Lengsfeld beispielsweise ist auf Rang 6 platziert, der der CDU immer genügt hatte – nur vor vier Jahren eben nicht.

Halina Wawzyniak wurde auf Platz 5 der Landesliste gewählt. Vor vier Jahren hätte der ebenfalls knapp nicht gereicht. Auf ihre Chancen angesprochen, ob sie es über die Liste schaffen könnte, meint sie: »Wenn wir 20 Prozent schaffen.«

Eine der beiden könnte es also schaffen, wenn die SPD schwächelt und die Stimmen nicht alle bei den Splitterparteien landen.

Ohne Netz und doppelten Boden kämpfen die drei männlichen Kandidaten. Keine Rolle im Kampf um das Direktmandat wird Markus Löning (FDP) spielen, der noch vor vier Jahren über die Liste in den Bundestag einzog.

Es könnte also auf ein Duell Ströbele gegen Böhning hinauslaufen. Genau das hat der 31jährige Ex-Jusovorsitzende bereits beschworen. Und seine Unterstützerliste liest sich imposant: Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Andrea Nahles, Literaturnobelpreisträger Günter Grass und natürlich Böhnings direkter Chef. Der heißt übrigens Klaus Wowereit.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

Fünf Kandidaten bei der KuK

Öffentliche Redaktionsgespräche zur Bundestagswahl

Fünf Termine mit fünf Kandidaten an fünf verschiedenen Orten. Die Beteiligten sind auch dieses Mal wieder zufrieden. Meist treffen sich die Bundestagsbewerber gemeinsam auf Podien, um ihre Standpunkte darzulegen. Das hat so seine Tücken. »Nach ein paar Wochen mit immer den Gleichen auf den Podien könnte jeder auch für die andere Partei Wahlkampf machen«, meint Hans-Christian Ströbele. Das Format, das Kiez und Kneipe wieder gewählt hatte, bietet dem Einzelnen mehr Freiraum und wird daher gut angenommen. Unsere Redakteure Manuela Albicker und Peter S. Kaspar trafen Markus Löning in der Cantina Orange, Vera Lengsfeld im Brauhaus Südstern, Hans-Christian Ströbele im Too Dark, Halina Wawzyniak im Mrs Lovell und Björn Böhning im Valentin.

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Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

Löning will fröhlichen Wahlkampf

Der FDP-Landesvorsitzende in der Cantina Orange

Auch FDP-Politiker fahren in Kreuzberg manchmal Fahrrad, so zum Beispiel Markus Löning zur Cantina Orange, wo er als erster der fünf Direktkandidaten zum Kuk-Redaktionsgespräch antrat.

Der studierte Politikwissenschaftler arbeitete als Grafiker und hatte eine Werbeagentur, bevor er 2002 über die Landesliste der FDP in den Bundestag einzog. Mitt­lerweile ist der 49jährige Landesvorsitzender seiner Partei.

FDP-Kandidat Markus Löning im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: rspFDP-Kandidat Markus Löning im KuK-Redaktionsgespräch Foto: rsp

Was treibt einen etablierten FDP-Politiker, der eigentlich aus Steglitz-Zehlendorf kommt dazu, ausgerechnet in einem Wahlkreis anzutreten, in dem das Wort »liberal« fast schon ein Schimpfwort ist? »Ich mache einen fröhlichen und siegesgewissen Wahlkampf und kämpfe natürlich dafür, dass die FDP insgesamt viele Stimmen bekommt und dass wir die Chance haben, in Deutschland insgesamt eine andere Politik zu machen«, sagt Löning.

Wie dies aussehen könnte, erklärt er am Thema Bildungspolitik: »Man sollte die Schulpflicht ein Jahr vorziehen, um die Kinder früher ans Lernen zu bringen, als es jetzt der Fall ist.« Weiter fordert er mehr Geld für Bildung und besonders eine bessere personelle Ausstattung von Hauptschulen.

Zum Themenkomplex Strukturwandel und Lärmempfindlichkeit neu zugezogener Kiezbewohner findet Löning deutliche Worte: »Wer hier hinzieht mit einem Fenster auf die Admiralbrücke, der kann sich nicht hinterher beschweren über den Lärm. Ich finde das ist einfach unlauter von Leuten, die da hinziehen und dann sagen, jetzt soll es hier aber so ruhig sein wie in Zehlendorf.« Die Festsetzung von Mieterhöhungen soll in der Hand der Vermieter liegen, ansonsten würden die Häuser verfallen. Eine Umsetzung der sozialen Marktwirtschaft sieht er mittels Genossenschaften, der Schaffung von Wohneigentum und – in Härtefällen – durch Mietzuschüsse des Sozialamtes.

Erwartungsgemäß liberale Ansichten hat Markus Löning zum Thema Rauchverbot und Ordnungsamtseinsätze. Die vielen Vorschriften und deren buchstabengetreue Auslegung und Durchsetzung schaden seiner Meinung nach insbesondere kleineren Betrieben und führen zum Verlust von Arbeitsplätzen. Chancen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sieht Löning am Spreeufer. Zwar trinkt auch er gerne mal ein Bier in einer der dortigen Strandbars, aber als Politiker müsse man abwägen, welche Nutzung der Flächen dem Land Berlin mehr Nutzen bringe.

Auf Schutz der Privatsphäre und der Rechte des Einzelnen legt die FDP nach Löning großen Wert. Die Themen Vorratsdatenspeicherung und Internetzensur würden mit wenig Sachkenntnis und viel Populismus diskutiert: »Ich denke auch daß das alles am Ende, nach dem Wahlkampf mit deutlich weniger Schaum vor dem Mund mal diskutiert werden muss…« auch hinsichtlich der Angemessenheit der zu ergreifenden Maßnahmen. »…wir brauchen ein Maximum an Freiheit, das Internet ist ein wahnsinnig wichtiges Forum auch zum Meinungsaustausch, da kann man nicht solchen Ideen von Vorgestern, wie das Herr Schäuble macht, kommen.«

Markus Löning findet, es gibt viel zuwenig Selbständige im Bundestag, weil das Risiko einer Geschäftsaufgabe zugunsten einer Kandidatur viel höher ist als zum Beispiel bei einem Beamten. Entsprechend schwierig gestaltet sich die tatsächliche Durchführung von Maßnahmen zum Bürokratie-Abbau.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

»Die CDU ist eine andere als vor 20 Jahren«

Vera Lengsfeld zu Gast im Brauhaus Südstern

Dass es überhaupt eine Kandidatin Vera Lengsfeld in Kreuzberg gibt, ist ihrem Kandidatenvorgänger Kurt Wansner zu verdanken. Der rief eines Tages bei ihr an und fragte sie in aller Unschuld, ob sie nicht die Kandidatin für den Wahlkreis Kreuzberg-Friedrichshain werden wolle. Zunächst war sie verblüfft, dann aber dachte sie »Das ist aber ein nettes Angebot«.

Diese Aussage sollte nicht die einzige Überraschung an diesem Abend im »Brauhaus Südstern« sein. Die erste war, dass Vera Lengsfeld mit einem ausgesprochen wohlerzogenen Hund zur Fragerunde kam. Ein andere war ihre Reaktion auf die Reaktionen zu ihren umstrittenen Plakaten. Sie kann das Grumeln in der Partei gar nicht verstehen, erklärt aber, dass Frank Henkel, der neue Landesvorsitzende der Meinung sei, dass dieses Plakat der Landes-CDU 200.000 Euro Wahlkampfkosten gespart habe.

CDU-Kandidatin Vera Lengsfeld im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: rspCDU-Kandidatin Vera Lengsfeld im KuK-Redaktionsgespräch Foto: rsp

Dass ihre Einstellungen häufig so gar nichts mit den Vorstellungen ihrer Partei zu tun haben, erklärt sie so: »Wenn ich heute hier rumgehe, habe ich das Gefühl, die Leute glauben, es sei noch die Partei wie vor 25 Jahren. Das kann ich ja verstehen, weil dieses Feindbild hatte ich vor 20 Jahren auch. Aber die Partei ist nicht mehr so. Den besten Beweis bietet mein Wahlplakat. Das wäre vor 20 Jahren unmöglich gewesen.«

Man wird an diesem Abend das Gefühl nicht los, als ob der einstmals treue Parteisoldat Kurt Wansner seiner CDU, die ihm vor vier Jahren so übel mitgespielt hat, einen Streich spielen wollte, der ihm noch besser geglückt ist, als er sich das vielleicht gedacht hat. Denn Vera Lengsfeld fand sich nach ihrer Wahlkreiskandidatur plötzlich auf einem einigermaßen aussichtsreichen Listenplatz wieder, nachdem die Basis gegen die Landesführung geputscht hatte.

Insofern hat Vera Lengsfeld wohl recht, dass sich ihre Partei geändert habe, doch als die Frage kommt, was ihre Partei für sie tue, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: »Nichts.«

Tatsächlich scheinen ihre Ansichten in vielen Fällen auch nicht gerade CDU-affin zu sein: in Sachen Vorratsdatenspeicherung findet die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin, die selbst lange unter Observation gelitten hat, die Argumentation nicht schlüssig. »Ich habe Erfahrungen mit flächendeckender Überwachung gemacht. Ich bin nicht dafür, dass man die Bevölkerung entmündigt wegen einer Handvoll Terroristen.«

Nicht anders sieht es bei der Sperrung von Internetseiten aus. »Der Sperrung stehe ich sehr skeptisch gegenüber«, erklärt die CDU-Kandidatin zu dem Gesetz, das immerhin von der Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) stammt.

Die Piratenpartei will Vera Lengsfeld nicht unterschätzen. »Die beackert ein Feld, das von der Politik bisher vernachlässigt wird«, erklärt sie.

In der Diskussion überraschte Vera Lengsfeld schließlich noch mit ihrem klaren Bekenntniss zum bedingungslosen Grundeinkommen. Sie nennt es einen »Befreiungsschlag gegen die Überbürokratisierung, mit der wir zu kämpfen haben.«

Als es um die Mitbewerber ging, schnitt ausgerechnet Halina Wawzyniak von der Linken in den Augen der Unionspolitikerin am besten ab. Über ihren einstigen Mitstreiter Hans-Christian Ströbele zeigte sich die frühere Grüne dagegen verwundert. »Christian hat ganz zugeknöpft auf mein Plakat reagiert.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

»Jetzt muss der Druck der Straße her«

Hans-Christian Ströbele (Bündnis90/Die Grünen) zur Vorratsdatenspeicherung beim Besuch im Too Dark

Er ist der wohl prominenteste Kandidat, bekennender Fahrradfahrer, Cannabislegalisierungsbefürworter und Bürgerrechtler, und außerdem ist er der »Titelverteidiger« des Direktmandats im, wie er selbst sagt, »berühmtesten Wahlkreis Deutschlands«. Entsprechend groß war der Andrang im Too Dark in der Fürbringerstraße, entsprechend hoch auch die Erwartungen an den Grünen Hans-Christian Ströbele, den viele als ihren ganz persönlichen Kreuzberg-Vertreter im Bundestag sehen beziehungsweise gerne sähen.

Als Bundestagsabgeordneter ist er natürlich nicht für Lokalpolitik zuständig, setzt sich aber trotzdem mit den Angelegenheiten im Bezirk auseinander. Mit der Drückerstube am Kotti zum Beispiel, für die er bei Anwohnern um Verständnis wirbt. Nach seiner Meinung müsste auch der Senat mehr Geld zur Verfügung stellen, um längere Öffnungszeiten zu ermöglichen. Auch in Sachen Admiralbrücke will er sich für eine einvernehmliche Lösung einsetzen.

Grünen-Kandidat Hans-Christian Ströbele im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: rspGrünen-Kandidat Hans-Christian Ströbele im KuK-Redaktionsgespräch Foto: rsp

Einige kiezspezifische Probleme ließen sich aber auch auf Bundesebene angehen: Zum Beispiel der Strukturwandel, der in Kreuzberg zu überhöhten Mieten führt. »Es muss auch Aufgabe des Gesetzgebers sein, bestimmte Mischungen der Bevölkerung erhalten zu können«, findet Ströbele und spricht sich für ein Bundesgesetz aus, das es der lokalen Verwaltung erlaubt, Mietobergrenzen festzulegen.

»Finanzmärkte entwaffnen!« heißt es auf seinem wieder von Seyfried gezeichneten Wahlplakat.

Aber wie soll das gehen? Sicher nicht mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz, das es der Regierung erlaubt, staatliche Unterstützungsgelder an die Banken zu zahlen, findet Ströbele. »Ich will als erstes das Parlamentsrecht wiederherstellen, dass über solche Summen wieder der Bundestag entscheidet und nicht ein Finanzminister alleine.« Außerdem soll die Regierung Rechenschaft über die Zahlungen ablegen und nicht, wie bisher bei Anfragen von Ströbele geschehen, die Geschäftsgeheimnisse der Banken vorschieben. Neben dem Afghanistan-Krieg, den Ströbele möglichst bald beendet wissen möchte, ist dies eine seiner Hauptmotivationen, wieder in den Bundestag zu wollen.

Zum Thema Vorratsdatenspeicherung und Webseitensperrung verweist Ströbele auf die Demo am 12. September. »Man darf nicht immer aufs Bundesverfassungsgericht hoffen, der Druck der Straße muss her.« Sperrungen von kinderpornografischen Webseiten findet er »ungeheuer gefährlich, weil man dadurch die Möglichkeit schafft, in Zukunft aus allen möglichen Gründen Internetseiten zu sperren.«

Von einer möglichen schwarz-grünen Koalition hält Ströbele nichts, will aber »nie ‚nie‘ sagen« – wie übrigens auch zur Frage, ob er sich vorstellen könnte, in vier Jahren erneut zu kandidieren. Schließlich ist der 70jährige schon jetzt einer der ältesten Politiker im Bundestag.

Eher philosophisch war dann die Publikumsfrage, woran man einen redlichen Politiker erkenne. Grundsätzlich sähe man das »an seinem Tun« – aber die Frage, wie sich Gewissen und etwa das Fortbestehen einer Koalition zueinander verhalten, dürfe man auch nicht unterschätzen. Auf jeden Fall sei es »nicht nur eine Frage des Charakters.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

»Mieter sollen am Mietspiegel beteiligt werden«

Halina Wawzyniak (die Linke) will ungewöhnliche Wege beim Strukturwandel gehen

Da Hans-Christian Ströbele mit dem Rad unterwegs ist, stellt sich auch bei den anderen Kandidaten die Frage, welches Verkehrsmittel sie präferieren. Halina Wawzyniak kommt zum Redaktionsgespräch mit der KuK im »Mrs Lovell« mit dem Motorroller. Tags zuvor hat sie sich beim Viertelmarathon schon laufenderweise durch den Kiez bewegt. Sportlich ist sie auf jeden Fall.

Die 36jährige ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Linken, arbeitet als Justiziarin für die Bundestagsfraktion und gehörte der Programmkommission ihrer Partei an, das heißt sie bestimmt den Kurs ihrer Partei auch ganz maßgeblich mit.

Trotzdem sitzt da auf dem hohen Barhocker eine junge Frau, die die Probleme im Kiez nicht nur aus eigenem Erleben kennt, sondern sich sowohl positioniert, als auch engagiert. An der Admiralbrücke, so gesteht sie unumwunden, hat sie abends auch gerne gesessen und hat noch ein oder zwei Bierchen getrunken, als sie noch in Kreuzberg wohnte. Als das Thema auf das »SO 36« kommt, ruft sie gleich zum Besuch des Solidaritätskonzertes auf.

Ihre Rezepte gegen die Verdrängung aus den angestammten Wohngebieten, entnimmt sie dem Mietrecht. Miet­erhöhungen darf es nur im Rahmen des Erlaubten basierend auf dem Mietspiegel geben. An dem sollen in Zukunft aber auch Mieter beteiligt sein.

Direktkandidatin Halina Wawzyniak von der Linken im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: piDirektkandidatin Halina Wawzyniak von der Linken im KuK-Redaktionsgespräch Foto: pi

Für ein anderes Problem, das der Strukturwandel mit sich bringt, hat die Juristin eine verblüffend einfache Lösung parat. Dass sich viele Zugezogene über den Lärm eingesessener Kneipen beklagten und bisweilen auch deren Aufgabe erzwingen können, ist in ihren Augen gar nicht nötig – wenn die Mietverträge anders ausgestaltet werden. »Zum Beispiel drin stehen würde: dem Mieter ist klar, dass er über eine Kneipe zieht, die Öffnungszeiten sind von da bis da. Dann würde es für ein Gericht schwieriger, zu Gunsten des Mieters zu entscheiden.«

Auf die Frage nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen bekennt sie, dass sie dafür eine gewisse Sympathie habe, räumt aber ein: »die Frage nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen ist bei uns in der Partei noch nicht ausdiskutiert.« Derzeit fordere die Linke laut ihrem Parteiprogramm, auf das sie verpflichtet sei, eine sanktionsfreie Mindestischerung von 800 Euro. Allerdings werde die Frage nach dem Bedingungslosen Grundeinkommen nach der Wahl diskutiert werden.

Fragen ums Internet treffen bei Halina Wawzyniak ins Schwarze. Sie gibt zu, »süchtig« zu sein. Bei ihr wird getwittert und gechattet und gebloggt wann immer es geht.

Die Webseitensperre für kinderpornografische Seiten, der sich Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen verschrieben hat, nennt sie unverholen den Einstieg in die Zensur. Bayerns Innenminister Hermann versuche diese Zensur jetzt schon auf andere Bereiche zu übertragen. Halina Wawzyniak fordert dringend mehr Sachverstand in die Netzpolitik mit einzubringen und will sich dafür auch einsetzen.

Ihre persönlichen Chancen sieht sie realistisch. Sie glaubt nicht wirklich daran, Hans-Christian Ströbele gefährden zu können, schätzt aber, dass es zu einem interessanten Zweikampf zwischen ihr und Björn Böhning um den zweiten Platz geben wird. Und der Listenplatz: »Ich sammle ja fleißig Zweitstimmen und wenn wir 20 Prozent bekommen, dann bin ich im Bundestag.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

Björn Böhning glaubt an seine Chance

SPD-Kandidat vermisst im Wahlkampf Inhaltliches

Er glaubt an seine Chance gegen Hans-Christian Ströbele. Björn Böhning ist mit 31 der jüngste aller Kandidaten, aber es ist nicht der jugendliche Übermut, der ihn das glauben lässt. Der ehemalige Jusovorsitzende weiß den mächtigen Parteiapperat hinter sich, was nun nicht gerade jeder seiner Mitbewerber von sich sagen kann.

Jetzt ist er Chef des Grundsatzreferats von Klaus Wowereit. Fasst man alles zusammen, dann sieht es so aus, als ob hier der Beginn einer großen Politikerkarriere zu bestaunen ist.

SPD-Kandidat Björn Böhning im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: piSPD-Kandidat Björn Böhning im KuK-Redaktionsgespräch Foto: pi

Er selbst sieht seine Karriere als nicht so stringent an. Immerhin hat er sich auch schon für zwei Jahre aus der Politik zurückgezogen.

Doch inzwischen ist er wieder da und tritt im prominentesten Wahlkreis des Landes an. Da er immer schon im »politischen oder Politik nahen Bereich arbeiten wollte« ist davon auszugehen, dass sein Engagement nicht nach der Wahl aufhört.

Dieses politische Engagement findet auch im Kiez seinen Ausdruck. Er nennt beispielsweise die Sanierung des Baerwaldbads als Exempel dafür, wie die Bundespolitik durch Programme bis in den Kiez wirken kann. Aber es geht eben nicht alles über bundesgesetzliche Regelungen. »Ich habe das Gefühl, dass die Toleranzschwelle gesunken ist«, beklagt der bekennende Kreuzberger, der von der Katzbachstraße aus seinen Kiez im übertragenen Sinne ganz gut im Blick hat.

Gesetzliche Regelungen helfen aber auch nicht überall. Im Fall von unterschiedlichen Betrachtungsweisen zum Thema Lärmemissionen rät Böhning zum Gepräch und zur gegenseitigen Rücksichtnahme, wohlwissend, dass dies nicht immer funktionieren kann. »Ich weiß, dass das keine nachhaltige Lösung ist«, gibt er zu. Aber »ich kann ja auch nicht versprechen, dass wir die Dezibelgrenzen abschaffen.«

Beim umstrittenen Thema Admiralbrücke ist seine Haltung dagegen klar. Das hat nicht mehr viel mit dem Kreuzberger Lebensgefühl zu tun. »Die Admiralbrücke ist durch Lonely Planet und andere zu einem Anlaufpunkt für Leute geworden, die glauben, dort Party machen zu müssen.«

In Sachen Mediaspree gibt er zu bedenken, dass die SPD-Friedrichshain-Kreuzberg die einzige Partei in der BVV war, die das Bürgerbegeheren unterstützt habe. Björn Böhning outet sich auch nicht gerade als Fan des Mediaspree-Konzeptes. Allerdings muss er sich dann schnell die Frage gefallen lassen, was denn sein Chef Klaus Wowereit dazu sage, denn Böhnings Einstellung steht der des Regierenden diametral entgegen. Böhning kontert locker und charmant: »Haben Sie noch nie eine andere Meinung gehabt als Ihr Chef?«

Ein wichtiges Feld, das es im Bundestag in Zukunft zu beackern gibt, ist das Thema Internet. Das sieht auch Björn Böhning so, der aber darüber hinaus das Netz in Zukunft auch als wichtige Kommunikationsplattform mit den Bürgern sieht.

Die Vorratsdatenspeicherung lehnt Böhning ab. Er fordert, dass der Staat die gleiche Transparenz zeigen müsse, die er von seinen Bürgern erwartet.

Über 5.000 Hausbesuche habe er inzwischen gemacht, erklärt Böhning, der »die Ausgegrenzten zurück in die politische Arena holen« will. Seinen Mitbewerbern, die er persönlich schätzt, wirft er indes eine Schlemmerisierung des Wahlkampfes vor. Tiefer Ausschnitt und Pogeweih gäben keine politischen Inhalte wieder.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.