Erbonkel und Friedensstifter

Manchmal lohnt es sich auch, einen Blick zurück zu werfen, wenn man in die Zukunft schauen will. Vor einem Jahr prophezeihten wir an dieser Stelle, dass das SO36 nicht dicht gemacht werde. Ehrlicherweise stand das damals weniger als Vorhersage, sondern als ein eher verzweifelter Wunsch. Und? Er ist dann doch noch in Erfüllung gegangen. Und was lernen wir daraus? Vielleicht sollten wir für 2011 einfach unverdrossen auch auf die unwahrscheinlichen Dinge hoffen. Vielleicht stoppen ja Einsicht und Vernunft Gentrifzierung und Geldgier. Vielleicht hinterlässt ein unbekannter reicher Erbonkel in den USA Kreuzberg ein Milliardenvermögen. Und vielleicht wird sich an einem milden Frühlingsabend ein weiser alter Mann auf die Admiralbrücke setzen, um mit Anwohnern und Partyvolk ins Gespräch zu kommen. Und danach bricht dort dann der große Friede aus.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2011.

Auf begehbaren Pfaden

Fußgänger haben es in diesem Winterchaos besser als im letzten

Es war ein Déjà-Vu der schlimmeren Sorte, als der Dezember mit Eis und Schnee begann. »Geht das schon wieder los«, hat der eine oder andere gedacht und der nächste hatte schlagartig Frühling, Sommer und Herbst verdrängt: »Hatten wir das nicht erst vor drei Wochen?«

Verschneite AutosWer braucht schon sein Auto? Die meisten Wagen im Kiez bekamen Winterferien. Foto: phils

Dass das neue Jahr mit Tauwetter begonnen hat, kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass die letzten vier Wochen von 2010 auf manche wie ein Spiegelbild der ersten sechs wirkten.
Trotzdem gibt es doch einige gravierende Unterschiede. Beispielsweise war es im letzen Winter nicht nötig gewesen, das Nationaldenkmal auf dem Kreuzberg zu sperren. Diesmal hielt es das Bezirksamt für dringend geraten, den Schinkelbau vor Silvester dicht zu machen. Gesperrt war eine höfliche Untertreibung. Das Denkmal war mit einem Bauzaun verrammelt.
Manch ein Räumdienst hat nach dem zweiten schneereichen Winter in Folge die weiße Fahne gehisst. Die, die übrig geblieben sind, machen es, so scheint es, dann doch ein wenig besser. Zwar war es niemandem gegeben, die ganze weiße Pracht einfach verschwinden zu lassen, doch zumindest auf den Gehsteigen gibt es diesmal erkenn- und vor allem begehbare Pfade. Die hatte es vor einem knappen Jahr fast nirgendwo mehr gegeben. Vorherrschend waren meist unpassierbare hochgefährliche Eisbahnen.
Die Erkenntnis, dass Split auch für Fußwege eine durchaus segensreiche Einrichtung ist, hat sich im Winter 2010/11 offensichtlich ziemlich flächendeckend durchgesetzt.
Insgesamt scheint es so, als habe der Kiez aus den sechs Horrorwochen zu Beginn des vergangenen Jahres einige wichtige Lehren gezogen, wenngleich nach dem dezemberlichen Wintereinbruch viele genau dieses bezweifelt hatten.
Ob daran die drastischen Strafandrohungen für Räummuffel schuld sind, oder ob die neue Begehlichkeit der Wege auf die Einsicht der Hauseigentümer zurückzuführen ist, ist letzlich egal.
Dass diesmal wenigstens die Gehwege zu begehen sind, macht schließlich Sinn, denn die Straßen für Auto- oder gar Radfahrer freizumachen, ist zwar löblich, aber die meisten von denen sind inzwischen auch Fußgänger geworden. Das erkennt man an ihren Fahrzeugen, die sie seit Wochen unter gigantischen Schneehaufen versteckt haben.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2011.

Die Kreuzberger Trockenlegung

So war 2010 im Kiez / Ein Jahresrückblick von Peter S. Kaspar

Das Jahr beginnt so, wie es aufhören wird, mit Schnee und Frost. Es gibt einen kleinen, aber bedeutenden Unterschied. Der Jahresbeginn leitete eine sechswöchige Eis- und Kälteperiode ein. Am Ende des Jahres währt die schon seit vier Wochen.
Bei Radio Multicult2.0 herrscht Freude: Die Ex-Multikulti-Macher haben nun ein Studio in der Marheineke-Markthalle. Außerdem gibt’s wieder ein kleines Fenster auf einer Frequenz.
Im Februar lehnt die BVV fast einhellig den Haushalt für 2010 und 2011 ab. Nur die SPD stimmt dafür. Alle anderen Parteien demonstrieren damit gegen die Politik des Senats, der die Bezirke am ausgestreckten Arm verhungern lässt.
Fast wie ein Aprilscherz mutete es an, dass der Bezirk versucht einen möglichst alkoholfreien 1. Mai durchzusetzen. Der tatsächliche Aprilscherz der KuK, nämlich dass Kreuzberg Europäisches Pilotprojekt für ein absolutes Rauchverbot wird, segelt derweil unter die Top 100 der besten deutschen Aprilscherze 2010.
Die gute Nachricht im April: Der monatelange Kampf um den Erhalt des SO36, in den sich unter anderem auch heldenhaft die »Toten Hosen« gestürzt hatten, ist erfolgreich. Der Club bleibt – und wird auch noch zum besten Deutschlands gewählt.
Doch nicht überall sieht es an der Gentrifizierungsfront so gut aus. Im Fanny-Hensel-Kiez explodieren die Mieten für alle Mieter mit türkischen und arabischen Nachnamen. Wer sich solidarisiert und protestiert muss ebenfalls mehr bezahlen – und dann gibt’s auch noch einen Verzweiflungstoten.
Der Eyjafjallajökull verfinstert Europas Luftraum und lässt auch so manchen Kreuzberger irgendwo stranden. Abenteuerliche Geschichten von abenteuerlichen Heimfahrten häufen sich.
Der erste Mai kommt und es gibt doch an ein paar Bühnen Bier. Die dürfen aber nur Bier ausschenken, wenn sie eine umfangreiche Security stellen. Die aber kostet Geld. Der Bierausschank rechnet sich nur, wenn während des gesamten Myfestes alle neun Sekunden ein Bier über den mobilen Tresen geht.

Rettung, Rücktritt, Ränke schmieden – Was in der zweiten Hälfte von 2010 passierte

Ob es deshalb am 1.Mai recht ruhig bleibt? Nun ja – es regnet auch und der Niederschlag spült wie immer eine Menge Krawallbereitschaft weg.
Berlin ohne Bundesliga? Hertha macht‘s möglich nach dem Abstieg. Für ein paar Fans ist das wohl zuviel. Sie attackieren beim Umzug zum Karneval der Kulturen den Wagen von Tennis Borussia.
Das Tempelhofer Feld ist offen für alle. Aus dem einstigen Kiezflughafen wird die größte Spielwiese südlich von Kreuzberg.
Marga Behrends ist tot. Sie verbrachte ihre 102 durchaus aufregenden Lebensjahre alle im Kiez zwischen Tempelherren- und Fürbringerstraße. Außerdem war die Jugendfreundin von Marlene Dietrich die letzte überlebende Tänzerin vom Admiralspalast.
Es ist wie im Jahr 2006. Nach einem kühlen, feuchten Frühling wird es mit Beginn der Fußball-WM richtig warm, das lässt hoffen.
Auf dem Tempelhofer Feld hat offenbar ein Sportflieger noch nicht realisiert, dass hier kein Flughafen mehr ist. Er landet zwischen Skatern und Drachenfliegern. Notlandung, meint der Pilot.
Große Ehre: Der Preis »Europa nostra« geht an die Initiative für die Sanierung des Baerwaldbades.
Es wird immer heißer. Im Juli ist Kreuzberg an einem Tag sogar der heißeste Fleck der Republik. Die WM endet – und der Sommer ist faktisch zu Ende. Dafür kommt Wowi zum Kiezbesuch und kuckt sich den Kotti an. Für die Berliner Schüler beginnt die Sekundarschul-Ära – für die in der neuen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sekundarschule im Graefekiez beginnt sie zunächst gar nicht. Das Schulgebäude stellt sich zu Schulbeginn als nicht beziehbar heraus. Die Bezirksstadträtinnen Monika Herrmann und Jutta Kalepky streiten sich darüber, wer schuld ist.
Im September ist Marathon – ohne Sonne und ohne Haile. Da kommt unvermutet ein Lichtlein: Der konservative CDUler Kurt Wansner denkt darüber nach, gut ausgebildete junge Kreuzberger Türken zurück in die Heimat zu holen – wenn sie inzwischen einen gut bezahlten Job am Bosporus gefunden haben.
Eigentlich hätte jetzt im Oktober das letzte Stündlein für das Archiv der Jugendkulturen geschlagen. Doch die Rettung in letzter Minute heißt: Stiften gehen. Eine Stiftung rettet das Archiv. Keine Rettung dagegen gibt’s für die Auslage des Revolutionsladens M99 in der Manteuffelstraße in 36. Vermutlich sind es Neonazis, die das Feuer gelegt haben.
Das Gegenteil von Integration: Im fränkischen Hof fliegt ein junges Paar aus dem gebuchten Hotel. Begründung: Ihr Wohnort ist Kreuzberg.
Abschied von Miran Hauptmann. Der Mitbegründer der KuK stirbt im Alter von 57 Jahren.
Im November werden die Preisträger für die beste Friedensidee auf der Admiralsbrücke gekürt. Ob die Ideen funktionieren, wird sich wohl erst im Frühjahr zeigen, wenn es wieder warm und trocken ist.
Der Wahlkampf im Bezirk fängt früh an. Ein gutes Jahr vor den Kommunalwahlen verkündet SPD-Chef Jan Stöß, dass er der nächste Bezirksbürgermeister werden will.
Ihre eigene Eckkneipe in Kreuzberg war ihr letztes Lebensziel. Die hatte Berlins dickste Hure, Molly Luft, zwar 2004 noch eröffnen, aber nicht halten können. Im November stirbt sie in einem Pflegeheim in Köpenick im Alter von 66 Jahren.
Irgendwie hatten wir das alles schon: Diesmal kommt der große Schnee bereits Anfang Dezember. Wie lang soll dieser Winter denn werden? Winterliche Überraschung: Baustadträtin Jutta Kalepky tritt zurück, was Insider nicht wirklich überrascht.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2011.