Als Krankenschwester durch die Krise

Kendra Popa arbeitet auf der Intensivstation des Urban-Krankenhauses

Kendra Popa. Foto: privat

Dass die Menschen, die nun in ihren Wohnungen sitzen und auch nicht so recht wissen, was sie machen sollen, um sich erkenntlich zu zeigen, nun eben ein paar Mal auf ihren Balkonen geklatscht haben, sei ja auch irgendwo verständlich. Manche Teile des Pflegepersonals, so Kendra Popa, fänden es sogar schön, nun »endlich mehr« Aufmerksamkeit für die Anforderungen ihres Berufs in der Pflege zu bekommen. Einige Kolleginnen und Kollegen hatten in der Vergangenheit schon ein wenig Bedenken, zu wenig gesehen zu werden. Das war allerdings nie ein Thema für sie. Popa hingegen habe nun eher ein unbehagliches Gefühl, wenn es heißt, dass das Pflegepersonal – also nur das Pflegepersonal – mehr Geld bekommen solle. Was sei denn mit Technikern, den Menschen, die in der Kantine arbeiten, den Reinigungskräften, dem Servicepersonal, den Ärzten? Schließlich sei es für alle Angestellten im Krankenhaus gerade eine sehr anstrengende Situation.

Kendra Popa ist Krankenschwester in der Anästhesie des Urban-Krankenhauses. Und nun auch auf der ITS, der Intensivstation, seitdem Corona auch hier in Kreuzberg angekommen ist. Seit dem 9. März ändert sich ihr Alltag in regelmäßigen Abständen. Der 9. März war der Tag, an dem die Krankenhausleitung die Maßnahmen beschloss: mehr Vorsicht, viele Masken, ITS unterstützen. Während der ersten Woche sollte das Pflegepersonal in der Freizeit in der Stadt bleiben, Handy auf laut schalten, abrufbar sein. »Das war schon eine besondere Situation, die keiner von uns vorher je so kannte«, erklärt Popa. Diese ziehe sich durch das gesamte Personal: Auf einmal fragen die Kolleginnen lieber drei Mal nach, wie es einem geht. Eine ganz andere Dimension von Solidarität sei das jetzt.

Die Umstellung auf die ITS sei zum Anfang natürlich auch eine Herausforderung gewesen. Zum einen natürlich fachlich: In weiten Teilen unterschieden sich die neuen Aufgaben von denen in der Anästhesie. Herzinfarkte und Reanimation gebe es dort, in der Anästhesie, seltener. Gleichzeitig sei aber auch interessant, wie viel anästhetisches Wissen dann eben doch in der intensivmedizinischen Betreuung gebraucht wird. Zudem seien Therapieverläufe in der Anästhesie ja nicht so sichtbar wie auf der ITS – bemerkenswert.

Was ihr allerdings wirklich naheginge, sei der zurückgeschraubte intensive Patientenkontakt. Während Popa ihre sonstigen Patienten von vor der OP bis in den Aufwachraum begleite, sehe sie so manche, doch längst nicht alle ITS-Patienten nie in einem Wachzustand oder hat viele Patienten auf einmal.

Ist sie dann mal wieder in ihrem eigentlichen Fachbereich, der den Betrieb während der Krise auf Notoperationen heruntergefahren hat (von zehn werden nur noch vier OP-Säle genutzt), erfahre sie einen nicht wie sonst von Zeitdruck beherrschten Betrieb. Dass ein unvertretbarer Personalmangel herrscht, sei schon vorher klar gewesen. Jetzt, im Ausnahmezustand, wo die OPs auf die nö­tigs­ten begrenzt sind, zeige sich allerdings das große Ausmaß des Mangels im Normalzustand.

Wie es weitergeht, das wisse natürlich niemand. Im Gegensatz zu vielen Kolleginnen und Kollegen denke Popa aber nicht, dass der Peak schon erreicht ist und der große Ansturm ausbleiben wird. »Letztendlich sind wir aber auch ein Level-3-Krankenhaus«, die meisten Corona-Patienten würden vorerst nämlich erstmal in Level-1- und Level-2-Krankenhäusern untergebracht werden und das Urban vielleicht noch nicht an seine Kapazitätsgrenzen stoßen. Knappheit an Masken und Handschuhen hätten sie trotzdem nach bereits einer Woche gehabt. Hier erhofft sich Popa eine Verbesserung: Die Versorgungsketten sollten doch bitte so wenig wie möglich vom Ausland abhängig sein. Und: Weniger Klatschen, mehr Demonstrieren.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Mai 2020.

Der Eine

Eine Ausstandskolumne wird würdig geschrieben: Bowie!

David Bowie. Was für ein Name. David Bowie habe ich mir für diese Kolumne immer aufgehoben. Ich dachte, darauf greife ich zurück, wenn mir mal wirklich überhaupt nichts mehr einfällt. Und nun feiere ich Ausstand und das Ende dieser Kolumne, was nicht heißt, dass ich nicht noch ein paar musikalische Gastbeiträge aus meiner neuen Wahlheimat Spanien schicken werde. Zweieinhalb Jahre lang durfte ich die Kreuzberger Nächte aus der Nähe und Ferne betrachten, durfte mit Künstlerinnen reden, Konzerte besuchen, Plattenhändler kennenlernen. Und habe dabei noch kein einziges Mal Bowie erwähnt.

Zugegebenermaßen hat sich dieser ja auch viel in Schöneberg bewegt. Die Umbenennung der dortigen Hauptstraße, in der sich die Wohnung von ihm und seinem damaligen Mitbewohner Iggy Pop befand, steht wohl noch aus. Nach Kreuzberg hat es den Popstar allerdings doch so einige Male verschlagen, als er sich in den hier ansässigen Bars und Clubs umhertrieb.

Obwohl Bowie ja summa summarum nur drei Jahre in Berlin lebte, ziehen diese Jahre in alle Biografien als extrem wichtige Phase seines Werkes ein. Entzug von harten Drogen, eine Filmhauptrolle, wichtige Bekanntschaften, die sein Leben verändern sollten. Und auch Berlin ist mächtig stolz auf seinen Adoptivsohn: Immer wieder taucht der Name »Bowie« in allen Ecken der Stadt auf, es gibt Filme über die Berlin-Trilogie, ja sogar geführte Bowie-Touren werden angeboten.
Alles nur clevere Inszenesetzung? Auch. Und trotzdem veröffentlichte Bowie mit den drei Alben Low (1977), Lodger (1979), doch vor allen Dingen Heroes (1977) drei seiner wichtigsten Meisterwerke. Wussten Sie, dass Bowie neben naheliegenden Mauereindrücken im Song »Heroes« auch die Eindrücke des 20er-Jahre-Expressionismus verarbeitete?

Aufgenommen wurde das Ganze jedenfalls in – Sie ahnen es: Kreuzberg. Die Hansa-Studios sind mindestens so berühmtberüchtigt, wie Bowie selbst. Und entgegen einiger abtrünniger Meinungen eben nicht im Hansa-Viertel, sondern am Anhalter Bahnhof lokalisiert.

Nur wer vergessen wird, ist wirklich tot. Bowie – unsterblich.

Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2020.

Türkische Nächte

Typisch Kreuzberg, konnten wir natürlich für den Türkischen Beitrag nicht nur bei einer Person bleiben. Da holen wir uns doch schon mehrere Meinungen ein. Zum einen sind das Cansel Kı­zıl­te­pe (SPD), MdB, zum anderen Erbatur Çavuşoğlu, der Inhaber des Plattenladens Lefter Records in der Gneisenaustraße.

Kreuzberg geceleri uzun

Die Bundestagsabgeordnete Cansel Kı­zıl­te­pe (SPD): Es ist schön, den Satz »Kreuzberger Nächte sind lang« im Türkischen zu lesen, denn die türkische Sprache gehört für mich ganz fest zu Kreuzberg. Ich bin in Kreuzberg aufgewachsen und muss an meine Kindheit und Jugend im Wrangelkiez denken. Die Nächte sind noch immer lang in Kreuzberg, aber es hat sich auch vieles verändert. Viele Bekannte, Freundinnen und Freunde mussten ihren Kiez verlassen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten konnten, oder sind akut von Verdrängung bedroht. Damit Kreuzberg ein Ort für alle bleibt, müssen wir unbedingt etwas tun!

Kreuzberg geceleri yoldaşim oldu

Erbatur Çavuşoğlu erinnert der Originaltitel der Gebrüder Blattschuss an den alten, türkischen Song Geceler, in dem es so viel heißt wie »Nächte sind meine Kameraden« (anzuhören hier). So würde er die langen Kreuzberger Nächte eben zu seinen Kameraden machen: »Kreuzberg geceleri yoldaşim oldu«. Interessanter Nebenfakt: Geceler wurde vom der ersten türkischen Trans-Künstler Bülent Ersoy gesungen, eine Subkultur, die wohl unteilbar zu Kreuzberg gehört. Oh, diese Nächte!

Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2020.

Wenn Gaia noch schläft

Ninell Oldenburg hat beim Rebschnitt am Fuße des Kreuzbergs geholfen

Rebschnitt am Fuße des KreuzbergsRebschnitt in der Kälte mit Peter (Mitte links) und Timo (Mitte rechts). Foto: no

Es ist Sonntag. Es ist kalt. Es ist nass. Berlin liegt im Bett.

Ich stehe auf, ziehe mir fünf Paar Socken und sechs Schichten obenrum an und fahre zum Kreuzberg. Ich bin verabredet: zum Rebschnitt.

So vielfältig Kreuzberg auch ist, eine der wenigen Sachen, die man neben Sonne im Januar garantiert nicht mit dem Stadtteil verbindet, ist Wein. Und nun stehe ich da wie ein Michelin-Männchen und habe eine Gartenschere, nein, Rebschere in der Hand.

Ich treffe Timo und Peter auf dem Wingert am Kreuzberg. In der vorherigen Einladung zum gemeinsamen Beschneiden der Schwestern und Brüder Rebe wurde freundlich darauf hingewiesen, bitte auf metallische Elemente an den Gartengeräten zu verzichten. Und die Handys, die sollten wir lieber am Eingang lassen. Wir wollen ja die Schwingungen spüren.

Ich weise Timo darauf hin, dass die tolle Reb­schere, die meine Schwester mir hat zukommen lassen, doch irgendwie aus Metall ist. Mir fällt in genau diesem Moment auf, dass Plastik- oder Holzscheren vielleicht gar nicht taugen würden. Timo grinst. Das würden die Reben vielleicht doch noch gerade so verkraften.

Seit den späten 60ern gibt es den »Weinberg«. Timo ist seit gut sieben Jahren, Peter seit drei Jahren dabei. Die Reben stehen bei der Hofgrün GmbH in der Methfesselstraße, und zwar auf einem historisch ziemlich wertvollen Platz. In dem Haus, das dort stand, bevor es zerbombt wurde, setzte Konrad Zuse seinerzeit den ersten laufenden programmierbaren Computer, den Z3, zusammen.

Doch zur Sache. Die Rebscheren sind am Platz, scharf und bereit zum Einsatz. »Dann gehen wir mal runter und fragen die Reben, wie sie es denn gerne haben wollen«, grinst Peter. Mit mir zusammen helfen noch zwei weitere Menschen. Einer von ihnen ist Victor, der Azubi in der Weinhandlung »Wein & Vinos« in der Mittenwalder Straße. Der soll jetzt auch mal lernen, was eigentlich vor dem Verkauf so passiert.

Und wir lernen: zwei Triebe lässt man stehen. Einen links, einen rechts. Die Verzweigung zu dem Trieb soll möglichst nah am Kopf sein. Also nah an dem Teil, wo die Triebe vom Stamm abtreiben. Die Augen, das sind die dicken Knubbel, die in regelmäßigen Abständen am Zweig sind, lassen wir mit ein bisschen Abstand stehen. Da treiben dann »im Frühjahr, wenn Gaia erwacht« die neuen Triebe aus und die Reben können »den Strom des Lebens in ihre Zweige lenken«. Vertrocknete Spitzen werden abgeschnitten, das versteht sich von selbst.

Nach zwei Stunden meditierender Arbeit im Wingert sagt das erste Mal wieder jemand etwas. Es ist Timo. »Pause! Kosten!« Der Spätburgunder aus den Jahren 15/16: Kalt und lecker. Natürlich gehöre das Weintrinken auch dazu. So passiere es ja überhaupt erstmal, dass man dazu kommt: »Drogen konsumieren, Drogen verkaufen, Drogen anbauen.« Erwerben kann man dann eine der 700-800 halben Flaschen Weiß- und 200 halben Flaschen Rotwein bei der Abteilung für Wirtschaftsförderung beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg.

Als es dunkel wird, stellen wir die Arbeit ein. Ich bin mittlerweile erkältet und zu Eis erstarrt. Und trotzdem habe ich mich lange nicht mehr so gesund gefühlt. Irgendwie gereinigt, geordnet und durchmeditiert. Gaia hat vielleicht doch ihre Spuren hinterlassen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2020.

Da kann ja jeder kommen

Wie ich mich doch noch mit einem Plattenhändler anfreunde

Auf die Frage, ob ich denn mal ein Interview führen dürfe, reagierten in meiner noch jungen Journalistenkarriere so ziemlich alle Menschen gleich: ja, sehr gern, man wisse zwar nicht, was ich wolle, aber an sich, na klar.

Detlef Dieter Müller reagiert nicht so. Er verschränkt die Arme. Fragt, was das für ein Magazin sei. Mit irgendwelchen Kommerz-Heinis wolle er nicht reden. Sein Laden sei schon bekannt genug, die ganzen Gentrifizierer rennen ihm die Bude ein. Die Fragen seien eh immer die gleichen. Und ihr aus 61? Waschlappen! Wer habe denn Kreuzberg damals verteidigt? Toll, denke ich mir. Da habe ich mir ja was eingebrockt.

Ich bleibe. Oder besser: ich verharre. Wir kommen irgendwie ins Gespräch. Keine Kommerzkacke, ich interessiere mich wirklich für Musik. Und als ich sage, dass Tocotronic meine Lieblingsband ist, kann ich sogar sowas wie ein kleines Lächeln erahnen. Oder zumindest so ein verräterisches Zucken.

Ich glaube, Detlef hat einen weichen Kern. Dass ich ihn nun genau an dem Tag erwische, an dem er die frischen Erinnerungen ans Wochenende verarbeiten muss, an dem er drei Verabschiedungen von Läden aus seinem Kiez feiern musste, ist mein Pech. Der Kiez gehe kaputt und alle ließen es zu. Niemand würde sich mehr so richtig für die Geschichte des Kiezes interessieren. Langsam verstehe ich seinen Punkt.

Detlef hat 1985 seinen Laden Groove Records in der Pücklerstraße eröffnet. Ziemlich direkt neben der Markthalle Neun verkauft er Platten durch die komplette Bandbreite der Musikvarietät. Nur die Top 100 der Charts, die wolle er nicht bestellen.

Heute heißt der Beruf, den er damals gelernt hat, Musikfachhändler. Ob die Musik von damals noch jemand aus der heutigen Generation aufholen könnte? Er glaube nicht. Was es heute noch an guter Musik gäbe? Na pass uff, ick spiel dir mal wat vor. Ich freue mich. Ich fühle mich aufgenommen. Weicher Kern: ja. Und zwar ein sehr musikalischer.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2020.

Kein Liebeslied

Hobo Johnson & the LoveMakers machen: Liebe

»Hi, wie ist dein Name? Wie geht‘s dir? Wie ist dein Leben? Oh, du hast einen Freund? Bist du verliebt? Wenn ja, auf welche Art?«

So lautet oder so jedenfalls die deutsche Übersetzung des Songs über Peach Scones. Oder, na ja, so zumindest ist der Name des Songs. In Wirklichkeit handelt er vom Verliebtsein. Vielleicht auch vom ersten Mal, verliebt zu sein. Und besonders davon, zum ersten Mal unglücklich verliebt zu sein. Vom Gefühl, dass die Liebe nicht oder nicht so richtig erwidert wird. Davon, dass die Angebete eben schon einen Freund hat. Und von der Frage, ob man wirklich mit ihr zusammen sein will oder eher nur einfach nicht allein sein möchte.

Hier höre ich mit der Zusammenfassung auf. Denn das gelingt eh nicht: Der Songtext ist mindestens doppelt so lang wie der hier vorliegende Text. Und konnte von jeder einzelnen Person im Kreuzberger Privatclub damals im Dezember mitgesungen werden. So gut sogar, dass der Frontmann die Menge manchmal schon stoppen musste.

Weiter heißt es in dem Song: Manche sagen, Hobo Johnson wäre ein Rapper. Aber das ist er nicht. Er produziert sich allein. Und darauf sei er, verdammt nochmal, sehr stolz.

Ich persönlich würde es als gesungene Poesie bezeichnen. Wikipedia sagt: Emo-Rap, HipHop, Spoken Word. Mit Musik nennt sich das Ganze dann Hobo Johnson & the LoveMakers.

Der Name ist Programm. Die Texte handeln so gut wie alle von der Liebe. Zum Leben, zu Menschen oder zum NBA-Verein »Sacramento Kings«.
Dort, in Sacramento, lebte »The Homeless Johnson« eine Weile in seinem Auto. Aus Homeless wurde dann bald Hobo. Aus Auto wurde dann irgendwann Musik machen.
»Ich hatte Tränen in den Augen. Einfach so«, sagt mein nah am Wasser gebauter Freund, als er mir die Empfehlung gibt.

Vielleicht doch nicht einfach so. Irgendwie war ja doch mal jeder zum ersten Mal verliebt. Nur vergessen wir das manchmal. Hobo Johnson vergisst es nicht. Und schafft es, dieses Gefühl erst durch seine Lyrik wieder in Erinnerung zu rufen und dann durch seine expressive Stimme zusammen mit dem eindrucksvollen Gesang wachzukitzeln. Oh, ihr Emotionen!

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2020.

Schon wieder Kult?

2020 feiern die Einstürzenden Neubauten 30-Jähriges

Ich lese einen Wikipedia-Artikel. Dort heißt es: »Die Besetzung fluktuierte anfangs und konsolidierte sich 1981 personell um Bargeld, […]«. Ha, denke ich mir, wenn man den Satz jetzt einfach jemandem zu lesen geben würde, da wüsste die Person wohl auch nicht recht, was damit anzufangen wäre.

Auflösung: es gibt einen Menschen, der heißt Blixa Bargeld. Blixa Bargeld hat Bandkollegen und -innen: NU Unruh, Gudrun Gut, Beate Bartel. Nach viel Hin und Her, Für und Wider, und einer gro­ßen Durchmischung kamen FM Einheit, Mark Chung und Alexander Hacke dazu. Und um dieses Namedropping zu beenden und zum Inhalt zu kommen: Heutzutage spielen noch Jochen Arbeit, Rudolf Moser und Felix Gebhard bei den Einstürzenden Neubauten mit.

Blixa Bargeld jedenfalls, die wohl am meisten treibende Kraft der Band, gründete eben diese nach einem Auftritt mit Freunden. Dieser Blixa Bargeld war es auch, der Gerüchten zufolge in den 80ern in der Mittenwalder Straße eine Bar namens »Blechbüchse« betrieb, quasi um die Ecke der heutigen Redaktionsräume der Kiez und Kneipe. Falsch hingegen sind Gerüchte, eine gute Freundin der KuK habe dort Bier gezapft: »Und gezapft hat man damals sowieso nicht, sondern nur Flaschenbier getrunken. Zum Zapfen gab es damals in der Mauerstadt nämlich nur Schulle und Kindl und das war Würg!«, stellt sie richtig.

Einen Musikstil, oder was man so Musikstil nennt, hat die Band nicht. Die zuständigen Schubladen wären hier wohl Post-Punk, Krautrock, Hamburger Schule. Doch lässt sich ihr Schaffen wohl eher durch »Höre ich da gerade ein Didgeridoo aus Abwasserrohren?« beschreiben.

Die Einstürzenden Neubauten bewegen sich zwischen Kult und Kultur. Blixa Bargeld ist ein Phänomen – und dabei lebt er noch. Und auch wenn die Bewerbung der neuen Platte auf der Website wohl vor Eigenlob trieft, schafft es die Band, soweit ich das beurteilen kann, seit fast 30 Jahren, sympathisch zu bleiben. Sie sind dann eben doch das Original, das alles irgendwie so macht, dass es schon passt. Sind wir gespannt, welche klangvollen Namen das in Zukunft noch einschließen wird.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2019.

Die Suche nach Freiheit

An welchen Song denken Sie beim Stichwort Mauerfall?

Freiheitslieder gibt es ja so einige. Kaum eine Sängerin, kaum eine Band, kein Liedermacher hat kein Lied, in dem sie über den Drang, den Wunsch oder die Schönheit der eigenen Entscheidungsmacht singen.

Neben meinem geliebten »I want to break free« von Queen und dem hinreißenden »Free as a bird« von den Beatles ist beim Thema 30 Jahre Mauerfall natürlich ein ikonischer Name an erster Stelle zu nennen. Um ihn ranken sich Mythen, manche sagen, er sei der Grund für den Mauerfall: David Hasselhoff, der Mann, der betrunken Burger isst.

Hinter dem Song steckt allerdings eine viel interessantere Geschichte als ein einfaches, melodramatisches Freiheitslied. Erstmals nämlich erschienen ist das Meis­terwerk bereits 1978, interpretiert von Marc Seaberg, einem Mann, der im zarten Alter von 6 Jahren das erste Mal auf einer Bühne in seiner Heimatstadt Erlangen stand. Produziert hat das Ganze ein gewisser Mann namens Jack White.

Jack White?, mag man sich da fragen. Wissentlich, dass der White-Stripes-Seven-Nation-Army-Jack-White da gerade einmal drei Jahre alt war und wahrscheinlich noch nicht einmal eine Gitarre halten konnte. Der Jack White, geborener Horst Nußbaum, hingegen war anfangs ein Fußballspieler. Beim SC Viktoria Köln entdeckt wechselte er später zur niederländischen Liga und holte dort sogar einen Vizemeistertitel, bevor er »Looking for Freedom« dann 1978 als Musikproduzent eben mal auf Platz 14 der deutschen Charts katapultierte.

Und genau dieser Jack White produzierte 1989 den Song und das gleichnamige Album, das den damals vielleicht noch nüchternen David Hasselhoff auch als Sänger so berühmt machte. Und auch wenn er wohl maßgeblich am Fall der Mauer beteiligt war, frage ich mich, ob er nicht lieber bei seinem Knight Rider hätte bleiben sollen.

Fragen über Fragen, doch am Ende bleibt nur noch die spannendste zu klären: Zufall oder Schicksal? Hat sich John Anthony Gillis, der Gitarrist und Sänger der White Stripes, nach dem Produzenten von »Looking for Freedom« benannt? Und wenn ja: Warum?

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.

Mein Osten

Ninell ist in Frankfurt (Oder) aufgewachsen

Dass der Osten den objektiv gesehen Kürzeren gezogen hatte, war mir sehr lange nicht klar. Ich fand immer, aus dem Osten zu sein, hatte sowas Lässiges. Ich war immer schon stolz auf die FKK-Kultur, ich mag den Brandenburger Dialekt und diese unprätentiöse Art. Die Eltern meiner beiden besten Freunde kamen aus dem Westen. Somit kannte ich die Vorurteile gegenüber Wessis. Sie waren CDU-Wähler, verbeamtet und privatversichert. Sie kannten das Wort »Broiler« nicht und sprachen »vierzehn« komisch aus. Eher so »vier« und »zehn«. Generell war es immer ein Thema, wer Wessi war und wer nicht. Als Kind dachte ich, es gäbe weniger Wessis als Ossis auf der Welt, heute habe ich oft das Gefühl, eine Exotin zu sein.

Ich wuchs in Frankfurt (Oder) auf, konnte nach Polen laufen. Wenn wir ins Skilager nach Österreich fuhren, sangen wir »Von den blauen Bergen kommen wir« mit unserem eigenen Text: »Ja, aus Frankfurt (Oder) kommen wir / trinken Schnaps und literweise Bier / rauchen Polen-Zigaretten / schlafen nachts in fremden Betten« und so weiter. Einer meiner ebenfalls aus Frankfurt stammenden Mitbewohner hat auf dem Rücken einen halb-abgerissenen Plattenbau und unsere Postleitzahl tätowiert. Viele meiner Freunde stammen aus der Schulzeit, sogar aus der Grundschule. Wir reden manchmal darüber, dass alle Frankfurter in unserem Alter den gleichen Humor hätten. Treffe ich in Berlin Leute aus der Stadt, finde ich sie meistens sympathisch. Kurz: Frankfurt is a nice town, to be (from).

Zum Urlaub fuhren wir im Sommer an die Ostsee, im Winter ins Fichtelgebirge. Bis heute kann ich die westdeutschen Städte, in denen ich war, an einer Hand abzählen.

Die meisten meiner ostdeutschen Freunde identifizieren sich auch als solche. Wir sehen uns als direkt, lebenslustig und offen. Dinge werden geteilt, das ist selbstverständlich.

Das erste Mal mit einem negativen Klischee gegenüber dem Osten wurde ich mit 13 konfrontiert, als ich meine Lüneburger Brieffreundin traf. In ihrer Klasse gab es einen Ossi, Nick, von der anderen Seite der Elbe. Ossis galten als Nazis. Nick war ein Nazi.

Nazis hatten wir in Frankfurt auch. Die habe ich zwar nie gesehen, aber immer gegen sie demonstriert, alle meine Freunde waren links. Mein Opa war in der PDS.

Als ich in der 9. Klasse war, sollte meine Schule, das Karl-Liebknecht-Gymnasium, in etwas nicht so Politisches umbenannt werden. Am Ende scheiterte es an ein paar Linken im Stadtrat. Ich dachte lange, der Osten sei so etwas wie die linke Hochburg Deutschlands.

Mich macht es traurig, dass sich das Gerücht hält, die Wiedervereinigung sei geglückt. Ich habe Freunde aus und in allen Teilen des Landes, ich habe nicht das Gefühl, dass sie grundlegend anders sind: direkte, lebenslustige, offene Menschen, die alles teilen, gibt es überall, darum geht es mir nicht. Nur kommt es mir oft so vor, als würde die erstarkende Rechte eher als genetischer Defekt denn als strukturelles Problem gesehen werden. Und damit wird sowohl das Ost-West- als auch das AfD-Ding eher verhärtet als gelöst.

Könnte ich mir eines für die nächsten dreißig Jahre Mauerfall wünschen, dann wäre es mehr Verständnis untereinander. Nächstenliebe brauchen Ost und West zugleich, den Versuch, sich in die andere Seite hineinzuversetzen, um zu erkennen, dass Vorurteile eben nur Vorurteile sind, dass gute Menschen überall sind und Wende-Verlierer nicht nur Nazis sind. Und, na ja, auch ein bisschen den guten Willen, zu verstehen, was »dreiviertel zwei« auf der Uhr bedeutet.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.

Lieblingslokal

Das Clash und die Kiez und Kneipe sind gleich alt

Clash bedeutet Zusammenprall. Das ist mir letztendlich und erstmalig bei der Recherche für diesen Artikel aufgefallen. Ich finde, das ergibt auch ziemlich viel Sinn, wenn man an eine Punkrockband aus England denkt. Die ja an sich gar nicht viel mit Kreuzberg zu tun hätte. Gäbe es nicht dieses tolle Lokal, das zu beschreiben schon mehr als ein paar Worte bedarf.

Über das Clash wollte ich schon lange mal schreiben. Es war die erste Kneipe, die ich in Kreuzberg kannte. Ja sogar die erste Kneipe, in der ich jemals war in Kreuzberg. Die Kneipe, für die ich damals aus Charlottenburg kam, in der ich Billard gelernt, zum ersten Mal Mampe getrunken und mir nicht nur einmal, aufgrund viel zu lauter Musik, die Kehle aus dem Leib gebrüllt habe. Zum Ersti-Pubcrawl der TU, mit Besuch aus fernen Ländern (»This is so Berlin!«) und zum Feierabendbier – das Clash bedient ein sehr diverses Publikum. Und auch wenn sie es sich leisten könnten: der Preis fürs Hausbier bleibt seit Jahren auf seinen stabilen 2,50 €. Nun gibt es aber noch viel mehr als nur Barabende. Das hier wäre ja auch keine Musikkolumne, wenn ich nicht wenigstens anreißen würde, dass im Clash auch wunderbare kleine, gemütliche, ja fast schon wohnzimmerähnliche Punkkonzerte stattfinden. Die Auswahl im Oktober beinhaltet Bands mit klangvollen Namen wie Scheisskind, Spermbirds oder Gulag Beach.

Meine neueste Entdeckung ist hingegen die Mittagskarte. Einmal mit, einmal ohne Fleisch gibt es für ‘n Fünfer feinstes Mittagessen aus der Clash-Küche.
Warum ich aber genau jetzt dazu komme, über dieses mein geliebtes Clash zu schreiben, ist wohl eher der aktuelle Anlass unserer 15-jährigen Sonder- und Spendenaufruf-Ausgabe. Das Clash gibt es nämlich eben genau so lange. Und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Viel Stoff also, um in Zukunft drüber zu berichten.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2019.

Humppa aus Berlin

Was Friedrichshain und Kreuzberg verbindet

Denke ich an Kreuzberg, so denke ich nicht an die Wallerts. Jedenfalls nicht gleich. Denn die sind eingeborene Friedrichshainer. Und trotzdem verirren sich die fünf Humppamänner, namentlich Dawa, Stefan, Laui, Willie und Peter Wallert, doch das ein oder andere Mal in den »richtigeren« der beiden Teile. Aber was genau sind jetzt eigentlich Humppamänner?

Humppa ist erst einmal eine Musikrichtung. Diese finnische Art von Polka hat mir beim erstmaligen Live-Erlebnis im zarten Alter von 14 Jahren, das ich übrigens der hier lobgepriesenen Band zu verdanken habe, fast die Füße weggetanzt. Im eingängigen Humppa-Offbeat reiht sich Hit an Hit an Hit. Die Melodien sind bekannt, die werden nämlich gecovert.

Und so hat sich die Band seit 2004 zur selbsternannten Berliner Humppa-Institution gearbeitet. Oder eher gebegeistert. Viele ihrer frühen Konzerte haben sie in Kreuzberg ge­spielt. Dabei immer ganz vorne mit dabei und als wäre er das erste Bandmitglied: Spaß. Er zieht sich durch die Texte, die Stimmung, die Musikvideos, ja selbst die Website ist ausnahmsweise mal nicht ermüdend zu durchforsten.

Und wie es sich für Bands so gehört, bringen die Fünf Ende September mal wieder ein Album heraus, »UHU« ist ihr sechstes an der Zahl. Ganz nach alter Humppa-Tradition wird dieses Spektakel mit einer Record-Release-Party am 28. im schönen Festsaal Kreuzberg gefeiert.

Wer dafür nicht mehr rechtzeitig an Karten kommt, muss nicht verzagen. Die sehr regelmäßigen Weihnachtskonzerte finden noch näher dran in der Wallerts-Lieblingslocation SO36 statt. Und sonst rate ich dazu, einfach mal die Augen im Kreuzberger Musikgeschäft des Vertrauens offen zu halten. Das eine oder andere Instrument soll wohl schon hier erworben worden sein.

Denke ich an die Wallerts, so denke ich an Akkordeon, Klampfe und Glückseeligkeit. Und ein bisschen an Friedrichshain-Kreuzberg.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2019.

Mal rauchig, mal melancholisch

Viele Liebeslieder über Kreuzberg

Sommerloch. Und weit und breit keine OpenAir-Bühne in Kreuzberg. Höchste Zeit, den Bezirk mal songgeschichtlich ein wenig aufzuarbeiten.
Den Anfang macht Klaus Hoffmann, der mit seinem »Kreuzberger Walzer« eine einigermaßen romantische Nacht zwischen lyrischem Ich und Dir einigermaßen unverständlich mit einer gepresst rauchigen Stimme besingt.

Dagegen überzeugt das süße »Kreuzberg, meine Liebe« durch seine Ehrlichkeit. »Nicht mal wenn ich wollte, ich könnt’ nicht ohne dich«, singen Rakete Erna über ihren Bezirk. Dass du hier sein, rumlaufen und machen kannst, was du willst. Das nenne ich doch mal eine wahre Liebeserklärung.

Die nächste Erklärung kommt vom eigentlich Zehlendorfer Rapper Prinz Pi. Er singt über die »Königin von Kreuzberg«, die sich die Lunge teert, die Fingernägel mit Edding lackiert und »fast keine Drogen nimmt«, wenn sie mit ihren Eltern essen geht. Und besonders nicht so ist, wie die anderen Mädchen, die alle so individuell sind, dass sie wieder alle gleich seien.

Der Ich-kann-alles-Mann Materia stellt sich vor, wie es wäre, wenn Kreuzberg am Meer liegt: Alle machen Musik. Niemand arbeitet. »Wenn du wirklich arbeiten musst, dann zieh nach Moabit.« Hier ist jeder Geldwäschemillionär.

Eines der bekanntesten Kreuzberg-Lieder löst durch seine melancholischen Klänge sogar Heimweh aus, wenn ich da bin. Bloc Party singen über die Zerrissenheit, die einen in jungen Jahren immer mal wieder begleitet, sehen sich im Schlafzimmer des Fremden, in der U-Bahn Richtung East Side Gallery und weinend am Hauptbahnhof. Das mit der Geografie üben wir noch mal.

Das einzig wahre Lied über Kreuzberg, wie könnte es anders sein, kommt von den Gebrüdern Blattschuss. Vielfach gecovert und in lateinischer Version sogar auf dem Titelblatt Eurer liebsten Kreuzberger Lokalzeitung. Ob Winter oder Sommerloch: ein Hoch auf die »Kreuzberger Nächte«!

Erschienen in der gedruckten KuK vom August 2019.

Umsonst & draußen

Sommeranfang reimt sich auf Musikvielfalt

Und jetzt alle: Wir! Lieben! Die! Fête!

»Wie? Und dann spielen die da kostenlos auf den Straßen?«

Eltern sind oft ein guter Realitätscheck, wenn man die Bonbons der Gegebenheiten, die zauberhaften Selbstverständichkeiten, die Ja-ja-das-ist-immer-so’s der Berliner Musikszene mal wieder unterschätzt hat. In meiner Heimatstadt gibt es nämlich keine Fête de la Musique. Dort bleibt das Weihnachten der Klampfenkunst einfach aus. Zeit, eine kleine Hommage zu schreiben.

Für meinen liebsten Tag im Jahr habe ich wie immer wenig geplant. Und das ist ja auch das Schöne. Wir feiern den Sommeranfang, umsonst und draußen. Lassen uns treiben, halten an, es gibt Pizza und Bier.

Der französische Kultusminister Jack Lang hat im Jahr 1981 die erste Fête ins Leben gerufen. Im darauffolgenden Jahr fand sie zuallererst in Paris, von da an aber in weiten Teilen des Landes statt. Der Minister hatte dabei die Idee, die lokale Musikszene anzuheizen. So sollten nicht nur die großen, sowieso schon bekannten Bands spielen. Sondern eben auch und besonders die, die man sonst immer nur in vermoderten Probenräumen hören kann.

Was dabei besonders gefördert wird, ist die Vielfalt der Musik. Während Pop in der breiten Masse bekanntlich immer ganz gut ankommt, hat an diesem bunten Tag Jazz Platz neben Folklore. Kreuzberg selbst, das ja von vorn bis hinten wie dafür gemacht ist, nimmt seit 1995 an dem Spektakel teil.

So treibt mich mein Rundgang von Chormusik vor der Passionskirche über Gitarrengezupfe mit kratzigem Gesang beim Matzbach zu improvisiertem Allerlei in den Sarotti-Höfen.

Nach den Gerüchten von letztem Jahr, dass die Fête vielleicht ausbleiben soll, da sich das kommerziell nicht rentiert, bin ich ziemlich froh, dass der Sommer jetzt doch wieder klangvoll begonnen wurde. Und plädiere trotzdem dafür, dass die Fête eine »de la musique« bleibt, nicht eine »de la bière« und »de la bouffe«.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juli 2019.

Stoff für Schallplatten-Junkies

Bei »Lefter Records« in der Gneisenau gibt’s Vinyl aus aller Welt

Als ich den Laden an der Gneisenaustraße 114 betrete, läuft gute, laute Soulmusik. Inhaber Erbatur Çavuşoğlu begrüßt mich freundlich, er stellt die Musik leiser und führt mich herum.

Obwohl sich das Geschäft halb im Keller befindet, ist es schön hell und gar nicht so muffig, staubig und zugemüllt wie viele der Plattenläden, die ich so kenne. In der Mitte des vorderen Raumes liegen Bücher: »1.000 Plattencover«, »Lefter Küçükandonyadis«, »Weltmusik«. In jedem Raum steht ein Plattenspieler. Die Leute sollen sich hier wohlfühlen, Zeit und Raum haben, um Musik zu hören, zu genießen oder zu analysieren, so wie er es gern macht. Eine alte Berufskrankheit sei das, so der ehemalige Professor für Stadtplanung.

Von diesem Beruf sind heute nur noch die Karten an der Wand eines Raumes übrig. Als er nach Deutschland kam, hatte er keine Lust mehr auf akademische Forschung. Als sich vor drei Jahren der Militärputsch in der Türkei ereignete, musste er das Land verlassen. Und da seine Frau aus Deutschland kommt und in Berlin viel Musik passiert, können wir uns hier in Kreuzberg nun über diese Bereicherung freuen.

Die insgesamt 10.000 Platten aus aller Herren Länder sammelt Çavuşoğlu seit seinem 15. Lebensjahr. Sein Bruder, der ihm damals die ersten Platten geschenkt hat, war der Anstoß. Und heute? »It’s an addiction.« – eine Sucht sei daraus geworden. Menschen seien nun mal gemacht für Süchte und Platten seien eben seine.
Alle Arten türkischer Musik sind dabei seine Spezialität und auch das Herzstück seines Ladens. Der Rest der Plattensammlung unterteilt sich in mehr oder weniger bekannte deutsche und englische Klassiker und Newcomer und eine Abteilung mit sehr viel unterschiedlicher Weltmusik. Dabei sind von Ghana bis Finnland, von China bis Uruguay so allerhand Länder vertreten. Gefunden und gerettet von den Floh­märkten dieser Welt.

Lefter Küçükandonyadis, nach dem sein Sohn und nun auch sein bald ein Jahr existierender Plattenladen benannt sind, ist übrigens ein griechischstämmiger türkischer Fußballspieler. Für Çavuşoğlu ist er aber zusätzlich noch ein Freiheitskämpfer, ein Mann der Hoffnung, ein großes Vorbild. Über die Wahlverwandtschaft des Namens zur politischen Haltung sei er aber auch nicht traurig, und ich bemerke erst jetzt das »Rock’n’Roll«-Tattoo auf seinem Unterarm.

lefterrecords.wordpress.com

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2019.