Ein bitterböser Abgesang auf das schöne Spiel

Peter S. Kaspar hat Dominik Bardows Fußballroman »Trainingslager« gelesen

Die deutschsprachige Literatur kennt das Genre »Fußballroman« eher nicht. Wer danach im Internet sucht, bekommt fast ausschließlich eine Palette von Jugendromanen geboten. In der Belletristik hat bestenfalls »Fever Pitch« des Engländers Nick Hornby dem Fußball zu einem gewissen literarischen Erfolg verholfen. Das weiß auch Dominik Bardow, ehemaliger Sportredakteur des Tagesspiegels und bekennender Eintracht-Frankfurt-Fan. Dass er mit dem Roman »Trainingslager« das Thema Fußball bedient, ist daher einigermaßen mutig, aber vielleicht auch Ausdruck einer gewissen Verzweiflung. Mit seiner bitterbösen Satire gibt er all jenen Raum, die den allmählichen Untergang des »Jogo Bonito« betrauern.

Cover »Trainingslager« von Dominik BardowBardows Fußballroman »Trainingslager« ist ein bitterböser Abgesang auf das schöne Spiel.

So nennen Brasilianer den Fußball nämlich: das »schöne Spiel«. Und ein Brasilianer ist es auch, um den sich dieser Fußballkrimi letztlich dreht. Doch jener Jimmi ist kein Garrincha, kein Pelé und kein Ronaldo (nein nicht Cristiano Ronaldo!!). Er taugt bestenfalls noch als schlechtes Abziehbild eines großen Fußballers und wird dadurch zum Sinnbild für den Untergang des schönen Spiels.

Und darum geht es: Der desolate »HauptStadtClub« hat in den österreichischen Alpen sein Trainingslager aufgeschlagen. Dort wird der heruntergekommene und meist betrunkene Sportreporter Holle Schneise Zeuge einer Entführung. Eben jener Jimmi, wichtigster Spieler des Clubs, wird offenbar verschleppt. Holle macht sich mit Jimmis Verlobter Amira Brösel auf die Suche nach dem Verschwundenen. Die beiden Jäger nach dem verlorenen Fußballer geraten dabei in ein wahnwitziges Netz von Lügen und Intrigen, in dem schnell alles Sportliche und alles Menschliche auf der Strecke bleibt, weil nur noch der Kommerz regiert.

Mit viel Wortwitz und Sarkasmus jagt Bardow seine beiden Hauptprotagonisten von einer irrsinnigen Situation in die nächste. Das ist oft amüsant bis komisch, doch bisweilen bleibt einem das Lachen dann doch im Halse stecken. So überdreht die Handlung manchmal daherkommt, so sehr schimmert auch immer wieder durch, was den Fußball kaputt macht. Vieles wird dem Kenner der Materie bekannt vorkommen. Doch Situationen und handelnde Personen sind meist aus verschiedenen Versatzstücken zusammengefügt, so dass das Buch eher ein Kaleidoskop ist als ein Schlüsselroman, auch wenn es sehr verlockend ist, Bezüge zur realen Welt herzustellen.

Der Roman ist nicht nur ein Abgesang auf den Fußball, wie er einmal war, sondern auch auf die Medien, ohne die der Profifußball gar nicht denkbar ist. Hier sprengt das Buch auch den Rahmen des Fußballromans und wird zur Gesellschaftskritik. Beklemmend zeigt es den Bedeutungsverlust der klassischen Medien, die mehr und mehr von digitalen und sozialen Medien ersetzt werden und ihre Deutungshoheit verlieren oder gar freiwillig für ein paar Klicks aufgeben.

So ist »Trainingslager« nicht nur ein Buch für eingefleischte Fans des runden Leders. Auch überzeugte Vertreter der fußballfernen Bildungsschichten werden ihre Freude daran haben – und sei es nur, weil sie alle ihre Klischees bestätigt sehen. So lustig das Buch auch geschrieben ist, am Ende fällt einem vielleicht doch noch das Wort des großen Bill Shankly ein: »Es gibt Leute, die denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.«

Dominik Bardow
Trainingslager
Klappenbroschur
336 S., 20,00 €
Carpathia Verlag
ISBN 978-3-98630-020-3
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Die Buchpremiere findet am 13.10. um 19 Uhr im Backbord statt.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2023.

Für Kinder und Erwachsene

Bei Anagramm gibt es Bücher für Menschen, die gerne denken

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Die Buchhändlerinnen Sonja Marchewa und Katja Dotzauer zwischen Bücherregalen in der Buchhandlung AnagrammKennen den Geschmack der Nachbarschaft: Sonja Marchewa und Katja Dotzauer. Foto: rsp

Trotz ihrer Größe von rund 140 Quadratmetern droht die Buchhandlung Anagramm in der Trubeligkeit des Mehring­damms fast ein wenig unterzugehen. Was schade wäre – denn in dem geräumigen Ladenlokal findet sich ein sorgfältig kuratiertes Lektüreangebot für jedes Alter: Etwa die Hälfte der Titel machen Kinder- und Jugendbücher aus, womit die Buchhandlung, die 1976 (noch in der Großbeerenstraße) als »Kinderbuchladen Kreuzberg« gegründet wurde, gewissermaßen ihrer Tradition treu bleibt.

Wo anderswo die Titel der Spiegel-Best­seller­lis­te aufgereiht werden, präsentiert Anagramm eigene Favoriten: In den Büchern auf dem Tisch nahe dem Eingang stecken kleine Empfehlungskärtchen der drei Buchhändlerinnen, die ziemlich genau wissen, was die Kundinnen und Kunden aus der Nachbarschaft mögen.

Und was mag die Nachbarschaft? »Sie denkt gerne«, sagt Buchhändlerin Sonja Marchewa. Deshalb lasse man im Zweifelsfall auch »lieber mal eine Schmonzette weg«.

Ein Fokus des Ladens ist Feminismus, generell findet man bei Anagramm viel Literatur von Frauen. Neben deutschsprachiger Belletristik und Sachbüchern gibt es auch zwei Regale mit englischen Titeln – und eine Wand mit Graphic Novels.

Zweimal im Jahr präsentieren die Buchhändlerinnen ihre Empfehlungen in gebündelter Form bei Buchvorstellungsabenden. Außerdem finden regelmäßig – etwa einmal im Monat – Lesungen statt.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2023.

Gebrauchte Geisteswissenschaften

Im Antiquariat Minx in der Bergmannstraße gibt es noch einige Buchschätze zu heben

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Antiquar Rainer Minx zwischen vollen Regalen und Bananenkisten voller alter Bücher.Antiquar Rainer Minx zwischen vollen Regalen und Bananenkisten voller alter Bücher. Foto: rsp

Rund 25.000 Bücher dürften es sein, die in den Räumen des Antiquariats an der Ecke Bergmannstraße/Schenkendorfstraße auf neue Leser warten. Ganz so genau kann Rainer Minx, der das Geschäft seit 23 Jahren zusammen mit Mitinhaber Wilhelm Fetting betreibt, es nicht sagen; die Rechengröße des Antiquars ist die Bananenkiste – und von denen gibt es auf den rund 80 Quadratmetern etliche zwischen den vollen Regalen. Weitere Bestände finden sich in Minx’ Zweitladen ein paar Meter die Schenkendorfstraße hinauf sowie in einem weiteren Antiquariat in der Bücherstadt Wünsdorf in Brandenburg.

Auch wenn – auch und gerade unter den bei gutem Wetter vorm Laden aufgestellten Büchern – einige belletristische Titel und sogar Musik-CDs dabei sind, liegt der Fokus des Geschäfts doch eindeutig bei den Geisteswissenschaften: Theater und Kultur, Philosophie und Psychologie, Theologie, Judaica und eine ganze Menge Bücher, die sich mit Marxismus beschäftigen.

Das ist heutzutage, das sagt auch Rainer Minx, nicht gerade das, was sich besonders gut verkauft. Richtige Sammler gäbe es kaum noch, und jüngere Menschen würden gar nicht erst auf die Idee kommen, sich eine eigene Bibliothek aufzubauen.

Und doch gibt es immer wieder Menschen, die in dem Laden auf Entdeckungsreise gehen und den einen oder anderen Schatz heben – und damit den zynischen Fatalismus des passionierten Buchhändlers Lügen strafen. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert!

Erschienen in der gedruckten KuK vom August 2023.

Buchhandlung mit Druckwerkstatt

Große Auswahl für minderjährige Literaturfans bei Krumulus am Südstern

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Zwei Buchhändlerinnen von einem BücherregalBuchhändlerin Kerstin Hanne und Inhaberin Anna Morlinghaus. Foto: rsp

»Liebe kleine Krummelus, niemals will ich werden gruß«, lautet der Zauberspruch, mit dem Pippi Langstrumpf und ihre Freunde Tommy und Annika dem Erwachsenwerden abschwören. Die Buchhandlung Krumulus (mit drei U und einem M) am Südstern bietet auf jeden Fall genug Material, um die Zeit des Nicht-Erwachsenseins gut zu überstehen: Bilderbücher, Vorlesebücher, Bücher für Erstleser, Kleinkinder und Jugendliche finden sich auf den rund 80 angenehm verwinkelten Quadratmetern ebenso wie Sachbücher, Comics und Hörbücher für junge Menschen – mitgebrachte Erziehungsberechtigte können solange in der Erwachsenenecke abgestellt werden, die eine kleine Auswahl an Bestsellern und aktuellen Titeln bereithält.

Doch die sorgfältig kuratierte Auswahl an Kinder- und Jugendliteratur ist nicht alles, was der 2014 eröffnete Laden zu bieten hat: Im hinteren Galerieraum gibt es regelmäßige Ausstellungen mit Illustrationen, bei denen immer eines oder mehrere Bücher im Mittelpunkt stehen. Dort findet auch der Vorlesesalon für Kitagruppen und Schulklassen statt, außerdem gibt es Lesungen, Buchpremieren, Theater und musikalische Angebote für Familien sowie den Buchclub für Menschen zwischen 8 und 18.

In der Druckwerkstatt im Keller werden darüber hinaus Workshops für Kinder und Jugendliche angeboten, bei denen zum Beispiel Siebdruck und Linolschnitt ausprobiert werden können. In der Stempelwerkstatt können in den Sommerferien eigene Stempel gestaltet werden.

Linke Institution

Der Buchladen Schwarze Risse ist als Kollektiv organisiert

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Buchladen Schwarze Risse von außenHinter der unscheinbaren Tür verbirgt sich eine riesige Auswahl politischer Literatur. Foto: rsp

Den Buchladen Schwarze Risse als »Geheimtipp« zu bezeichnen, ginge wohl an der Realität vorbei, denn der Hinterhof, in dem sich das Souterrain-Geschäft verbirgt, ist der Meh­ring­hof, und zumindest in der politischen Linken ist der Laden eine feste Institution.

Die als Kollektiv organisierte Buchhandlung bietet so ziemlich alles an Literatur an, was zur außerparlamentarischen Opposition zu haben ist. Das sind ganz überwiegend Sach- und Fachbücher zu politischen und gesellschaftlichen Themen: Feminismus, Kommunismus und Anarchismus finden auf den rund 100 Quadratmetern ebenso ihren Platz wie Bücher, die sich mit Rassismus und Nationalsozialismus auseinandersetzen. Auch literaturwissenschaftliche und philosophische Titel gehören zum Sortiment, dazu kommen zahlreiche Zeitschriften sowie kleinere Abteilungen mit Comics, Belletristik und Krimis – auch hier mit einem klaren Fokus auf politische Themen.

Doch der Laden, in dem explizit kein Konsumzwang herrscht, versteht sich nicht allein als Buchhandlung: Fast jede Woche gibt es Lesungen und Diskussionsveranstaltungen, die auch eine Schnittstelle bilden sollen zwischen Gruppen, die eher auf der Straße arbeiten, und theoriebildenden Zusammenhängen. Von vielen Events gibt es Mitschnitte, die man im Schwarze-Risse-Podcast nachhören kann.

Der Buchladen wurde vor über 40 Jahren gegründet und gehörte damals zu den ersten Mietern des linksalternativen Kulturzentrums Meh­ring­hof.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2023.

Nixensolidarität

Skulptur im Viktoriapark in der Kritik

Ernst Herters Bronzeskulptur »Ein seltener Fang« im Viktoriapark: Ein Fischer ringt mit einer Meerjungfrau, die er aus dem Wasser gezogen hat. An der Skulptur lehnen diverse Pappschilder: »Jeden 3. Tag ein Femizid«, »Es fehlen 15.000 Frauen*hausplätzer«, »08000116016 Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen*«, »Instanbul-Konvention konsequent umsetzen«, »Schutzräume schaffen und erhalten«Ernst Herters Skulptur steht in der Kritik, sexualisierte Gewalt gegen Frauen zu verharmlosen. Foto: phils

»Jeden 3. Tag ein Femizid«, mahnt ein Pappschild, das an Ernst Herters Bronzeskulptur »Ein seltener Fang« hängt. Darunter ein Schild mit der Nummer vom Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen (08000116016). Es ist nicht die erste Protestaktion gegen die Skulptur am Fuße des Wasserfalls im Viktoriapark. Zum Internationalen Frauentag am 8. März hatte die Initiative Nixen- und Meerfrauen*solidarität Blumen vor der Skulptur niedergelegt und mit einem Schild auf das Problem hingewiesen: »Gewalt gegen Frauen* ist keine Deko«.

Herters »seltener Fang« zeigt einen Fischer, der mit einer Nixe ringt, die ihm offenbar ins Netz gegangen ist. Die Meerjungfrau windet sich hilflos unter dem Griff des muskulösen Fischers und streckt dem Betrachter dabei unweigerlich ihren nackten Oberkörper entgegen.

Die Initiative sieht darin die Normalisierung von sexualisierter Gewalt. »Skulpturen wie diese lassen Übergriffe auf Körper von Frauen* normal und sogar dekorativ erscheinen«, so die Kritik. Insbesondere für Betroffene sei diese Darstellung im öffentlichen Raum unerträglich.

Tatsächlich fordert die Initiative nicht die Entfernung der 1896 entstandenen Bronze. Vielmehr wünsche man sich eine kritische Diskussion. »Ihre Wirkung soll durch eine künstlerische Intervention herausgefordert werden. Freiheit der Kunst heißt nicht, dass wir Kunst nicht kritisieren dürfen!« Auch wolle man keine Interpretation des Werks vorschreiben, wünsche sich aber Raum für die zusätzliche Interpretation, dass hier vergeschlechtlichte Gewalt normalisiert wird.

Unterstützung erfährt die Initiative durch einen Grünen-Antrag in der Bezirksverordnetenversammlung. Die Fraktion fordert eine »kritische Kontextualisierung und/oder künstlerische Auseinandersetzung mit der unter Denkmalschutz stehenden Skulptur und der durch sie ästhetisierten sexualisierten Gewalt.«

Die Bronzeskulptur steht bereits seit Jahren in der Kritik, Bestandteil einer »Rape Culture« zu sein, also einer Kultur, die sexuelle Übergriffe verharmlost und legitimiert. 2019 hatten Aktivist*innen das Werk »feministisch umgestaltet«: Die Nixe bekam einen pinken Bogen spendiert, um sich des Übergriffs zu erwehren, ein Pfeil durchbohrte scheinbar den Kopf des Fischers. Darunter klärte ein Schild über die Intention auf: »Fight Rape Culture!«

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2023.

Comeback zum 25. Jubiläum

Karneval der Kulturen lockt Hundertausende nach Kreuzberg

Tänzerinnen und Tänzer der Gruppe #WAS BEWEGT DICH beim Karneval der KulturenZum 25. Mal tanzte sich der Karneval der Kulturen durch Kreuzberg. Foto: phils

Es war fast wie früher – und dann doch irgendwie anders. Vier Jahre hatte der Karneval der Kulturen auf seine 25. Auflage warten müssen – und alle schienen froh, dass das bunte Treiben nach Kreuzberg zurückgekehrt ist.

Aber es war eben doch nicht ganz so wie früher. Dass der Zug am Pfingstsonntag gefühlt in die falsche Richtung unterwegs war, ließ sich ja noch leicht verschmerzen, zumal das Experiment schon beim letzten Karneval gewagt wurde. Ungewohnt war indes der Startpunkt: Gneisenaustraße Ecke Zossener Straße. Der Grund dafür war ein bitterer. Von den über 90 Gruppen vergangener Jahre sind gerade mal 48 übrig geblieben. 2.500 Menschen beteiligten sich an der Parade bis zum Hermannplatz. Das reichte immerhin für ein siebenstündiges Spektakel. So lange dauerte es, bis die letzte Gruppe die Grenzen von Neukölln erreicht hatte. Die Halbierung des Zuges fiel so gesehen gar nicht so richtig auf. 

Doch warum ist der Zug plötzlich so geschrumpft? Tatsächlich können sich viele Gruppen den finanziellen Aufwand nicht mehr leis­ten. In einem Interview mit dem rbb am Rande des Zuges erklärte Edson Marcelino da Rocha jr von der Furiosa Samba Band: »Mein Wunsch an die Politiker und die Investoren wäre, dass sie ein bisschen mehr uns unterstützen. Wir brauchen Platz und ein bisschen mehr Geld gehört auch dazu.«

Ein Wunsch, der bislang nach jedem Karneval geäußert wurde, aber offensichtlich bislang ungehört verhallte, wie die Halbierung der Gruppen beim Umzug vermuten lässt.

Und einfacher wird es nicht. Der Versuch, dieses Mal auf jegliche motorisierte Unterstützung zu verzichten, war zwar einerseits ein eindrucksvolles umweltpolitisches Statement.

Teilnehmer hoffen auf größere Unterstützung

Andererseits braucht es mindestens acht Leute, um einen großen Wagen durch den Umzug zu ziehen. Es könnte also sein, dass die Zahl der Wagen in Zukunft weiter abnehmen wird.

Während die Teilnehmer des Zuges mangelnde finanzielle Unterstützung beklagten, war manch ein Zuschauer am Straßenrand geschockt und besorgt um seine eigenen Finanzen. Zum Teil wurden für das KdK-Kultgetränk Caipirinha neun Euro aufgerufen. Eine simple Bratwurst war für fünf und eine Dose Bier für vier Euro zu haben.

Für Marie Höpfner, Vorsitzende von mog61 und Veranstalterin des Mittenwalder Straßenfests am 2. September, ein Unding. »Der Karneval der Kulturen ist ja auch ein multikulturelles Fest und dadurch auch ein Fest für Migranten. Viele von denen haben nur wenig Geld. Ausgerechnet sie können sich die Preise beim Karneval der Kulturen gar nicht mehr leisten.«

Die Kommerzialisierung und Professionalisierung des Festes, die schon 2019 mit dem neuen Veranstalter ihren Anfang genommen hatte, war auch dieses Mal Anlass zu manchen Diskussionen. Im Mittelpunkt  der Kritik standen neben den Preisen auch die ausgedehnten Straßensperrungen. Viele Besucher kamen nicht einmal zum Umzug durch, weil alle Zugänge gesperrt waren. Ärgerlich für viele Anwohner, etwa von Mittenwalder oder Zossener Straße. Sie bekamen nur Zugang zur heimischen Wohnung, wenn sie ihren Personalausweis vorzeigten. 

Am Ende wurden mehr als eine halbe Million Zuschauer auf dem Umzug gezählt. Am Ende waren die meisten froh, dass der Karneval zurück ist. Die Frage ist allerdings, für wie lange. In zwei Jahren wird das Straßenfest wegen Bauarbeiten auf dem Blücherplatz weichen müssen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2023.

Qualität vor Quantität

Überzeugende literarische Auswahl am Marheinekeplatz

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Buchhändler Lutz Stolze und Laura Rupp am Tresen der Buchhandlung KommediaZwei Generationen Buchhandel: Lutz Stolze mit Mitarbeiterin und Tochter Laura Rupp. Foto: rsp

Wenn wie gerade der neue Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre erschienen ist, kann es auch schnell mal etwas voller werden in der Buchhandlung Kommedia. Das ist auch kein Wunder: Erstens kann sich Buchhändler Lutz Stolze über ein, wie er es nennt, »extrem informiertes, neugieriges und angenehmes Publikum« freuen. Und zweitens misst der Laden an der Stirnseite der Marheineke-Markthalle gerade einmal die 30 Quadratmeter, in die man auch durch die zwei großen Schaufenster hineinblickt – falls man es schafft, seinen Blick von der täglich aktualisierten Auslage im Fenster abzuwenden.

Doch die 30 Quadratmeter haben es durchaus in sich: Stolze und seine drei Mitarbeiterinnen halten eine sorgfältig kuratierte Auswahl aus den Unmengen von jährlichen Neuerscheinungen bereit. So gilt hier umso mehr das Prinzip »Qualität vor Quantität«, durchaus mit dem Ziel, den Leserinnen und Lesern auch einmal den Zugang zu etwas anspruchsvolleren Lektüren zu vermitteln.

Einen Großteil des Sortiments macht naturgemäß der Bereich Belletristik aus, viel davon auch von unabhängigen Verlagen. Dazu kommen etwa ein Drittel Sachbücher, vorwiegend zu aktuellen Diskussionsthemen, sowie eine kleine, aber feine Auswahl von Kinderbüchern.

Am Marheinekeplatz ist Kommedia übrigens seit 2004. 1981 war die Buchhandlung von acht Kommunikationswissenschaftsstudenten in der Bundesallee gegründet worden. Stolze kam 1985 dazu und übernahm das Geschäft zehn Jahre später.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Mai 2023.

Fachgeschäft für Fug und Unfug

In der Zossener Straße kommen Comic-Freunde auf ihre Kosten

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Bert Henning und Solange Adjakoh im Groben UnfugMitinhaber Bert Henning und Mitarbeiterin Solange Adjakoh im Groben Unfug. Foto: rsp

1982 hatten Comics bei Teilen der Bevölkerung noch einen eher schwierigen Ruf, und so darf man die Eröffnung des Comic-Ladens Grober Unfug – damals noch in Friedenau – ebenso wie den Namen wohl durchaus als kulturpolitisches Statement verstehen. Seit 1986 ist das Geschäft am heutigen Standort in der Zossener Straße 33 zu finden, zudem gibt es seit Ende der Neunziger eine Filiale in Mitte.

Während in der Torstraße auch die Importabteilung beheimatet ist, besteht das Kreuzberger Sortiment überwiegend aus deutschsprachigen Titeln des inzwischen stark diversifizierten Comic-Markts: Viele franko-belgische Sachen sind dabei, darunter natürlich Klassiker wie Asterix oder Lucky Luke, die seit Ladengründung zum Sortiment gehören, aber auch andere Funnies wie Donald Duck, außerdem Superhelden-Comics und Mangas. Und natürlich Graphic Novels, die mit ihrer langen Erzählform dazu beigetragen haben, Comics als Kunstform salon- und feuilletonfähig zu machen. Um die 4.000 Titel finden sich auf den rund 60 m² Ladenfläche. Dazu kommt ein ausgewähltes Sortiment an Postern, T-Shirts und Sammelfiguren.

Für Orientierung sorgen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die »alle einen Comic-Background haben«, wie Bert Henning, Mitinhaber seit 1985, erklärt. Er selbst zeichnet ebenfalls Comics (sein »50-jähriger Punk« erschien jahrelang in der KuK), Kollegin Solange Adjakoh kommt aus der Fan-Szene, früher standen hier Zeichner wie Fil und TOM hinterm Tresen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2023.

Klein, aber oho

Beratung steht bei der Buchhandlung Ludwig Wilde an erster Stelle

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Raumfüllendes volles Bücherregal, davor ein mit Bücher überquellender Verkaufstresen, lächelnd daneben Buchhändler Harald KirchnerBuchhändler Harald Kirchner findet für jeden das passende Buch – und hat es vermutlich auf Lager. Foto: rsp

Ewig zwischen Regalen und Büchertischen umherzuschweifen klappt in der Buchhandlung Ludwig Wilde schon deshalb nicht, weil der eigentliche Verkaufsraum kaum mehr als 20 Quadratmeter misst und nur zum kleineren Teil dem Publikumsverkehr dient. Aber das ist auch gar nicht nötig, denn Buchhändler Harald Kirchner und seine beiden Mitarbeiterinnen kennen ihre Stammkundschaft sehr gut und oft seit Jahren und finden auch für alle anderen schnell das passende Buch. Neben Belletristik und Kinderbuch gehört auch eine Auswahl an politischer und feministischer Literatur zum Sortiment, dazu kommen Krimis und – in kleinen Mengen – Comics. Außerdem werden etliche Schulen regelmäßig mit Schulbüchern beliefert.

Die kleine Buchhandlung in der Körtestraße 24 blickt auf eine über hundertjährige Geschichte zurück, was auch den immensen Lagerbestand erklären dürfte, in dem sich für jeden literarischen Geschmack etwas findet: Einige Zehntausend Titel werden es wohl sein, die fast jede waagerechte Fläche der Räumlichkeiten einnehmen, sowohl vor als auch hinter den Kulissen. »Nur das Genie beherrscht das Chaos«, könnte man meinen, doch die Wahrheit ist viel banaler: Alle Titel sind mit ihrem Standort in der Warenwirtschaft gespeichert. Sie alle zu erfassen, war aber wohl ebenso anstrengend wie der Umzug aus der Fichtestraße damals im Jahr 1995, an den sich Kirchner noch lebhaft erinnert: »Ich gebe Ihnen einen Tipp: Ziehen Sie nie mit einer Buchhandlung um.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2023.

Phantastik-Beratungsstelle

Im Otherland kommen Fantasy- und SciFi-Fans auf ihre Kosten

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Buchhändler Wolfgang Treß vor den Bücherregalen im Otherland.Mitinhaber Wolfgang Treß ist der Science-Fiction-Experte im Otherland-Team. Foto: rsp

Wer bei Fantasy nur an Tolkien und bei Science-Fiction nur an Raumschiff Enterprise denkt, sollte dringend mal zum Marheinekeplatz gehen und das Otherland besuchen. Die bereits 1998 eröffnete Buchhandlung (damals noch unter dem Namen UFO) hat sich ganz auf SciFi, Horror und Fantasy spezialisiert und ist damit eine der wenigen Anlaufstellen für Fans der Phantastik-Genres in Deutschland.

Auf den rund 90 Quadratmetern Verkaufsfläche in der Bergmannstraße 25 finden sich aber nicht nur belletristische Werke der drei Bereiche, sondern auch ein Regal mit wissenschaftlicher Sekundärliteratur, passende Comics, eine Auswahl an Kinder- und Jugendbüchern sowie eine Rollenspielabteilung. Zusätzlich gibt es etliche Regalmeter mit antiquarischen Titeln – wie auch das sonstige Sortiment mit einem großen Anteil an englischsprachigen Ausgaben – sowie ein wenig »Merch«, also alles von der Star-Wars-Tasse bis zur Spock-Perücke.

»Wir sind vor allem eine Beratungsbuchhandlung«, sagt Wolfgang Treß, der das Geschäft zusammen mit Jakob Schmidt und Simon Weinert 2013 übernommen hat. Überhaupt ist den Betreibern die Kommunikation mit der Leserschaft wichtig. So gibt es monatliche Plauder­abende (»Gatherland«), Rollenspiel-Treffen und Abende mit Autorinnen und Autoren. Der Renner seit Corona: individuell zugeschnittene Überraschungsbuchpakete.

Benannt ist das Otherland übrigens nach der Cyberpunk-Reihe von Tad Williams, dessen Bücher natürlich auch in den Regalen stehen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2023.

Wenn man trotzdem lacht

Lesung in der Junction Bar

Sandra Reichert liest auf der Bühne des unterRock.Sandra Reichert bei einer Lesung im unterRock im Oktober. Foto: rsp

Dass man sich mit den Themen Depression und Suizid durchaus unterhaltsam und trotzdem tiefgründig auseinandersetzen kann, hat Sandra Reichert mit ihrem Debütroman »Der Himmel muss warten« mehr als deutlich gemacht (Rezension in KuK 10/2022). Mit Schmerzlust und Galgenhumor zeichnet die Autorin darin das Porträt einer Frau, die sich zurück in die Welt erzählt – gegen ihre Überzeugung, dass das Leben eine Zumutung ist. Wer bisher dachte, dass die Verhandlung von solcherlei Themen Humor verbietet, kann sich hier vom Gegenteil überzeugen und vom frechen, freien und bisweilen flapsigen Ton in den Bann ziehen lassen.

Als Beitrag für die Enttabuisierung von Depressionen und ihrer Anerkennung als geläufige Krankheit mit vielen Facetten liest die Autorin ausgewählte Kapitel in Kooperation mit dem Vivantes-Netzwerk für Gesundheit GmbH sowie dem Soulspace Berlin und dem Fritz am Urban, beides Anlaufstellen für junge Menschen in Krisen. 

Begleitet wird der Abend von Ärzten der psychotherapeutischen Abteilung des Vivantes, die im Anschlussgespräch der Lesung ebenfalls zur Verfügung stehen.

Die Lesung findet am 20. Februar in der Junction Bar in der Gneisenaustraße 18 statt. Start ist um 20 Uhr, der Eintritt ist frei.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2023.

Die richtige Mischung

Großes Angebot mit Design-Schwerpunkt in der Buchhandlung Moritzplatz

Was wäre die Welt ohne Bücher? Sicherlich ein ganzes Stück langweiliger und dümmer. In dieser Reihe stellen wir Orte vor, an denen es Literatur zum Anfassen und Erleben gibt: Ob Belletristik, Sachbuch, Kochbuch, Lyrikband oder Fachbuch – Kreuzberger Buchhandlungen haben für jeden die passende Horizont­erweiterung im Angebot.

Buchhändler Ben von Rimscha steht vor den Regalen seiner Buchhandlung.Aufbau-Pionier: Ben von Rimscha eröffnete seine Buchhandlung bereits im Mai 2011. Foto: rsp

Das Aufbau Haus war gerade noch im Aufbau begriffen, als Ben von Rimscha dort im Mai 2011 die Buchhandlung Moritzplatz eröffnete. Es war zweifellos ein Wagnis, denn die Gegend um den Moritzplatz war damals beileibe nicht so beliebt und belebt wie heute. Doch die Idee des Hauses für Kultur und Kreative ging auf, und es ist nicht zuletzt die Firma Modulor, die auch der Buchhandlung ein wenig Laufkundschaft beschert.

So verwundert es nicht, dass ein Teil des »allgemeinen Sortiments«, wie es buchhändlerisch so schön heißt, dem Thema Design gewidmet ist. Dazu kommen Belletristik und Kinderbücher. Eine Abteilung mit englischsprachigen Titeln trägt dem Umstand Rechnung, dass zur Kundschaft außer Deutsch sprechenden Kiezbewohnern inzwischen auch zunehmend ausländische Touristen und Expats zählen – keine leichte Aufgabe also, da die richtige Mischung zu finden, wenn es gut 200 Quadratmeter Verkaufsfläche zu bespielen gilt.

Trotz des üppigen Platz­angebots kann es aber eng werden, dann nämlich, wenn die Buchhandlung zu abendlichen Veranstaltungen einlädt. Dann werden die Tische zur Seite gerollt und bis zu 120 Personen lauschen einer Lesung oder einem der Vorträge, die die Buchhandlung zusammen mit dem Bürgerverein Luisenstadt veranstaltet. Bei allzu großem Andrang weicht von Rimscha auch mal auf die Räume der Nachbarn von der Galerie CLB aus – dafür sitzt man schließlich gemeinsam in einem Haus der Kreativen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2023.

Museum der Dinge gekündigt

Entmietung in der Oranienstraße 25 schreitet voran

15.000 Exponate und 45.000 Dokumente brauchen voraussichtlich ab Juli einen neuen Ort. Foto: JF / Museum der Dringe

Am 27. Mai feiert das Werkbundarchiv sein 50-jähriges Bestehen – doch ob man bei dem Verein, der in der Oranienstraße 25 das Museum der Dinge betreibt, dann in Feierlaune sein wird, steht derzeit auf einem anderen Blatt. Denn Ende November kam die Kündigung für die Räumlichkeiten zum 30. Juni. Damit droht dem Museum der Verlust seiner Ausstellungsflächen sowie der Archiv- und Büroräume.

Verantwortlich für die Kündigung, bei der laut Verein noch nicht einmal die vertraglich vereinbarte Kündigungsfrist von einem Jahr eingehalten wurde, ist einmal mehr der Luxemburger Immobilienfonds Victoria Immo Properties V S.à r.­l. Der war bereits 2020 auffällig geworden, als er der im Erdgeschoss ansässigen Buchhandlung Kisch & Co. eine längerfristige Vertragsverlängerung verweigerte. Auch die neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V. (nGbK) muss voraussichtlich im August ihre Räume im Haus aufgeben.

Das Werkbundarchiv – Museum der Dinge widmet sich der alltäglichen Produktkultur des 20. und 21. Jahrhunderts und verfügt über eine Sammlung von derzeit rund 15.000 Exponaten, 45.000 Dokumenten und eine umfangreiche Bibliothek und versteht sich als Anlaufpunkt für alle Menschen, die sich kritisch mit der Gestaltung, der Produktion und dem Gebrauch von Produkten unserer Lebenswelt auseinandersetzen wollen.

»Durch die überraschende Kündigung sind die für die kommenden Jahre geplanten und zum Teil schon gestarteten Projekte – Ausstellungen, Veranstaltungen und Kooperationen – gefährdet«, teilt das Museum mit. Insbesondere aber sei es schwierig und kostspielig, innerhalb der Kündigungsfrist geeignete Flächen für das Archiv zu finden.

Museum der Dinge will geplante Veranstaltungen so lange wie möglich durchziehen

Die derzeitigen Flächen umfassen immerhin rund 1.000 Quadratmeter. Tatsächlich ist ohnehin ein Umzug in einen Pavillon auf der Karl-Marx-Allee ge­plant – allerdings erst in 2027. Dieses Zeit muss nun irgendwie überbrückt werden, wenn der Vermieter nicht einlenkt.

Schon bevor das Archiv 2007 in die Oranienstraße einzog, war es fünf Jahre lang gewissermaßen obdachlos, nachdem es die ständigen Ausstellungsräume im Martin-Gropius-Bau verloren hatte. Doch seitdem ist das Archiv zu einer Institution geworden, deren Partnerschaften ihren besonderen Charakter auch durch die Einbettung in den Kiez erhalten.

Trotz allem gibt man sich kämpferisch: »Das Werkbundarchiv – Museum der Dinge wird so lange wie möglich die geplanten Ausstellungen und Veranstaltungen in der Oranienstraße realisieren, um für das Publikum, alle Ko­opera­tions­partner*innen, die Nachbar*innen und den Kiez da zu sein. Wir hoffen auf die Solidarität und die Unterstützung des Publikums«, heißt es in der Pressemitteilung weiter. Neben den Herausforderungen, die die Kündigung für das Museum selbst bedeute, beklagt man vor allem den durch Entmietung verursachten, fortlaufenden Verlust gewachsener kultureller und sozialer Orte und Strukturen.

Die Entmietung der Buchhandlung Kisch & Co. hatte 2020 zu einer Reihe von Demonstrationen und Protestveranstaltungen geführt. Der Verlust der Räumlichkeiten konnte allerdings nicht verhindert, sondern nur verzögert werden. Quasi in letzter Minute hatte ausgerechnet die Deutsche-Wohnen-Tochter GSW der Traditionsbuchhandlung einen Mietvertrag für Räume in der Oranienstraße 32 angeboten.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2023.