NKZ als Schicksals- und Zufluchtsort

In ihrem Roman »Mond über Beton« macht Julia Rothenburg das Neue Kreuzberger Zentrum zum Protagonisten

Als die überregionale Presse das Kottbusser Tor vor fünf Jahren zum »gefährlichsten Platz Deutschlands« hochstilisierte, war das womöglich übertrieben, aber ein etwas rauer Charme lässt sich dem Kotti zweifellos attestieren. Es ist jener raue Charme, der sich auch in dem 12-stöckigen Stahlbetonbau an seiner Nordflanke wiederfindet, dem »Neuen Kreuzberger Zentrum« (NKZ), das eigentlich schon seit der Jahrtausendwende »Zentrum Kreuzberg« heißt – was hier aber niemanden so recht interessiert, weil die Umbenennung auch bloß eine gescheiterte Marketingmaßnahme zum Aufpolieren des miesen Image war.

Julia Rothenburg widmet beidem – Platz und Haus – ihren neuesten Roman »Mond über Beton« und macht darin in gewisser Weise das NKZ selbst zum Protagonisten. Die anderen sind seine Bewohner: Mutlu, Witwer, Gemüsehändler und überforderter Vater zweier pubertierender Jungs, die ins Drogenmilieu abzudriften drohen; seine Nichte Aylin, die als Ersatzmutter für Mutlus Söhne herhalten muss, während sie gleichzeitig Studium, Supermarktjob und die Avancen des anhänglichen Obdachlosen Ario unter einen Hut kriegen muss; die alleinstehende Stanca, der wegen eines Eigentümerwechsels ein Rauswurf aus der Wohnung droht; Marianne und Günther, ein alterndes Ex-Hausbesetzerpaar, das gegen die Junkies im und ums NKZ eine Bürgerwehr gründet, deren nächtliche Streifzüge tüchtig aus dem Ruder laufen.

Rothenburgs Charaktere, deren Gedanken sie in kurzatmigen, assoziativen (Halb-)sätzen wiedergibt, stehen wacklig auf der Welt, sind aber gleichzeitig tief verwurzelt in ihrer prekären Lebenssituation, verstrickt miteinander, mit dem Kiez, mit dem Kotti und mit dem NKZ, das für sie Schicksals- und Zufluchtsort zugleich ist. Dazwischen immer wieder Zeitungszitate über das NKZ aus verschiedenen Jahrzehnten und die zunehmend lakonischer werdenden Einlassungen aus der Perspektive des Gebäudes, das sich als erstaunlich resilient erweist – aber nun ja, es ist ja auch aus Beton.

Auch wenn der schroffe, aber doch poetische Stil des Romans ebenso abschreckend wirken mag wie der Kotti für Wilmersdorfer Witwen, gelingt es der Autorin doch, den Finger präzise in die Wunde zu legen – um ihn dort in aller Ruhe verweilen zu lassen, während das erschaffene Kartenhaus anfängt zu wackeln.

Julia Rothenburg: »Mond über Beton«, FVA, ISBN 978-3-627-00282-4, 320 Seiten, 22 Euro / E-Book 14,99 Euro.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2021.

Hausbesetzers Hausband

Ton Steine Scherben nahmen 1967 ihre ersten Songs auf

Welche Band kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie an Kreuzberg denken? Welche Richtung und welches Flair vermittelt diese Musik? Und aus welcher Zeit stammt sie und warum wurde sie geschrieben? In dieser Kolumne gehen wir den Kreuzberger Nächten und ihrer musikalischen Untermalung auf den Grund. Welche Bands kommen eigentlich von hier? Und was schreibt man über diesen berühmt-berüchtigten Stadtteil, wenn man gar nicht von hier kommt?

Eine Band sticht in der Geschichte Kreuzbergs als damals sogenannte Hausbesetzerband heraus. Eigentlich aus Hessen stammend, zogen die Musiker 1967 nach West-Berlin und nahmen in einem kleinen Studio in Kreuzberg die ersten beiden Songs auf. Einer davon hieß »Macht kaputt was euch kaputt macht« und sollte einen riesigen Bekanntheitsgrad im linksalternativen Spektrum erlangen. Ton Steine Scherben nannte sich die Gruppe um Sänger Rio Reiser. Ein Name, der sich laut Bassist Kai Sichtermann aus einem Brainstorming ergab. Reiser dagegen führt den Ursprung auf ein Zitat zurück.

Die Band haderte stark mit den Herrschenden und den Zuständen unter denen in West-Berlin gelebt wurde. Nachdem sie ihr eigenes Plattenlabel gegründet hatten, riefen sie immer stärker zu Protesten und der Aneignung durch das Häuserbesetzen auf. Sie waren es auch, die 1971 nach einem Konzert das Bethanien besetzten.
Immer wieder katapultierten sie sich durch ihre kritische Meinung und Lieder ins Rampenlicht.

Als sich die Band wegen persönlicher Probleme 1985 auflöste, hatte sie fünf geniale und heute (wieder) viel gehörte Platten veröffentlicht. Da die Platten damals allerdings von schlechter Qualität waren und somit die Nachfrage ausblieb, hatte die Band hohe Schulden. Reiser veröffentlichte daraufhin noch sechs weitere Alben, bevor er 1996 an den Folgen seines Alkoholismus verstarb.

2014 gründete sich die Band erneut und startete eine Tour mit zahlreichen Gastauftritten, bevor sie 2016 ihr endgültiges Gesamtwerk veröffentlichten. Doch der Tod Reisers zehrt an ihrer Bekanntheit und dem Interesse der Hörer. Doch tatsächlich spielen sie auch jetzt immer noch auf leider nur kleinen Bühnen in ganz Deutschland. Doch die Platten leben ewig.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2017.

Es geht voran

Die Bedeutung der Baucontainer im Kiez

Der Blick auf schutt­überladene Baucontainer beim Spaziergang durch den Kiez regt den Gedanken an, die Renovierung Kreuzbergs schreite voran. Da keimt die Hoffnung auf eine Zukunft in einer zentralbeheizten Altbauwohnung mit gefliestem Badezimmer, Geschirrspülmaschine und romantischer Aussicht auf die Hasenheide auf. Doch der Blick auf die Marktsituation zum Beispiel in der Bergmannstrasse lässt dieses Luftschloss zerplatzen wie eine Seifenblase. Eine solche Wohnung muss man sich heutzutage schon kaufen, dumm nur, dass sich das kaum einer leisten kann.

Wo wie hier gebaut wird steigen vermutlich bald die Mieten.

Foto: pskWo wie hier gebaut wird steigen vermutlich bald die Mieten. Foto: psk

Dass hier irgendetwas schiefläuft, fiel sogar der Wirtschaftswoche auf. Im März 2009 bescheinigte sie dem Berliner Immobilienmarkt den drittletzten Platz: Mäßige Wirtschaftskraft, sehr mäßige Standortqualität, stagnierende Sozialstruktur – alles durch die Brille des Kapitalanlegers gesehen.

Doch unverdrossen wird weiter renoviert, entmietet, die Miete erhöht und gebaut. Nun hat ein aktiv-kreativer Umgang der Kreuzberger mit gesellschaftlich wirtschaftlichen Gegebenheiten eine lange Tradition. Die Polit-Bewegung der 70er mündete fließend in die Hausbesetzer-Bewegung der 80er, die sich gegen spekulativ erzeugten Leerstand richtete, der Platz für schöne neue Betonbunker geschaffen hätte.

Paradoxerweise wird der Erfolg dieser Hausbesetzer-Bewegung dem Kiez jetzt zum Verhängnis. Das Blatt hat sich gewendet, trotz schlechter Bewertung in Kapital-Fachzeitschriften treten auf dem Kreuzberger Wohnungsmarkt vermehrt solvente Käufer auf, die schicke, szenenahe Altbau-Eigentumswohnungen zu horrenden Preisen erstehen. Aber keine Sorge, auch diese Käufer tragen ihr eigenes Paradoxon mit sich herum. Ist der Umzug ersteinmal überstanden, geht es an die Neustrukturierung des Wohnumfeldes. Wer zwischen zweihunderttausend und einer Million Euro für eine Eigentumswohnung hinblättert, toleriert keine Lärmbelästigung. Mit Hilfe des Ordnungsamtes wird genau die Szene, wegen deren Nähe der Preis gezahlt wurde, mundtot gemacht. Kiez und Kneipe berichtet seit geraumer Zeit über die einschlägigen Probleme der Wirte in dieser Hinsicht.

Trotz der aktuellen Maßnahmen zum Milieuschutz scheint der Raum für die lebendige Szene in Kreuzberg zu schwinden. Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen?

Die politischen Direktkandidaten fordern – je nach politischer Couleur – Veränderungen im Mechanismus der Vergleichsmieten (Wawzyniak), Mietpreisbindungen (Ströbele), Raumzuweisungen für Kulturschaffende (Böhning), flexiblere Handhabung amtlicher Auflagen (Löning) oder bedingungsloses Grundeinkommen (Lengsfeld). Ob irgendeine dieser Maßnahmen gegen einen Verdrängungswettbewerb wirkt, der über die Umwandlung in (oder »Schaffung von«) Eigentumswohnungen geführt wird, bleibt zu beobachten. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass überhaupt Schutzmaßnahmen durchgesetzt werden können.

Kultur und Szene werden von real existierenden, lebendigen Menschen gemacht. Falls die aktuellen Tendenzen anhalten, werden diese Menschen durch einen Typus verdrängt, der »Szene« als ein Produkt begreift, das man kaufen und konsumieren kann. Es bleibt die Frage, wie ein kreativer Umgang mit solchen Gegebenheiten aussehen könnte. Die ersten Flucht-Tendenzen nach Neukölln werden sichtbar – sollte sich die Geschichte dort wiederholen? Der gemeinschaftliche Kauf eines Bonner Stadtteils und anschließende Umwandlung à la Worpswede scheint wenig wahrscheinlich und es ist als Kreuzberger auch nicht einzusehen, weshalb man sich von seinem eigenen Publikum aus der Stadt jagen lassen sollte.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.