Marcel Marotzke wirft einen Blick in die nähere Zukunft
»Wir haben jetzt jeden vierten Deutschen geimpft, diese Woche wird’s noch jeder fünfte werden«, verkündete Jens Spahn unlängst in einem Interview. Zu seinen Gunsten sei dem Bundesgesundheitsminister mal unterstellt, dass es sich dabei nur um einen Versprecher und nicht um seine Bewerbung als Profifußballer handelte. Aber jedenfalls sind jetzt eine ganze Menge Leute geimpft, und damit stellt sich umso dringender die schon im Februar von Kultursenator Klaus Lederer aufgeworfene Frage, ob Geimpfte mehr dürfen sollen als Ungeimpfte.
Ich bin jedenfalls dafür. Nicht, weil ich einen Impftermin hätte – ernst gemeinte Angebote nimmt die Redaktion gerne entgegen – sondern weil ich mir die Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Leben überaus spannend vorstelle. Denn die Frage ist ja: Wie werden sich Bars und Biergärten entwickeln, wenn zunächst nur die Gruppe der Geimpften reindarf, die momentan ja zu Recht ganz überwiegend aus den Alten und Siechen besteht?
Vermutlich prächtig. Denn auch wenn der Gerontologe Gegenteiliges empfehlen mag, bin ich mir sicher, dass die Generation 70 plus es versteht, zu feiern. Manch jüngerer Kneipengänger wird sich in ein paar Monaten, wenn auch er wieder öffentlich zechen darf, noch schön wundern, wenn ihm vom Hocker am Tresen ein gutgelaunter Greis entgegengrinst, der dort seinen Stammplatz bezogen hat. Wegen der großen Nachfrage ist selbst die letzte Kellerkneipe endlich barrierefrei. Das Berghain spielt auf vier Floors, die mit einem Treppenlift verbunden sind, Beatles, Stones, Led Zeppelin und Udo Jürgens. Legendär unter den etwas reiferen Feiernden sind die Ü80-Partys, bei denen die strenge Türpolitik des Clubs sicherstellt, dass sich keine 78-jährigen Jungspunde einschleichen.
Während die Umsätze mit Craft Beer und Mate-Brausen stark rückläufig sind, erfreut sich Mampe Halb und Halb steigender Beliebtheit. Jägermeister versucht mit einer Marketingkampagne im ZDF-Vorabendprogramm neue Zielgruppen zu erreichen, aber gegen das neue Kultgetränk Herva mit Mosel kommt niemand an.
Verhältnismäßig schnell gelingt es den Kinos, sich an den neuen Geschmack anzupassen. Weil niemand Marvel-Comic-Verfilmungen oder Daniel Craig als James Bond sehen mag, laufen immer öfter Billy-Wilder- und Jean-Luc-Godard-Retrospektiven.
Viele der frisch Geimpften streben angesichts der steigenden Temperaturen vor die Tür, und so errichtet das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg in einem Pilotprojekt Pop-up-Nordic-Walking-Wege, die schnell zum Politikum werden, weil unklar ist, ob sie auch mit Rollatoren benutzt werden dürfen. Ein Generationenkonflikt scheint unausweichlich.
Nur in einer unscheinbaren Metal-Kneipe in Friedrichshain ist die Welt noch in Ordnung. Dort laufen den ganzen Abend über Iron Maiden, Judas Priest und Motörhead – also alles so wie immer.