Am Ende bleiben tiefe Gräben

Mehrheit für die große Koalition spaltet die Genossen von der SPD

Hannah Lupper und Niklas Kossow (SPD) vor der Redaktion der Kiez und KneipeHannah Lupper und Niklas Kossow von den Kreuzberger Sozialdemokraten. Foto: psk

Katerstimmung herrsch­te bei den SPD-Genossen in Kreuzberg nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der Mitgliederbefragung zur großen Koalition in Berlin. Mit 54,3 Prozent stimmte die Basis für den Koalitionsvertrag. In Friedrichshain-Kreuzberg hatte sich bei einer Kreisdelegiertenkonferenz eine Mehrheit gegen ein Bündnis mit der Union ausgesprochen.

»Das Ergebnis akzeptieren wir«, erklärte Niklas Kossow, Vorsitzender der Abteilung Südstern. »Das Ergebnis ist knapp. Die Partei hat sich mit der Entscheidung schwergetan.« Die Partei müsse sich nun neu aufstellen, um wieder zu­ein­an­der­zu­finden.

Doch das wird nicht einfach werden, wie die Vorsitzende des benachbarten Ortsvereins, der Abteilung Kreuzberg 61, meint. Hannah Lupper war in den letzten Wochen zu einer der wichtigsten Protagonistinnen der NoGroKo-Kampagne in der Berliner SPD geworden. Sie sieht durch das knappe Ergebnis die Führung der Landes-SPD beschädigt. »Der Landesvorstand hat es geschafft, Kai Wegner zum Regierenden Bürgermeister zu machen und sich gleichzeitig zur Disposition zu stellen.«

Im Vorfeld hatte Hannah Lupper beklagt, dass der Landesvorstand auf einzelne Mitglieder e­nor­men Druck ausgeübt habe. So sind tiefe Gräben zwischen der Landesspitze und einzelnen Kreis- und Ortsvereinen aufgerissen worden. Die Landesvorsitzenden Franziska Giffey und Raed Saleh hatten auf einer Pressekonferenz angekündigt, auf die unterlegene Seite zuzugehen. Allerdings hat Hannah Lupper Zweifel daran, ob das den beiden gelingen kann.

Für einen gewissen Vertrauensvorschuss warb dagegen Niklas Kossow, der glaubt, dass sich die neue Regierung nun beweisen müsse, und zeigen, dass sie zu einer progressiven Politik überhaupt in der Lage sei.

Was wird aus der Cannabis-Legalisierung?

Als Nagelprobe betrachten beide Ortsvereinsvorsitzende das Thema Cannabis-Legalisierung. Eine Enthaltung Berlins im Bundesrat könnte dieses neue Gesetz auf den letzten Metern zu Fall bringen. Das hätte gerade für Friedrichshain-Kreuzberg massive Folgen. Der Bezirk bereitet sich nämlich bereits darauf vor, als Modellprojekt diesen neuen Weg in der Drogenpolitik zu begleiten. »Es wäre ja ein Treppenwitz, wenn das neue Gesetz am Ende ausgerechnet an Berlin scheitern würde«, sagt Hannah Lupper.

Sie wird das Geschehen in der Bezirksverordnetenversammlung dann übrigens nur noch als einfaches Mitglied ihrer Fraktion verfolgen und nicht mehr als ihre Vorsitzende. Wenige Tage vor dem Abstimmungsende über den Koalitionsvertrag hatte die SPD-Fraktion in der BVV einen Wechsel der Fraktionsspitze bekanntgegeben. Tessa Mollenhauer-Koch folgt Hannah Lupper im Amt nach.

Schnell hatte das Gerücht die Runde gemacht, die bisherige Vorsitzende sei für ihre Opposition gegen den Koalitionsvertrag abgestraft worden. Sie selbst allerdings hat diesen Verdacht entkräftet. Der Wechsel sei schon länger besprochen gewesen. Nach zwei aufreibenden Wahlkämpfen innerhalb von anderthalb Jahren wolle sie nun einfach ein wenig kürzer treten. Abteilungsvorsitzende von Kreuzberg 61 will sie allerdings bleiben.

Immerhin gibt es in den nächsten dreieinhalb Jahren bis zur nächsten Berlinwahl noch genug zu tun. So sind nicht nur innerhalb der SPD Gräben aufgerissen worden, auch zwischen SPD und Grünen herrscht nun Eiszeit. Wenn sie wieder ein politischer Partner werden wollen, »dann müssen wir die Gesprächskanäle offen halten«, erklärt Hannah Lupper.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Mai 2023.

Kreisverband der SPD lehnt CDU-Koalition ab

Delegierte aus Friedrichshain-Kreuzberg folgen dem Landesvorstand nicht

Darüber herrschte Einigkeit: Die SPD des Bezirks ist gegen die Karstadt-Pläne des Unternehmens Signa am Hermannplatz. Archivfoto: rsp

Immerhin bei einem Punkt zeigte sich der Kreisparteitag der SPD in Friedrichshain-Kreuzberg dann einig. Die Pläne des österreichischen Investors Signa für den Karstadt am Hermannplatz lehnt man ab. Aber ansonsten krachte es beträchtlich. Selbst für einen so diskussionsfreudigen Kreisverband war das dann eher unüblich. Die Gemüter scheiden sich an der geplanten Koalition mit der CDU.

59 Delegierte stimmten gegen eine Koalition mit der CDU auf Landesebene, 44 waren dafür und drei enthielten sich. Für eine war das ganz besonders bitter: Cansel Kiziltepe aus Kreuzberg ist nicht nur Bundestagsabgeordnete, sondern auch stellvertretende Landesvorsitzende. Außerdem gehört sie der Delegation an, die mit der CDU den Koalitionsvertrag aushandeln soll. Sowohl sie als auch Landesgeschäftsführer Sven Heinemann, der ebenfalls dem Kreisverband angehört, warben vor den Delegierten des Kreisverbandes für die angestrebte Koalition, ein Weg, den die Mehrheit der Anwesenden nicht mitgehen will. Viele stellten sich die Frage, ob denn die SPD tatsächlich mehr Schnittmengen mit der Union als mit Grünen und der Linken habe.

Vor allem die Position von Cansel Kiziltepe gab etlichen Mitgliedern Rätsel auf, wird sie doch eher dem linken Lager in der SPD zugeordnet. Als  Staatsekretärin im Bundesbauministerium gehört sie auch der Bundesregierung an, wo die Koalitionsverhandlungen in Berlin ebenfalls mit Sorge verfolgt werden. Eine neue Koalition verschiebt auch das Kräfteverhältnis im Bundesrat. Allerdings ist fraglich, ob Cansel Kiziltepe noch lange im Bauministerium bleibt. Laut Berliner Zeitung wird sie nämlich bereits als Kultursenatorin in einem Senat unter Führung von Kai Wegner gehandelt.

CDU soll Ampelprojekten zustimmen

Was wird mit vielen Projekten der Ampel, wenn in Berlin eine schwarz-rote Koalition regiert? Normalerweise wird in solchen »Mischkoalitionen« vereinbart, dass sich das Bundesland bei Abstimmungen im Bundesrat enthält, wenn man sich nicht einigen kann. Etlichen Ampelprojekten könnte daher spätestens im Bundesrat das Aus drohen, weil die Stimmen aus Berlin fehlen.

Das trieb auch die queere SPD in Friedrichshain-Kreuzberg um. Sie beantragte, dass in den Koalitionsvertrag, so er denn zustande kommen sollte, ein Passus aufgenommen wird, dass Berlin im Bundesrat bestimmten Projekten zustimmen muss. Genannt werden insgesamt elf. Darunter fallen die Kindergrundsicherung und die Legalisierung von Cannabis. Sollte die CDU dieser Liste nicht zustimmen können, dann solle es auch keinen Koalitionsvertrag geben, fordert die queere SPD.

Noch sind die Verhandlungen nicht beendet, doch bis zum 23. April sollen die Mitglieder darüber abstimmen. Der Ausgang ist ungewiss. »Das gibt jetzt einen richtigen Wahlkampf«, meint die Fraktionsvorsitzende der SPD in der BVV, Hannah Lupper, die sich ebenfalls gegen eine Koalition mit der CDU stemmt. Selbst wenn sich eine Mehrheit der Mitglieder für eine Koalition aussprechen sollte, ist das noch nicht entschieden. Offiziell muss das ein vorgezogener Landesparteitag beschließen. »Der Parteitag ist eines der höchsten Beschlussgremien. Aber natürlich muss er sich auch an ein Mitgliedervotum halten.«

Tendenziell votieren die SPD-Mitglieder bei einer Befragung eher etwas konservativer. Doch dieses Mal wagt kaum jemand eine Prognose abzugeben. Das Rennen scheint völlig offen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2023.

Wann kommt der Volksentscheid?

»Klimaneustart Berlin« kritisiert Innenverwaltung und verlangt Zusammenlegung mit Berlinwahl

180.547 gültige Unterschriften konnte die Initiative »Klimaneustart Berlin« sammeln. Foto: Klimaneustart Berlin

Es ist geschafft: Das Volksbegehren »Berlin klimaneutral 2030« hat die nötige Zahl von Unterschriften erreicht. Für ein Zustandekommen mussten sieben Prozent der 2.434.808 am Stichtag 14. November Stimmberechtigten, also 170.437 Personen, dem Volksbegehren zustimmen. Wie der Landesabtimmungsleiter am Dienstag mitteilte, waren von den 261.841 von den Berliner Bezirksämtern geprüften Unterschriften 180.547 gültig – trotz rund 31 Prozent ungültiger Unterschriften wurde die Mindestzahl also erreicht. Damit ist der Weg zu einem Volksentscheid frei.

Doch schon sieht sich die Initiative mit dem nächsten Problem konfrontiert: Um das für einen erfolgreichen Volksentscheid nötige Quorum von 613.000 Ja-Stimmen zu erreichen, wäre es hilfreich, wenn die Abstimmung mit der Wiederholung der Berlinwahl am 12. Februar zusammenfiele. Danach sieht es indessen derzeit nicht aus. »Mit großem Erstaunen haben wir die Äußerungen aus der SPD-geführten Innenverwaltung wahrgenommen, die sich gegen eine terminliche Zusammenlegung des Volksentscheids zur Änderung der Berliner Klimaziele mit der Wahlwiederholung ausspricht«, beklagt die Initiative in einem offenen Brief an den Senat. Getrennte Wahl- und Abstimmungstermine würden nicht nur Mehrkosten von vielen Millionen und eine zusätzliche Hürde bedeuten, sondern könnte auch den öffentlichen Eindruck erwecken, dass aus politischen Gründen getrennte Termine festgelegt werden.

Tatsächlich sieht das Berliner Abstimmungsgesetz vor, dass Volksentscheide und Wahlen nach Möglichkeit zusammengelegt werden sollen. Dazu kann die Frist von vier Monaten für die Durchführung eines Volksentscheids auf bis zu acht Monate verlängert werden, wenn eine Wahl ansteht. Zwingend vorgesehen ist die Zusammenlegung allerdings nur, wenn bis zur bevorstehenden Wahl noch vier Monate Zeit sind – und das ist bei der Wiederholungswahl nicht der Fall.

»Wenn man sich jetzt davor scheut, es zusammenzulegen, dann kann man es ja gar nicht mehr machen«, kommentiert Wahlhelferin Anne Tursch, die das Chaos 2021 miterlebt hat. Die Formulierungen für Volksentscheide müssten dann allerdings auch einfach gehalten sein, damit es in der Wahlkabine nicht zu lange dauere. Auch für Stadtrat Oliver Nöll wäre eine Zusammenlegung »aus demokratietheoretischen Erwägungen« richtig, »unter den Rahmenbedingungen aber schwierig«.

Bis Mitte Dezember muss der Senat über den Termin entscheiden.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2022.

Endspurt fürs Klima

»Berlin 2030 klimaneutral« braucht noch 100.000 Unterschriften

Noch fehlen 100.000 Unterschriften. Foto: Klimaneustart Berlin

Berlin soll klimaneutral werden, und zwar nicht erst 2045, sondern bereits 2030 – das ist die Forderung der Initiative »Klimaneustart Berlin«, die derzeit Unterschriften für einen Volksentscheid sammelt. Bis zum 14. November müssen mindestens 171.000 gültige Unterschriften zusammenkommen. Rund 130.000 Menschen haben sich schon beteiligt, doch da mit einem Puffer für ungültige Unterschriften gerechnet werden muss, will die Initiative noch 100.000 Unterschriften sammeln.

Wird das Quorum erreicht und hat der anschließende Volksentscheid Erfolg, dann würde sich Berlin per Gesetzesänderung verpflichten, das Klimaziel vorzuziehen. »Nur durch die frühere Umsetzung wäre Berlin kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel und kann der historischen Verantwortung als Hauptstadt eines Industrielands gerecht werden«, erklärt Pressesprecherin Jess Davis.

Das Mittel der direkten Demokratie hat »Klimaneustart Berlin« bereits zweimal erfolgreich eingesetzt: Die Ausrufung der Klimanotlage 2019 durch den Senat sowie die Einberufung eines Klimabürger:innenrates 2020 gehen auf die Initiative zurück.

Für den Volksentscheid wurde mit Hilfe von Expert:innen das Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetz umgeschrieben. Da eine konkrete Gesetzesänderung vorgelegt wurde, muss das Land Berlin den Gesetzentwurf bei positivem Ergebnis direkt umsetzen. Anders als etwa beim Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«, bei dem kein Gesetzentwurf vorgelegt wurde, ist eine Verschleppung nicht möglich.

Bis 14. November müssen die Unterschriftslisten abgegeben sein

Das Team sucht noch helfende Hände für den Endspurt. Foto: Klimaneustart Berlin

Wer das Anliegen von »Klimaneustart Berlin« unterstützen möchte, sollte sich ranhalten: Bis 14. November muss die Initiative die Unterschriftslisten bei der Senatsverwaltung abgeben. Wer die Liste selbst unter berlin2030.org herunterlädt und vielleicht im Bekanntenkreis auf Unterschriftenjagd geht, sollte sie wegen der Postlaufzeiten bis 7. November abschicken. Alternativ kann in vielen Cafés, Läden und allen Bürgerämtern unterschrieben werden. Auch weitere helfende Hände fürs Sammeln von Unterschriften werden noch benötigt.

Das Team von »Klimaneustart Berlin« versteht sich als zivilgesellschaftliche Bewegung, die als Bindeglied und Plattform fungiert, um den Austausch zwischen Bürger:innen, Wissenschaft und Politik auf Augenhöhe voranzutreiben. Die Initiative verfolgt globale Klimagerechtigkeit und fordert von der Politik echtes klimagerechtes Handeln und die Nettonull bis 2030. Weltweit müsse das Ziel sein, 1,5 °C Erderwärmung nicht zu überschreiten, so die Forderung.

Dazu soll die Politik mit den Mitteln der direkten Demokratie unter Druck gesetzt werden. Vor allem soll aber auch eine Signalwirkung für andere Großstädte erzielt werden.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2022.

Bezirk bereitet sich auf Flüchtlinge vor

Noch weiß niemand, wie viele Menschen aus der Ukraine kommen werden

Update: Zwei Wochen nachdem dieser Artikel geschrieben wurde, ist immer noch kein Ende von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine in Sicht. Die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine liegt EU-weit bereits seit einiger Zeit deutlich über den im Artikel genannten Schätzungen. In Deutschland waren es laut Tagesschau.de zuletzt knapp 123.000 Personen (Stand 12.3.2022).

Eingangstor eines ContainerdorfsDie Tempohomes in der Alten Jakobstraße werden wohl bald Flüchtlinge aus der Ukraine beherbergen. Foto: psk

Was lange befürchtet wurde, ist schließlich eingetreten. Russland hat die Ukraine angegriffen. 700 Kilometer entfernt von Berlin fallen Bomben. Während die Regierungen über Sanktionen gegen Putins Regime beraten, laufen inzwischen bereits die Vorbereitungen für die Aufnahme von Flüchtlingen an.

»Das Problem ist, dass wir jetzt natürlich noch nicht wissen, wie viele Flüchtlinge kommen werden«, erklärt der Sozialstadtrat des Bezirks, Oliver Nöll. Doch andernorts ist man auch nicht klüger. Auf Nachfrage bei der EU erfahren wir, dass es verschiedene Szenarien gibt, die sich zwischen 50.000 und einer Million bewegen.

Wenigstens eines ist klar: Die Verteilung der Flüchtenden bemisst sich nach dem Königsteiner Schlüssel. Konkret würde das bedeuten, dass, wenn 100.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland Schutz suchen sollten, 5.000 dem Bundesland Berlin zugewiesen würden.

Als erste Maßnahme ist geplant, dass das Containerdorf »Tempohomes« in der Alten Jakobstraße nicht wie geplant abgebaut wird. Auch über andere Standorte wird nachgedacht, wie das ehemalige House of Life. »Das ist aber wirklich das Worst-Case-Szenario«, versichert Oliver Nöll.

Er drängt auch darauf, dass sogenannte »Statusgewendete«, also Asylsuchende, deren Status geklärt wurde, vorerst im Verantwortungsbereich des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) verbleiben, denn das entlaste die Bezirke bei der Suche nach Unterkünften.

»Es soll nicht so laufen, wie 2015«, erklärt der Sozialstadtrat und ist zuversichtlich, dass Stadt und Bezirk dieses Mal besser gerüstet sind. Eine Konsequenz war, dass das LAF aus dem damals völlig überlasteten LaGeSo ausgegliedert wurde.

In Friedrichshain-Kreuzberg lief vor sieben Jahren vieles besser als in anderen Bezirken. Oliver Nöll weiß auch warum: »Es war das zivilgesellschaftliche Engagement, das sehr geholfen hat.«

»Der ganze Verein steht bereit, um zu helfen«

Viele Vereine und Initiativen hatten sich damals der Hilfe für Geflüchtete verschrieben. Dazu gehörte auch der Nachbarschaftsverein mog61. Auch dort habe man bereits begonnen, die Lage und mögliche Hilfsmaßnahmen zu diskutieren, wie die Vorsitzende Marie Höpfner erklärt. Allerdings gilt für den vergleichsweise kleinen Verein das gleiche wie für die kontinentale Organisation EU, es fehlen im Moment noch Zahlen. »Wir wissen ja noch nicht, wie viele Menschen unsere Hilfe brauchen«, sagt Marie Höpfner und fügt hinzu: »Wir stehen auf jeden Fall bereit, wieder zu helfen.«

Wie die Hilfe konkret ausgestaltet werden kann, darüber wird in den nächsten Tagen ausführlich gesprochen werden. Die mog-Vorsitzende erinnert daran, dass der Verein vor sechs Jahren schon während der Krim-Krise aktiv war. Damals wurde Hilfspakete geschnürt und in die Ukraine geschickt. Dieses Mal sei das etwas anderes, fürchtet sie, denn sie glaubt nicht, dass man angesichts des Krieges noch Päckchen verschicken kann. Dagegen ist sie fest davon überzeugt, dass der ganze Verein sich ebenso tatkräftig zeigen wird, wie in den vergangenen Krisen.

Zurück zum »Tempohome« in der Alten Jakobstraße. Dort können in den 40 Wohneinheiten 160 Geflüchtete untergebracht werden. »Ich bin zwar kein Freund von Containern«, gesteht Oliver Nöll, »aber immer noch besser als in Turnhallen.« Auch im Fall des im Februar 2018 eröffneten Containerdorfes hatte die Bevölkerung tatkräftig dabei geholfen, die Bewohner in das Kiezleben zu integrieren. So zeichneten Ehrenamtliche für Themencafés und Kurse verantwortlich. Gemeinsame Feste wurden ausgerichtet.

Nachdem die letzten Bewohner ausgezogen waren, sollte in diesem Jahr alles abgebaut werden. Die Laufzeit soll nun mindestens für ein halbes Jahr verlängert werden. Oliver Nöll erwartet da keine Probleme: »Es ist ja schon betriebsfertig.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2022.

Zukunft Bergmannkiez

Ausstellung zur Neugestaltung

Der Bezirk hat alle Bürger, die sich für die Neugestaltung des Bergmannkiezes interessieren, zu einer Ausstellung eingeladen, die allerdings schon am 2. Oktober endete – zumindest im Rathaus in der Yorckstraße.

Doch wer keine Lust auf Mundschutz oder Treppensteigen hat (die Ausstellung ist im ersten Stock), der kann sie sich auch in den Schaufenstern des Stadtteilausschusses Kreuzberg e.V. in der Bergmannstraße ansehen. Es geht sogar noch etwas einfacher, nämlich auf der Webseite zum Modellprojekt.

In einer sehr kompakten Form wird die Ausstellung mit dem Titel: »Zukunft Bergmannkiez – Öffentlicher Raum, Mobilität, Lebensqualität« auch in fünf Filmen wiedergegeben, die ebenfalls im Internet abrufbar sind.

Die Ausstellung beschreibt minutiös den Weg bis zur jetzigen Entscheidung, stellt die Ergebnisse und auch die Streitpunkte des Verfahrens vor. Alle fünf Teile ergeben eine Gesamtlänge von etwas mehr als einer halben Stunde. Fast die Hälfte ist dem Film 4 gewidmet, der sich mit der zweiten Phase der Bürgerbeteiligung beschäftigt.

Insgesamt ist es eine spannende Dokumentation über einen Prozess, der den ganzen Kiez nun viele Jahre in Atem gehalten hat – zumindest für die, die mit Herzblut dabei waren.

Themenschwerpunkt: Bergmannstraße

Die Zeit des Autos ist vorbei
Bezirk setzt klares Zeichen gegen motorisierten Verkehr
Was lange währt, wird autofrei
Die unendliche Geschichte um die Bergmannstraßen-Neugestaltung neigt sich dem Ende zu
Wo Bächlein durch Straßen fließen
Kreuzberger Konzept funktioniert in Freiburg seit 1000 Jahren
Zukunft Bergmannkiez
Ausstellung zur Neugestaltung
Das Bergmann-Labyrinth
Planungen für die Umgestaltung von Bergmann- und Chamissokiez
Das Ende der Begegnungszone
Kommentar

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2020.

Kinder- und Flegeljahre einer Metropole

Thomas Böhm holt Hans Ostwalds »Großstadt-Dokumente« aus der Versenkung

Wer an Berichte über das Berlin des frühen 20. Jahrhunderts denkt, über die dunklen Ecken und hellen Leuchtreklamen, über soziale Gegensätze und Verwerfungen in der jungen Großstadt, der wird zuerst an die Reportagen und Texte von Joseph Roth und Siegfried Kracauer denken, vielleicht an Alfred Polgar und ziemlich sicher an Egon Erwin Kisch. Die Weimarer Republik, die »goldenen« Zwanziger, die Ringvereine – das sind heute die Zutaten für den Mythos vom »alten Berlin« und ein nach wie vor beliebter Schauplatz für Geschichten, etwa für die Gereon-Rath-Krimireihe von Volker Kutscher.

Thomas Böhm bei der Buchvorstellung im Hinterhof des Theaters Expedition Metropolis. Foto: rsp

Doch die eigentlichen Veränderungen Berlins von einer recht großen Stadt zu einer richtigen Großstadt mit all ihren Facetten reichen weiter zurück und waren schon um die Jahrhundertwende so erklärungsbedürftig, dass Hans Ostwald im Jahr 1904 die fünfzigbändige Schriftenreihe »Großstadt-Dokumente« startete, für die er zahlreiche Autoren verpflichtete. Als »Sachkenner« sollten sie »den Wissbegierigen an die Hand nehmen und ihn hindurchführen durch diese zahllosen Wirrnisse«, heißt es im Vorwort des ersten Bandes.

Die »Großstadt-Dokumente« sind heute weitgehend vergessen. Dem Autor und Literaturkritiker Thomas Böhm ist es zu verdanken, dass mit »Berlin. Anfänge einer Großstadt« jetzt eine Art Best-of vorliegt.

In den Texten, die zwischen 1904 und 1908 erschienen sind, erfährt der Hobby-Berlinforscher Erstaunliches über den damaligen Zustand der Stadt, die mit den umliegenden Orten zwar erst 1920 offiziell zu »Groß-Berlin« verschmolz, aber längst als Zwei-Millionen-Metropole angesehen wurde.

Zum Beispiel die Sache mit der Wohnungsnot: Für den Beitrag »Mörderische Wohnungszustände« hat dessen Autor Alfred Lasson akribisch Krankenkassenakten ausgewertet. Kaum einer der Patienten verfügte auch nur über ein Bett, das nicht mit einem Familienmitglied geteilt wurde. Während der Arbeitsschicht wurden die Betten darüber hinaus an Schlafleute vermietet, um das Geld für die kargen, oft feuchten Räume zusammenzubekommen.

Währenddessen blühte draußen und in schäbigen Hinterzimmern die Prostitution. Neuankömmlinge (und davon gab es viele; Berlin wuchs zwischen 1870 und 1900 um rund eine Million Menschen) waren allen Arten von Nepp und Bauernfängerei ausgesetzt.

Ostwald setzte zweifellos einen starken Fokus auf die »dunklen Winkel« der Großstadt, doch verstand er es, auch für andere Themen »Sachkenner« ins Boot zu holen: Ruder-, Segel-, Rad- und Rasensport sind ebenso Thema wie Tanzlokale, Klubs nach englischem Vorbild, Kaffeeklappen und Varietés. Denn trotz aller sozialen Probleme war Berlin eben auch eine moderne Großstadt und ein Ort der Freiheit, wie etwa Texte über schon damals offen ausgelebte Homosexualität zeigen.

Was Ostwald hoch anzurechnen ist, ist dass die Texte seiner »Großstadt-Dokumente« akribisch die Situation beschreiben, ohne sich in moralischen Bewertungen zu ergehen. Damit stehen sie – mitten in der Kaiserzeit – für eine Form von Berichterstattung, wie sie erst Jahre später populär wurde.

Nicht alle Texte, die Böhm für seinen gut 400 Seiten starken Sammelband ausgewählt hat, bestechen durch die sprachliche Brillanz der Epigonen. Dafür wandeln sie trittsicher auf dem »schmalen Grat zwischen Aufklärung und Befriedigung der Sensationslust«, wie es der Herausgeber bei der Buchvorstellung treffend formulierte. Vor allem aber bieten sie einen unschätzbaren Einblick in die Kinder- und Flegeljahre der Großstadt Berlin.

Hans Ostwald, »Berlin. Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportages 1904-1908«, hrsg. von Thomas Böhm, Galiani Berlin, ISBN 978-3-86971-193-5, 416 Seiten, Hardcover, 28 Euro.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2020.

100 Jahre Groß-Berlin

Wie aus Äckern Kieze wurden

Als vor hundert Jahren, am 1. Oktober 1920, das Groß-Berlin-Gesetz in Kraft trat, mit dem zahlreiche einst selbstständige Nachbarorte Berlins eingemeindet wurden, wuchs Berlin mit einem Schlag auf das 13-Fache seiner Fläche und auf unfassbare 3,9 Millionen Einwohner. Tatsächlich spiegelte der Verwaltungsakt nur wieder, was längst Realität war: Denn spätestens seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, der unvorstellbar hohe Reparationszahlungen in Preußens Staatskasse gespült hatte und damit die Phase der Hochindustrialisierung vorantrieb, waren Berlin und das Umland immer mehr (zusammen-)gewachsen.

Überlegungen zu Eingemeindungen hatte es schon seit den 1820ern gegeben, als die Stadt Berlin gerade knapp über 200.000 Einwohner zählte und ihre Grenzen noch innerhalb der Akzisemauer lagen, nach deren Stadttoren noch heute zahlreiche Plätze benannt sind.

Doch mit den Nachbargemeinden war jahrzehntelang keine Einigung zu erzielen, wohl vor allem, weil die Gebiete, die zur Debatte standen, hinsichtlich der erzielbaren Steuereinnahmen sehr unterschiedlich aufgestellt waren.

1861 schließlich kam es dann doch zu einer großen Eingemeindung, die Berlin um Moabit, den Wedding, Tiergarten sowie Ackerflächen von Tempelhof und Schöneberg erweiterte. Mit der Tempelhofer Vorstadt, nach wie vor der offizielle Name in Kreuzberger Grundbüchern südlich des Landwehrkanals, war damit auch das heutige Kreuzberg komplett in Berlin integriert.

Die Geschichte des Bezirks Kreuzberg, der bekanntermaßen 2001 im Zuge der Bezirksreform in Friedrichshain-Kreuzberg aufging, beginnt allerdings tatsächlich 1920, wenn auch spitzfindige Menschen anmerken, dass er zunächst ein Jahr lang unter dem Namen »Hallesches Tor« firmierte.

Ist »100 Jahre Groß-Berlin« also auch »100 Jahre Kreuzberg«? Schwer zu sagen und in gewisser Weise eine Definitionsfrage. Völlig unstreitig hingegen ist, dass der Name »Kreuzberg« im nächsten Jahr sein Jubiläum feiert. Zur Einweihung des Nationaldenkmals im Viktoria­park am 30. März 1821 wurde der zuletzt »Tempelhofer Berg« genannte Hügel, auf dem das von Friedrich Schinkel gebaute Denkmal steht, nämlich ganz offiziell in »Kreuzberg« umbenannt.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2020.

Sinfonie der Großstadt in Textform

Wiederentdeckte Reportagen aus dem frühen 20. Jahrhundert

Berlin zu Beginn des 20. Jahrhunderts: eine Weltstadt im Werden. Hier gibt es mondäne Klubs und ausschweifendes Nachtleben, Warenhäuser und Sportereignisse, aber auch Prostitution, Kriminalität und große Armut.

Der Journalist Hans Ostwald schickt Reporter- und Schriftstellerkollegen als »Sachkenner« in alle Winkel aus, um »Entdeckungsreisen in die nächste Nähe« zu unternehmen, »aus dem vollen Leben heraus« zu berichten – und so die rasante Entwicklung seiner Heimatstadt Berlin in der von ihm geschaffenen Schriftenreihe »Großstadt-Dokumente« festzuhalten.

Die »Großstadt-Dokumente« gerieten größtenteils in Vergessenheit.

Der Journalist und Radiomoderator Thomas Böhm hat die publizistisch wie zeitgeschichtlich bedeutende Schriftenreihe nun wiederentdeckt, eine Auswahl aus den Bänden getroffen und diese in dem Buch »Berlin – Anfänge einer Großstadt« veröffentlicht.

Am 24. September stellt er das Buch im Theater Expedition Metropolis vor.

24.09.2010, 19:30 Uhr
Ohlauer Straße 41
10999 Berlin

Eintritt: Spendenbasis

Kartenvorbestellung: tickets@expedition-­metropolis.de

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2020.

Eine Geschichte der Aufmüpfigkeit

Jürgen Enkemanns Kreuzbergbuch ist erschienen

Buchcover »Kreuzberg – das andere Berlin« von Jürgen Enkemann

Jürgen Enkemann kann wohl mit gutem Gewissen als »Kreuzbergversteher« bezeichnet werden. 1963 zog er nach Abschluss eines philologischen Studiums von Göttingen nach Kreuzberg und blieb dort. Als Mitbegründer und Mitglied zahlreicher Ini­tiativen im Bezirk und Herausgeber des Kiezmagazins »Kreuzberger Horn« (seit 1998) hat er viele der Ereignisse und Entwicklungen selbst miterlebt und mitgestaltet, von denen er in seinem jetzt im vbb verlag für berlin-brandenburg erschienenen Buch berichtet.

»Kreuzberg – das andere Berlin« lautet der Titel des 240 Seiten starken Werks. Was genau Kreuzberg jetzt so anders macht als die anderen Berliner Stadtteile, analysiert Enkemann gründlich und fundiert in zwölf Kapiteln, die jeweils einen thematischen Schwerpunkt näher beleuchten, der für das Werden und Sein, das Selbstverständnis und die Außenwahrnehmung Kreuzbergs eine Rolle spielte und spielt.

Er geht dabei (anders als etwa Martin Düs­pohl in seiner an mehreren Stellen von Enkemann zitierten »Kleinen Kreuzberggeschichte« von 2009) nicht strikt chronologisch vor. Vielmehr ordnet er die Phänomene nach der Zeit ihres ersten Auftretens an und konzentriert sich innerhalb der Kapitel auf die Ereignisse und Entwicklungen des jeweiligen Themas.

Beispielsweise be­ginnt das Kapitel über die (später legendäre) Kreuzberger Künstlerszene mit der Gründung der Galerie zinke 1959 und endet mit Entstehung, Rezeption und Wirkungsgeschichte des Lieds »Kreuzberger Nächte« der Gebrüder Blattschuss, während das darauffolgende Kapitel über die Entwicklung des multikulturellen Kreuzbergs den Bogen von der Anwerbung der ersten türkischen Arbeitskräfte 1961 bis hin zu aktuellen Debatten der Migrationsforschung spannt.

Als roter Faden durch die Geschichte zieht sich immer wieder die Aufmüpfigkeit, die Widerständigkeit des Bezirks, seiner Bewohner und – auch das mit einer überraschenden Kontinuität – seiner Verwaltung.

»Kreuzberg – das andere Berlin« ist keine Bedienungsanleitung für Touristen und Zugezogene, keine launige Anekdotensammlung und auch kein Geschichtsbuch mit Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität. Es ist eine wissenschaftlich fundierte und gleichwohl subjektive Analyse von Tendenzen, Kontinuitäten und Brüchen, reich bebildert mit zeitgenössischen Fotografien, Flugblättern, Plakaten, einem akribisch geführten Quellennachweis und Personenverzeichnis im Anhang.

Auch wenn der Text stellenweise recht nüchtern und sachlich daherkommt, ist das Buch dennoch von der ersten bis zur letzten Seite hochinteressant und uneingeschränkt lesenswert. Auch Leser, die sich (wie die Rezensentin) insgeheim selbst als Kreuzbergversteher verorten, können noch eine ganze Menge erstaunliche Details und Fakten über »ihr« Kreuzberg dazulernen.

Jürgen Enkemann: »Kreuzberg – das andere Berlin«, 240 Seiten, 179 Abbildungen. ISBN 978-3-947215-57-7, 25 Euro

Mehr zum Buch auf der Website des Verlags

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2020.

Vom Bauarbeiter zum Buchhändler

Robert S. Plaul sprach mit »Hammett«-Inhaber Christian Koch

Hammett-Inhaber Christian KochChristian Koch. Foto: rsp

Die Buchhandlung Hammett in der Kreuzberger Friesenstraße kann man guten Gewissens als Institution in Sachen Kriminalliteratur bezeichnen. Seit bald einem Vierteljahrhundert versorgt das nach dem Schriftsteller Dashiell Hammett benannte Geschäft nicht nur Kiezbewohner mit Lesestoff. Dass das trotz aller Widrigkeiten, mit denen der Buchhandel im Allgemeinen und das Hammett im Besonderen in den letzten Jahren und Monaten zu kämpfen hatte, schon so lange so gut klappt, liegt vor allem an einer Person: Inhaber Christian Koch.

Dabei war Christian Kochs Weg vom Krimileser zum Krimibuchhändler keineswegs vorgezeichnet. Nach dem Abitur, das er machte, »weil es alle gemacht haben«, und 20 Monaten Zivildienst schlug sich der gebürtige Hannoveraner eher etwas ziellos durchs Leben. »Ich habe zum Beispiel mal ein halbes Jahr auf einem Segelschiff gelebt«, erzählt er, »in Südfrankreich.«

Fünf Jahre arbeitete er in seiner alten Heimat auf dem Bau, bis er 1998 schließlich der Liebe wegen nach Berlin zog. Auch in Berlin kam er zunächst mit handwerklichen Tätigkeiten über die Runden, doch das Verhältnis zu seinem neuen Chef war nicht das beste und Christian dachte darüber nach, sich selbstständig zu machen.

Genau in jener Zeit, im Sommer 1998, hörte er zufällig von einer Buchhandlung in Kreuzberg, die nur Krimis verkaufte – und, wie sich herausstellte, von einer alten Schulfreundin betrieben wurde. Und Claudia, die das Hammett 1995 gegründet hatte, suchte gerade eine Aushilfe. So wurde Christian Koch, der schon immer gerne Krimis gelesen hatte, aber nie auf die Idee gekommen wäre, im Buchhandel zu arbeiten, gewissermaßen vom Hilfsarbeiter zum Hilfsbuchhändler.

Doch dem Hammett ging es schlecht und seine alte Bekannte und neue Chefin wollte den Laden nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus privaten Gründen verkaufen.

Die beiden festen Mitarbeiter des Hammett hatten kein Interesse, das Geschäft zu übernehmen. Sie glaubten nicht an eine Zukunft der Krimibuchhandlung. Quereinsteiger Christian sah das anders. Er war davon überzeugt, dass man den Laden zum Laufen kriegen könnte, auch wenn es sicher nicht leicht werden würde. Er sollte recht behalten – und zwar mit beidem.

Bald lernte er, worauf es im Buchhandel und speziell beim Hammett ankommt: Die Leute wollen beraten werden, zumindest die meisten, und zwar ehrlich. »Am Anfang habe ich geglaubt, ich müsste jedes Buch gelesen haben«, sagt er, »aber das geht natürlich gar nicht.« Wenn man dann so tut als ob, kann das schnell peinlich werden, weiß er aus eigener Erfahrung. Lieber ist ihm da das offene Gespräch mit seinen Kunden, bei dem auch er, nach über 20 Jahren ein wandelndes Krimilexikon, immer wieder Neues dazulernt.

Die Kunden wissen seine offene Art zu schätzen. Als das Hammett kürzlich per Newsletter von seiner aktuellen wirtschaftlichen Schieflage berichtete, unter anderem eine Folge der 16-monatigen Baustelle direkt vorm Laden, schwappte ihm eine Welle der Solidarität entgegen. »Viele haben gesagt: Ach, dann mache ich meine Weihnachtseinkäufe dieses Jahr bei euch«, sagt er. Und auch ein anonymer Brief mit einer Banknote lag eines Tages im Briefkasten – ziemlich passend für einen Krimibuchhändler, findet Christian.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2020.

Pornografie einst und jetzt

Das 14. Pornfilmfestival blickt zurück und kampfbereit nach vorn

Filmstill aus dem Kurzfilm »Riot not Diet«»Riot not Diet« ist ein Kampf um Sichtbarkeit und gegen Fat-Shaming. Foto: PFFB

Mit einem umfassenden Retrospektiven- und Klassiker-Programm warf das 14. Pornfilmfestival Berlin, das Ende Oktober im Moviemento und Babylon Kreuzberg stattfand, mehr als in den Jahren zuvor einen Blick zurück in die Geschichte der ebenso kontrovers diskutierten wie missverstandenen Filmgattung. Werke wie »La Planque 1« (1975) des weitgehend vergessenen französischen Regisseurs José Bénazéraf lassen mit ihrer tief eingeschriebenen Rape-Culture erahnen, woher die Pornografie ihren schlechten Ruf hat – auch wegen der unsäglichen deutschen Synchronisation, die ihren Namen nicht verdient,  aber für viel Gelächter im Kinosaal sorgte. »Body Lust« (1979) ist – was die Synchro der 35mm-Kopie angeht – fast noch erheiternder und kann auf der Habenseite zudem verbuchen, als einer der frühesten Pornos mit weiblicher Regie (Monique Carrera) ein Frauenbild zu vermitteln, das stärker von Selbstbestimmtheit geprägt ist.

Die Filme »Hungry Hearts« (1989) und »Suburban Dykes« (1990) der Regisseurin und Produzentin Nan Kinney gehören zu den Frühwerken eines lesbisch-emanzipatorischen Kinos. Kinneys Platz im Filmmaker-in-Focus-Programm war jedenfalls hochverdient.

Bei den zeitgenössischen Filmen des Festivals zeigt sich eine immer stärkere Politisierung – die nicht von Ungefähr kommt: In vielen Ländern werden LGBTQ-Rechte zunehmend beschnitten, in Brasilien wird durchschnittlich alle 20 Stunden ein queerer Mensch ermordet. Mutige Kurzfilme wie »Etérea – Criolo« (Musikvideo+Making-of) und »Polish Cumbucket« setzen sich damit auseinander und dürfen getrost als Kampfaufrufe verstanden werden.

Derweil gedeihen die Produktionen weiblicher Filmemacher: Beeindruckend intim geriet der Kurzfilm »We see you« von Jenz Mau, der mit dem Blick des Zuschauers spielt. »Veux moi« von Bambi Rainotte setzt sich selbstbewusst mit dem Wunsch nach Begehrtwerden auseinander und ist die sehenswerteste No-Budget-Produktion seit Jahren.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.

Wenig Spannung im Titelkampf

Für kleinere Parteien sind Überraschungen bei der BVV-Wahl möglich

In vielen Teilen Deutschlands ist eine Kommunalwahl ein mühsames Geschäft. In Städten wie etwa Stuttgart kämpfen sich die Wähler durch wandtapetengroße Stimmzettel. Zudem wird von ihnen verlangt, sich mit Wahltechniken herumzuschlagen, die auf so schöne Namen wie Kumulieren, Panaschieren oder Unechte Teilortswahl hören. Das alles klingt mehr nach Kamasutra als nach demokratischem Urnengang.

In Berlin ist es dagegen denkbar einfach. Es gibt einen Stimmzettel und ein Kreuzchen für die Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung. Die 55 Sitze im Rathaus in der Yorckstraße werden dann proportional verteilt.

Klare Verhältnisse

Die Verhältnisse in der derzeitigen BVV ist sehr eindeutig. Bei momentan nur 51 Mitgliedern sind die Grünen mit ihren 22 Sitzen schon sehr nah an der absoluten Mehrheit. Dass nicht die volle Zahl der Bezirksverordneten ins Kommunalparlament einzog, lag einfach daran, dass die Piraten nach ihrem Überraschungserfolg nicht über genügend Kandidaten verfügten, um alle Sitze zu besetzen. Ihnen hätten neun zugestanden. Vier blieben frei.

Alle buhlten damals um die Gunst der Politikneulinge – und das hatte nicht nur mit Welpenschutz zu tun. Rein theoretisch hätten SPD, Linke und Piraten eine Zählgemeinschaft gegen die Grünen bilden können. Doch am Ende blieb es bei einer klassischen Rollenverteilung, die den Grünen im Bezirksamt drei von fünf Stadtratsposten bescherte.

Dass die Piraten ihren Überraschungserfolg von 2011 noch einmal wiederholen, ist sehr unwahrscheinlich. Auch die kleine Fraktion blieb nicht vom Zerfall der Gesamtpartei verschont. Statt fünf hat sie heute nur noch vier Mitglieder. Eine Bezirksverordnete verließ die Fraktion.

Das Erbe der Piraten

Es geht also bei der BVV-Wahl vermutlich um die Hinterlassenschaft der Piraten, das heißt um bis zu neun Sitze, die sich nun andere Parteien erobern können – mal ganz abgesehen von den üblichen Verschiebungen, die so eine Wahl sonst mit sich bringt. Doch ganz abschreiben kann man die Piraten auch nicht, denn um in die BVV zu gelangen, benötigen sie nur drei Prozent. Das ist etwa der Wert, den Demoskopen den Piraten berlinweit derzeit einräumen. Rechnet man den Kreuzberg-Bonus dazu – nirgendwo haben die Piraten vor fünf Jahren besser abgeschnitten – dann könnte es durchaus noch reichen.

Wer überrascht?

Monika Herrmann bleibt wohl im Amt.

Foto: Sedat Mehder Monika Herrmann bleibt wohl im Amt. Foto: Sedat Mehder

Allerdings ist es ja nicht ausgeschlossen, dass eine andere Partei ebenfalls einen solchen Überraschungscoup landen könnte, und da geht der bange Blick automatisch auf die AfD. Eigentlich scheint es ausgeschlossen, dass eine so rechte Partei in Friedrichshain-Kreuzberg reüssieren könnte, denn in ganz Berlin gibt es keine linkere BVV. Wenn man die Piraten zum linken Block zählt, blieben dem rechts-bürgerlichen Lager gerade mal vier Verordnete der CDU.

Nun haben die letzten Landtagswahlen gezeigt, dass die AfD bei allen Parteien wildern konnte. In den ostdeutschen Bundesländern wurde dabei aber ausgerechnet die Linke schwer gerupft.

Es ist also überhaupt nicht auszuschließen, dass die AfD mit einigen Bezirksverordneten in die BVV einzieht. Bei einem so meinungsfreudigen Parlament, das häufig große Zuschauermassen anzieht, dürfte das für noch wesentlich turbulentere Sitzungstage sorgen.

Bleibt das Bezirksamt?

Peter Beckers, Spitzenkanddidat der SPD. Foto: Joachim GernPeter Beckers, Spitzenkanddidat der SPD. Foto: Joachim Gern

Die wichtigste Aufgabe zu Beginn der neuen Legislatur wird die Wahl eines neuen Bezirksamtes sein. Derzeit stellen die Grünen mit Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, Baustadtrat Hans Panhoff und Kämmerin Jana Borkamp drei der fünf Posten. Dr. Peter Beckers (SPD), zuständig für Wirtschaft, und der Linke Knut Mildner-Spindler (Soziales), vervollständigen das Gremium.

Da die beiden letzteren als Spitzenkandidaten für ihre jeweilige Partei ins Rennen gehen und bei den Grünen wenig auf ein Abweichen von der bisherigen Rollenverteilung hindeutet, könnte das alte Bezirksamt wieder das neue sein.

Es gibt jedoch ein paar Unwägbarkeiten. Da ist zunächst die Bezirksbürgermeisterin. Monika Herrmann gilt als streitbar und hat vor allem in der Auseinandersetzung mit Innensenator Frank Henkel sehr an Profil gewonnen. Vor allem dem bürgerlichen Lager gilt sie als der Fleisch gewordene Gott­sei­mit­uns. Das hilft ihr in Kreuzberg ungemein und auch die eine oder andere innerparteiliche Auseinandersetzung ist inzwischen längst vergessen. Paradoxerweise könnte Frank Henkels unsägliches Verhalten in Sachen Rigaer Straße den Grünen am 18. September ein Rekordergebnis bescheren. Der eine oder andere Grüne träumt bereits von einer absoluten Mehrheit im Kreuzberger Rathaus.

Allerdings bröckelt auch die Grüne Wählerbasis in Kreuzberg. Immer wieder bläst der Fraktion von den Zuschauerrängen im Rathaus ein rauher Wind entgegen. Von alternativem Durchregieren und mangelnder Kompromissbereitschaft im Angesicht der eigenen Stärke ist da die Rede.

Die SPD als zweit­stärks­te Fraktion ist in der BVV nur halb so stark wie die Grünen. Dass der stellvertretende Bezirksbürgermeister Peter Beckers den Chefposten erobern könnte, gilt als nahzu ausgeschlossen. Für ihn wird es ein Erfolg sein, den großen Abstand zu den Grünen zu verringern.

Linke muss kämpfen

Führt die Linke in den Wahlkampf: Knut Mildner-Spindler.Führt die Linke in den Wahlkampf: Knut Mildner-Spindler.

Während sich die beiden größeren Parteien kein ernsthaftes Duell liefern, sondern bestenfalls die eigene Position etwas verbessern oder verschlechtern werden, stehen die Linken vor einer sehr schweren Wahl. Schon vor fünf Jahren war die Partei auf Rang vier abgeruscht. Dabei stellte sie – damals noch als PDS – vor nicht allzu langer Zeit sogar noch die Bezirkbürgermeisterin. Ihre Verluste in Friedrichshain hat sie in Kreuzberg nicht kompensieren können. Allerdings hat sie bei Bundestagswahlen immer gut abgeschnitten – davon könnte sie auch jetzt profitieren. Mehr als sieben Sitze wären schon ein Erfolg. Doch wenn sich der Trend fortsetzt, wird sie im schlimmsten Fall vielleicht den einen oder anderen Sitz an die AfD verlieren.

Splitterpartei CDU

Bleibt noch die CDU, die schon vor vier Jahren denkbar schlecht abgeschnitten hat. Nirgendwo werden die Henkelschen Eskapaden eine so starke Auswirkung haben wie in Kreuzberg. Sein Versagen am Gör­litzer Park, die Tatenlosigkeit am Kotti und die Tricksereien in der Rigaer Straße dürften die CDU eher Stimmen kosten, zumal die feurigsten Law-and-Order-Anhänger es dieses Mal eher mit der AfD versuchen werden.

Am Ende wird es bei der BVV-Wahl wohl eher wie in der Fußball-Bundesliga zugehen. Wie es oben ausgeht, scheint klar, aber unten wird es spannend.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2016.

Lettland weist Demonstranten aus

KuK-Mitarbeiter darf nicht über Proteste gegen SS-Gedenken berichten

Der Protest endete noch ehe er begonnen hatte. Lothar Eberhardt, Mitarbeiter von Kiez und Kneipe, war mit vier weiteren Mitstreitern gerade in der lettischen Hauptstadt Riga gelandet, da wurden sie auch schon von Sicherheitsbeamten des baltischen Staates abgefangen. Die erklärten dem Besuch aus Berlin, dass er hier unerwünscht sei und sich sofort wieder auf die Heimreise begeben solle.

Rückblende: Zwei Jahre zuvor hatte sich schon einmal eine Delegation aus Berlin auf den Weg nach Riga gemacht. Ihre Absicht: Sie wollten gemeinsam mit lettischen Antifaschisten gegen den »Tag der Legionäre«, den Lettland traditionell am 16. März feiert, protestieren. Dahinter verbirgt sich das Gedenken an die 15. und 19. SS-Waffen-Grenadier-Division. Die beiden Großverbände waren 1943 aufgestellt worden. Von 1998 bis 1999 galt der 16. März sogar als Nationaler Gedenktag.

Abgeschoben: KuK-Mitarbeiter Lothar Ebehard (links) im Gefangenentransport auf dem Weg nach Litauen.

Foto: privatAbgeschoben: KuK-Mitarbeiter Lothar Ebehard (links) im Gefangenentransport auf dem Weg nach Litauen. Foto: privat

In Lettland ist das Gedenken an die baltischen Legionäre durchaus umstritten. Für die einen sind es Kollaborateure mit dem Naziregime, für andere Freiheitskämpfer gegen die sowjetischen Unterdrücker des Baltikums.

Von zahlreichen deutschen Demonstranten gegen den Marsch zum Nationaldenkmal wurden vor zwei Jahren die Personalien aufgenommen. Fünf von ihnen wurden am Flughafen von Riga abgefangen, einer sechste Person wurde in Hamburg der Zutritt in die Maschine nach Riga verwehrt.

Den fünf Berlinern wurde mitgeteilt, dass sie »eine Gefahr für die öffentliche Ordnung« darstellten und deshalb mit einem Einsreiseverbot bis 16. März belegt worden seien – einem Einreiseverbot, von dem sie allerdings nichts wussten. Und da sie sich weigerten, den nächsten Flieger zurück nach Deutschland zu nehmen, sollten sie zunächst in das Lager für illegale Einwanderer nach Dagopils verfrachtet werden. Pinkanterweise handelt es sich dabei um ein ehemaliges KZ.

Von dort aus ging es im vergitterten Gefangenentransport an die Litauische Grenze, wo die Abgeschobenen in einen Fernbus nach Berlin gesetzt wurden. 20 Stunden später waren sie wieder zu Hause.

Doch damit ist der Fall noch lange nicht ausgestanden. Lothar Eberhardt, der auch in seiner Eigenschaft als Journalist über den »Gedenktag der Legionäre« berichten wollte, sieht sich nicht nur in der Versammlungsfreiheit, sondern auch in der Pressefreiheit beschnitten. Er hat nun die Deutsche Journalisten-Union (dju) eingeschaltet.

dju rügt die lettischen Behörden

Die Gewerkschaft hat sich mittlerweile mit den Behörden in Lettland in Verbindung gesetzt und scharf gegen Maßnahmen und vor allem gegen die Einschränkung der Pressefreiheit protestiert.

Lothar Eberhard will aber wieder nach Lettland. Spätestens zum nächsten Aufmarsch am »Tag der Legionäre«. »Wenn ich die Chance habe, wieder einzureisen, dann werde ich das tun«, gibt er sich kämpferisch. »So etwas geht gar nicht«, sagt er und verweist darauf, dass es sich dabei um ein natio-nales Gedenken an Nazis handele. Das ist nicht nur für ihn ein unerträglicher Gedanke. Die Deutschen waren unter anderem auf Einladung lettischer Opferverbände nach Riga gereist. Auch jüdische Organisationen hatten sich an dem Protest gegen den Gedenktag, der übrigens auf Druck Russlands im Jahr 2000 seinen offiziellen Charakter verlor, be­tei­ligt. Der Tag ist auch ein großer Konfliktpunkt zwischen baltisch- und russischstämmigen Letten.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2016.