Zwischen Unsicherheit und Hoffnung

Die Lebensrealität syrischer Geflüchteter in Kreuzberg

Foto von Abdulrahman, einem Geflüchteten aus SyrienAbdulrahman lebt seit neun Jahren in Berlin. Foto: mh

Seit mehr als einem Jahrzehnt herrscht in Syrien ein brutaler Bürgerkrieg, der Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat. Viele syrische Geflüchtete haben in Berlin, insbesondere in Kreuzberg, Sicherheit und die Chance auf einen Neuanfang gefunden. Hier fanden sie Unterstützungsnetzwerke, ein Gemeinschaftsgefühl und oft einen ersten Hoffnungsschimmer nach traumatischen Erlebnissen. Am 24. November 2024 wurde der syrische Machthaber Baschar al-Assad gestürzt, ein Ereignis, das von vielen Unterdrückten als Befreiung empfunden wurde. Trotz dieser politischen Entwicklungen bleibt die Situation in Syrien angespannt.

In Deutschland sorgen Debatten über die Zukunft syrischer Geflüchteter, die Einstufung Syriens als sicheres Herkunftsland und mögliche Abschiebungen für Verunsicherung und Ängste in der Community.

Sollen oder wollen syrische Geflüchtete nach Syrien zurückkehren? Auch wenn die Lage dort nicht nur politisch, sondern auch emotional instabil ist?

In den letzten Wochen habe ich mit vielen syrischen Geflüchteten in Kreuzberg gesprochen. Wie vielfältig die Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven sind, zeigt dieser Blick in die syrische Community.

»Ich wünsche mir, meine Familie und meine Freunde wiederzusehen«, sagt Djamal, der 2015 nach Deutschland kam und in einem Restaurant arbeitet. »Aber das Syrien, das ich kenne, gibt es nicht mehr. Meine Angst ist zu groß, dass es instabil bleibt. Grundsätzlich würde ich dorthin reisen, um zu helfen. Voraussetzung müsste für mich allerdings sein, dass ich nach Deutschland zurückkehren könnte, falls die Verhältnisse dort sich wieder verschlimmern sollten.«

Die Altenpflegerin Amira betont, dass sie sich in Deutschland eine neue Existenz aufgebaut hat: »Ich sehe meine Zukunft hier. Zurückgehen wäre ein Risiko, das ich nicht eingehen möchte. Ich habe mir hier ein Leben aufgebaut und bin integriert. Ich möchte Sicherheit für meine Kinder. Aber ich möchte auch den Menschen in Syrien helfen.«

Besonders eindrucksvoll war das Gespräch mit Abdulrahman, der die Meinung vieler syrischer Geflüchteter widerspiegelt. »Ich bin mir nicht sicher, ob Syrien jetzt wirklich so frei ist, wie ich es mir erhofft habe«, erzählt er in verständlichem Deutsch. »Sobald sich die Situation verbessert und Syrien ein demokratisches Land wird, in dem alle friedlich zusammenleben können, werde ich zurückkehren. Aber eigentlich ist die Situation noch unklar. Viele Länder mischen sich in Syrien ein und verfolgen ihre eigenen Interessen. Ob ich zurückkehren will oder nicht, kann ich im Moment nicht wirklich entscheiden.«

Auf die Frage, wie er sich in Deutschland fühlt angesichts der veränderten Situation und der rassistischen Stimmung, die Abschiebungen fordert, antwortet er: »In Berlin fühle ich mich sicher. Ich bin seit neun Jahren hier. Ich bin mit 16 nach Deutschland gekommen. Ich bin sozusagen hier aufgewachsen. Ich habe die Sprache gelernt. Ich bin hier in die Schule gegangen und ich habe vor allem viele Freunde gefunden. Die Menschen in Kreuzberg haben mir sehr geholfen, und dafür bin ich sehr dankbar.«

Ob er Kreuzberg als seine Heimat ansieht, frage ich ihn. »Ich kann mit Sicherheit sagen, dass Kreuzberg meine zweite Heimat ist. Seit ich angekommen bin, lebe ich hier. Ich arbeite im sozialen Bereich im Nachbarschaftshaus und engagiere mich ehrenamtlich in Kreuzberg.«

Ein zentraler Punkt in den Gesprächen war die Bedeutung von Orten wie Kreuzberg für Geflüchtete. Für die syrische Geflüchteten-Community ist Kreuzberg nicht nur ein Zufluchtsort, sondern auch ein Ort, an dem sie ihre Kultur bewahren und weitergeben können. Viele von ihnen engagieren sich in Projekten, die syrische Traditionen fördern, sei es durch Kunst, Musik oder die Eröffnung von Restaurants oder Cateringdiensten.

Doch die Frage bleibt: Wie kann Deutschland und insbesondere Berlin für Geflüchtete eine langfristige Perspektive schaffen, die weder von Abschiebung noch von ungewisser Duldung geprägt ist? Darauf zu antworten, ist komplex und setzt politischen Willen voraus.

Ich habe aus diesen Gesprächen mitgenommen, dass Kreuzberg zeigt, dass Integration nicht nur ein politischer Begriff ist, sondern im Alltag gelebt werden kann. Es ist ein Ort der Hoffnung – nicht nur für Geflüchtete, sondern für alle, die an eine Zukunft ohne Grenzen glauben.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2025 (auf Seite 3).

Solidarität und Gemeinschaft

Winterliches Engagement für Obdachlose in Kreuzberg

Essensausgabe am SüdsternSolidarisch durch den Winter. Am Südstern gibt es jeden Freitag warmes Essen. Foto: mog61

In Kreuzberg zeigt der Winter ein solidarisches Gesicht: Zahlreiche Initiativen engagieren sich für obdachlose Menschen. Von einem einmaligen Flohmarkt zugunsten wohnungsloser Menschen, den das Bezirksamt am 15. November 2024 organisiert hat, bis hin zu wöchentlichen Essensausgaben und Duschangeboten im Kiez reicht das vielfältige Engagement. Eine detaillierte Übersicht gibt es hier.

Auch der gemeinnützige Verein mog61 e.V. trägt mit seinem Winterprojekt »EinTopf für alle« aktiv dazu bei, die kalten Monate für obdachlose und bedürftige Menschen etwas wärmer zu gestalten. Seit dem 1. November werden jeden Freitag am Südstern warme Mahlzeiten sowie Kleidung und Decken ausgegeben – begleitet von einer wärmenden Feuerschale.

Ein besonderer Höhepunkt des Projekts steht am Freitag, den 13. Dezember 2024 bevor. Denn ab 18 Uhr lädt mog61 e.V. zu einer vorweihnachtlichen Feier vor dem Tiny House am Südstern (U7) ein. Gemeinsam werden nicht nur Geschenke an Bedürftige verteilt, sondern auch ein Fest der Solidarität gefeiert. »Wir wollen den Menschen, die oft ohne Dach über dem Kopf leben, zeigen, dass sie nicht alleine sind«, erklärt Marie Hoepfner, die mog61 e.V. Vorsitzende.

Das Fest richtet sich nicht nur an Obdachlose und Bedürftige, sondern lädt die gesamte Nachbarschaft zum Austausch und zur Begegnung ein. »Es geht darum, Brücken zu bauen und Begegnungen zu schaffen – unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Religion, Alter oder Behinderung. Wir wollen Wärme und Freude schenken und gleichzeitig auf das Thema Obdachlosigkeit aufmerksam machen«, so Marie Hoepfner weiter.

Das Fest wird vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg sowie einigen Gewerbetreibenden und Nachbar:innen unterstützt und bietet neben Live-Musik und einem gemeinsamen Essen auch Raum, um Tipps zu erhalten und Hilfe zur Selbsthilfe kennenzulernen.

»Kommt vorbei und feiert mit uns ein Fest der Menschlichkeit und Gemeinschaft«, lädt mog61 e.V. abschließend ein. Ein Appell, der niemanden unberührt lassen sollte.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2024 (auf Seite 13).

»Rassismus« muss sichtbar werden!

Eine Analyse von mog61 e.V. in Kooperation mit Betroffenen / Zusammengetragen von Marie Hoepfner

Der gewaltsame Tod des US-Bürgers George ­Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis schockierte Menschen weltweit und löste zu Recht Debatten aus. mog61 Miteinander ohne Grenzen e.V. möchte mit diesem Beitrag am Diskurs teilnehmen. Obwohl wir Diskriminierungen aller Art ablehnen, widmen wir uns hier überwiegend dem Thema »Rassismus«, insbesondere gegenüber Schwarzen. Es geht darum, »Rassismus« sichtbarer zu machen und die Menschen zu sensibilisieren. Mit diesem Ziel haben wir Menschen anderer Hautfarbe, mit denen wir zu tun haben, gebeten, mit uns diese Doppelseite zu gestalten.

Die Menschen auf der Erde sind genetisch betrachtet fast gleich. Es gibt keine biologische Grund­lage für »Rassen«. Das Wort »Rassismus« setzen wir deshalb in Anführungszeichen.

»Rassismus« ist die Überzeugung, dass ein Beweggrund wie »Rasse«, Hautfarbe, Sprache, Religion, Staatsangehörigkeit oder nationale oder ethnische Herkunft die Missachtung einer Person oder Personengruppe oder das Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer Person oder Personengruppe rechtfertigt. So lautet die Definition der Europäischen Kommission.

Schwarz, Schwarze, Schwarzer oder Schwarzer Mensch sind Begriffe, die wir als Selbstbezeichnung gerne benutzen. Schwarz ist ein politisches Statement! Schwarz sein ist ein Stück Identität! »Schwarz sein« bedeutet, dass Menschen durch gemeinsame Erfahrungen von »Rassismus« miteinander verbunden sind und auf eine bestimme Art und Weise von der Gesellschaft wahrgenommen werden.

Genau wie bei »Weiß« geht es bei »Schwarz« nie wirklich um die Farbe. Bezeichnet werden keine »biologischen« Eigenschaften, sondern gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten. »Weiß« ist auch ein politischer Begriff. Er bezeichnet Menschen, die Privilegien, nämlich weiße Privilegien haben.

Wir benutzen auch die Selbstbezeichnung PoC (People of Color; Singular: Person of Color) und BPoC (Black and People of Color) oder BIPoC (Black, Indigenous and People of Color). Dazu zählen alle Farben und Schattierungen dieser Welt, auch Menschen aus Lateinamerika, Südafrika oder Asien.

»Rassismus« auch in Europa

In vielen EU-Ländern gibt es »rassistische« Diskriminierung. Dieser »Rassismus« ist viel mehr als die Äußerungen und Aktionen einzelner »Rassisten«, »Rassismus« ist Teil einer Struktur, einer systematischen, zum Teil auch unterschwelligen Diskriminierung. Er ist historisch gewachsen und institutionell verankert. Vier Beispiele:

• In Frankreich sind Übergriffe der Polizei auf afrikanische und arabische Jugendliche fast alltäglich. Der gewaltsame Tod des 24 Jahre alten Adama Traoré sorgt seit 2016 für Proteste. Vor ihm starben Amine Bentousi, Zyed Benna und Bouna Traoré, Amadou Kouné, Hocine Bouras, Lamine Dieng, Malik Oussekine.

• In Belgien kennen viele Kinder Leopold II. aus ihren Schulbüchern bis heute nur als Beschützer des Christentums und großen Modernisierer. Aber nirgendwo war die europäische Kolonialherrschaft so grausam wie im Kongo unter Leopold II.

• In Großbritannien werden seit 2018 Zuwanderer abgeschoben, die zwischen 1948 und 71 als Arbeitskräfte vor allem aus der Karibik auf die britische Insel kamen, die sogenannte »Wind­rush-Generation« – weil sie nie formal eingebürgert wurden.

• Auch in Deutschland hat »Rassismus« eine lange Geschichte – von Kant über Hegel, die den »rassistischen« Gedanken kultivierten, zu Kolonialismus, den Nazis und über die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart.

Klischees und Vorurteile

»Rassismus« hat viele Gesichter und reicht von subtilem Alltags-»Rassismus« über institutionellen »Rassismus« durch politische Entscheidungen bis zu rechter Gewalt. Viele Menschen leiden in der Schule, am Arbeitsplatz, im Bus, auf der Straße unter Beschimpfungen und Diskriminierung. Klischees und Vorurteile spielen dabei eine große Rolle. Das erleben wir oft in der U-Bahn, wenn sich Leute wegsetzen, weil Schwarze vermeintlich streng riechen oder das Portemonnaie klauen könnten. Ein/e Schwarz-Europäer*in wird in der Regel immer gefragt, wo er/sie ursprünglich herkommt. Das ist ein ständiger Hinweis, nicht »wirklich« dazuzugehören. Oder es heißt: »Du kannst bestimmt gut singen und tanzen! Ihr Schwarze habt den Rhythmus doch im Blut!«

Ob bei der Wohnungs- oder Jobsuche, in der Schule oder Universität, im Gesundheitswesen, vor Gericht oder bei Polizeikontrollen – in all diesen Bereichen leiden Minderheiten unter institutionellem »Rassismus«. Besonders einschneidend ist der Ausschluss von nicht anerkannten geflüchteten Menschen vom Arbeitsmarkt.

Auch »rassistische« Polizeigewalt ist ein Problem. Die Initiative »Death in Custody« hat seit 1990 177 Fälle recherchiert, bei denen BPoC in Gewahrsam ums Leben gekommen sind. Ein Bericht des Europarats vom März 2020 be­legt, dass »Rassismus« ein weit verbreitetes Phänomen in Deutschland ist. Es ist die Rede von zunehmendem »Rassismus«, Islamophobie, rechtsextremen Angriffen, Racial Profiling, zu wenig Vertrauen in die Polizei und viel zu wenig Aufklärungsarbeit. Ein bekannter Fall ist der Tod des Sierra-Leoners Oury Jalloh 2005 in Dessau, der nach 15 Jahren immer noch nicht aufgeklärt ist. Marie


Jahrelang angestaute Wut und Trauer

Die Protestbewegung »Black Lives Matter« (BLM) begann schon 2013 in sozialen Medien wie Twitter mit dem Hashtag #Black­LivesMatter als Reaktion auf den Freispruch des Mörders von Trayvon Martin, um gegen Gewalt gegen Schwarze bzw. BIPoC zu protestieren. Und das ist auch gut so!

Vor allem von Rechten wird dem oft mit dem Slogan »All Lives Matter« (Alle Leben zählen) entgegengetreten – unter dem Vorwand, dass BLM ein Angriff gegen Weiße wäre. Damit soll diese Bewegung gegen »Rassismus« und Polizeigewalt zerredet werden.

BLM bedeutet nicht, dass das Leben von Schwarzen und Minderheiten mehr wert ist als das von anderen. Es heißt ja nicht »Only Black Lives Matter«! Wir wollen nur die Botschaft vermitteln, dass Schwarze Leben wichtig und wertvoll sind, genauso wie jedes andere Leben.

BLM ist ein aufrüttelnder Aufruf, der auf die Ungerechtigkeit hinweist und Raum für jahrelang angestaute Wut und Trauer gibt. Es geht um ein konkretes Problem, nämlich darum, dass Schwarze aufgrund ihrer Hautfarbe benachteiligt werden. Es macht immer noch einen Unterschied, wenn man mit einer nicht-weißen Hautfarbe auf die Welt kommt. Es geht um Alltags-»Rassismus« und strukturellen »Rassismus«! Manu

Endlich breite Öffentlichkeit

Inzwischen gehen auch in vielen europäischen Ländern Menschen auf die Straße. Sie solidarisieren sich nicht nur mit den Demonstrant*innen in den USA, sondern setzen auch ein Zeichen gegen »Rassismus« im eigenen Land. Es macht uns Schwarze Menschen stolz, dass auch nicht Schwarze Menschen »Black Lives Matter« unterstützen.

Aber warum erreicht die Bewegung erst jetzt eine breite Öffentlichkeit? Vielleicht weil viele junge Weiße mitmachen, die »Fridays for Future«-Generation, die sich tatkräftig gegen Diskriminierung und für Chancengleichheit einsetzt. Auch die Corona-Pandemie hat ein Gefühl für Solidarität herbeigerufen. Erstmals wird über Polizeireformen und überall in Europa über strukturellen »Rassismus« nachgedacht! Marianna

Nicht nur im Osten unerwünscht

Als ich vor 42 Jahren nach West-Berlin zog, galt meine dunkle Haut als Indischstämmige nur als ungewöhnlich. Oft wurde ich auf der Straße gefragt, woher ich käme. Damals spürte ich reine Neugier, keine Ablehnung. Nach dem Fall der Mauer merkte ich rasch, dass eine dunkle Hautfarbe im Osten unerwünscht war. Es gab viele negative Reaktionen: aggressive Bemerkungen über Ausländer, ich wurde in Restaurants »übersehen« oder nicht bedient, in Warteschlangen absichtlich »herausgepickt«, um genauer kontrolliert zu werden.

Nach dem Zuzug vieler Flüchtlinge 2015 erlebe ich eine neue Welle der Feindseligkeit, nicht nur im Osten. In Berlin wiederholt sich nun die Ausgrenzung, die es in früheren Jahrhunderten in ganz Europa gab. Britt

Straßen erinnern an Gräueltaten

Immer noch erinnern einige Straßennamen in Berlin an das alte deutsche Kolonialreich in Afrika. Die Lüderitzstraße, die Petersallee und der Nachtigalplatz sollen umbenannt werden. Namen von Kolonialherren, die für schreckliche Gräueltaten in den deutschen Kolonien in Afrika verantwortlich sind.

Adolf Lüderitz (1834-1886) gilt als einer der Anstifter zum Genozid an den Hereros und Namas (1904-1907). Carl Peters (1856-1918) gründete durch Betrug und Brutalität die Kolonie Deutsch-Ostafrika. Gustav Nach­tigal (1834-1885) legalisierte als »Reichskommissar für Westafrika« die ungesetzmäßige Landnahme in Namibia, Kamerun und Togo. Die Straßen sollen Namen von afrikanischen Widerstandskämpfern bekommen: Hendrik Witbooi (1830-1905), Cornelius Fredricks (1864-1907) und Ana Mungunda (1932-1959).

In Mitte soll der U-Bahnhof Mohrenstraße umbenannt wer­den. Das Wort »Mohr« erinnert an die Verschleppung minderjähriger Afrikaner an den preußischen Hof in Berlin. Nun sollte der Bahnhof nach dem russischen Komponisten Michail Iwanowitsch Glinka heißen. Aber Glinka war wohl veritabler Antisemit. Otmane


Zwei Gedichte von Landouma Ipé

Landouma Ipé ist politische Aktivistin, SpokenWord-Künstlerin und Schwarze Feministin. Foto: privat

Wie befreiend das ist

nicht in diesem Ton / nicht auf die­se Art / nicht gerade jetzt / nicht vor Zuhörern
nicht übertreiben / nicht überreagieren / nicht überinterpretieren / nicht so eine Nichtigkeit
nicht so laut / nicht so radikal / nicht so direkt / nicht schon wieder das gleiche Thema
Umzingelt von dies nicht / und jenes nicht / erinnere ich mich
an den Moment / als ich / Deinen uralten Kerker für mich für immer verließ
an den Moment / als ich / von Deiner Verneinung ward / unabhängig
an den Moment / als ich / mein mich selbst wertschätzendes Ich / aus mir selbst gebar
Unabhängig von dies nicht / und jenes nicht / und wie befreiend das ist / wahrhaftig goldig

Black Lives Matter – An Avid Act

Weil Gewalt an unsren Körpern / für ein Gerücht gehalten wird / ein Gerücht
weil penible Beamte mich migrantisieren / mir einimpfen möchten mich zu integrieren / mich
weil mir täglich graut / vorm Grenzregime das Geschwistern / den Garaus macht gen Meeresgrund / den Garaus
weil deutsche Deals mir / meinen eigenen Vater vorenthielten / meinen Vater
darum ist dies Banner / »Black Lives Matter« / statt »FU Deutschland« / an avid act of anger management / an avid act

 

Erschienen in der gedruckten KuK vom August 2020.

Ungewöhnliche Offenheit

Marie Hoepfner macht eine literarische Entdeckung

»Was du nie siehst« von Tibor Baumann ist ein biographischer Roman mit und über Hansi Mühlbauer. Ob ich ein 378 Seiten langes Buch über das Leben eines fremden Mannes, der weder berühmt noch mir irgendwie bekannt ist, lesen möchte, fragte ich mich beim Aufschlagen. Grenzt es nicht an Voyeurismus, zumal Hansi blind ist?

Nein! Ganz im Gegenteil! In »Was du nie siehst« tauchen wir in die Welt eines blinden Menschen und sein Innerstes ein. Der Titel – im Einband wie Brailleschrift hervorgehoben – spielt auf das Kinderspiel »Ich sehe was, was du nicht siehst« an. Baumann stellt diese beiden Sichtweisen – die des sehenden und die des blinden Menschen – in seinem Roman nebeneinander.

Der Roman erzählt das ganze Leben von Hansi anhand einer fiktiven Woche, die damit be­ginnt, dass Hansi sein Handy mit der Nummer von Alexa, einer tollen Frau, vielleicht sogar seiner große Liebe, verloren hat. Der Leser wird auf die verzweifelte Suche nach dem verlorenen Handy mitgenommen und während dieser Reise mit dem Leben des Protagonisten auf berührende Weise vertraut gemacht.

Johann »Hansi« Mühlbauer bekam mit 2 Jahren beide Augäpfel entfernt, um ihn von einem Retinoblastom, einem bösartigen Augen-Tumor, zu befreien. Von Kind an bis zum beruflichen Werdegang als Physiotherapeut, durchlebt er Phasen der tiefsten Niedergeschlagenheit, aber auch Augenblicke der Hoffnung und des Glückes. Er führt ein vergleichsweise autonomes Leben. Fingerspitzen, Ohren und Intuition ersetzen seine Augen. Er hat einen Job und eine Wohnung. Mit seinen sehenden Freunden führt er zahlreiche Unternehmungen durch, wie Surfen, Klettern, pädagogische Leitung einer Wildnisschule oder das Singen in einer Rockband, mit der er Charitykonzerte organisiert. Sein Leben ist voller Leidenschaft, er bereist die Welt, geht gerne aus, raucht und trinkt, war kurz verheiratet und bandelt gelegentlich mit Frauen an, wenn die Chemie stimmt. Sogar Radio- und Fernsehbeiträge wurden über ihn veröffentlich. Eigentlich ein ganz normaler cooler Typ.

»Was du nie siehst« ist ein wirklich ungewöhnlicher Roman. Nicht nur, dass man die Geschichte aus der Sicht des Protagonisten Hansi erlebt, sondern auch weil der Autor als Ich-Erzähler vorkommt. Literarisch hat Tibor Baumann eine Metafiktion, also einen Roman im Roman, mit einem Literaturhybrid zwischen Fiktion und Biografie geschaffen, in der Protagonist und Autor abwechselnd erzählen. So enthält die Geschichte immer wieder unerwartete Wendungen und Überraschungen und erst zum Ende hin bekommt man ein Gesamtbild.

Mit »Was du nie siehst« hat Tibor Baumann es geschafft, dass man sich als Leser in die Welt eines erblindeten Menschen versetzen kann. Obwohl manche Szenen so absurd anmuten, sind sie so real beschrieben, dass man eine Gänsehaut bekommt. Wie zum Beispiel, als Hansi auf einer Party tastend durch ein mit Menschen gefülltes Zimmer den Dieb seines Handys verfolgt und sich mit ihm prügelt.

In diesem Buch stellt sich der Autor mit ungewöhnlicher Offenheit, Nachdenklichkeit, humoriger Attitüde und »augenzwinkernden« Dialogen diesen aufeinanderprallenden Welten von Blinden und Sehenden.

Ein absolut empfehlenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt. Tiefgründig, dabei aber leicht zu lesen und vor allem spannend. Es waren lange Lesenächte, in denen es mir schwerfiel, dieses Buch aus der Hand zu legen, nachdem ich mich einmal auf die turbulente Achterbahnfahrt durch die Tücken des Alltags mit Hansi, diesem so besonderen blinden Typen, eingelassen hatte.

Tibor Baumann: »Was du nie siehst«, Carpathia Verlag, ISBN 978-3-943709-75-9, Hardcover, 25 Euro. Das Buch ist auch als E-Book erhältlich und erscheint voraussichtlich im Herbst als Braille-Version.
Marie Hoepfner, die Rezensentin, engagiert sich ehrenamtlich im Mitarbeiterkreis des Evangelischen Blindendienstes Berlin der Berliner Stadtmission. Sie begleitet blinde Menschen bei Freizeitausflügen, kulturellen Veranstaltungen sowie bei Workshops und Seminaren in und außerhalb Berlins.

Mehr zum Buch auf der Website des Verlags

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2020.

„Miteinander, füreinander, gemeinsam gegen Corona!“

Marie Hoepfner erklärt, wie mog61 für Zusammenhalt in schwierigen Zeiten kämpft

Wirkt inzwischen sehr fremd, ist aber noch gar nicht so lange her. Dieses Jahr wird es wohl kein mog61-Straßenfest in der MIttenwalder geben. Foto: mog61

Durch die Corona-Pandemie hat sich unser Alltag drastisch verändert. Auch der Verein mog61 – Miteinander ohne Grenzen e.V. ist in seiner Tätigkeit stark eingeschränkt. Alle unsere Aktivitäten sind derzeit bis auf Widerruf ausgesetzt. Aber unser Motto »Miteinander sind wir stark« gilt natürlich umso mehr in Zeiten von Covid-19. Wir möchten in dieser herausfordernden Situation zu einem solidarischen Miteinander und einer verlangsamten Ausbreitung des Virus sichtbar beitragen.

Helfen bedeutet im Moment, auf soziale Aktivitäten zu verzichten. Aber helfen kann man auch kontaktlos:

  • Wir sammeln auf unserer Webseite unter »Miteinander, füreinander, gemeinsam gegen Corona!« gute Beispiele, wie man sich gegenseitig beistehen kann.
  • Durch unser Netzwerk bieten wir Hilfen für Einkauf, Gassi gehen, Müll runterbringen und ähnliches an.
  • Wir koordinieren die Unterstützung im Kiez im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Bei uns melden sich viele Menschen, die sich engagieren wollen.
  • Wie beim Straßenfest bieten wir kleine Fahr-ad-Reparaturen kostenlos an. Fahrräder sind im Moment das Fortbewegungsmittel der Wahl.
  • Wir haben »Gabenzäune« eingerichtet für Spenden an Obdachlose und Bedürftige.

Mund-Nasen-Masken, bunt und kostenlos

In der Corona-Krise gibt es einen großen Bedarf an Atemschutzmasken. Wir starten deshalb ein neues Projekt: Mit dem Stoff, den wir freundlicherweise von dem Geschäft »Die WollLust« in der Mittenwalder Straße erhalten haben, näht Marianne kostenlose Mund-Nasen-Masken.

Um mehr und schneller Masken zu produzieren, suchen wir freiwillige Näher*innen und Helfer*innen, die bei der Herstellung Aufgaben übernehmen können. Folgende Arbeitsteilung ist vorgesehen: Maske zuschneiden, falten, bügeln und Maske fertig nähen. Marianne, die für mog61 das Projekt »Nähen ohne Grenzen« geleitet hat, ist gelernte Schneiderin und begleitet euch bis zu der fertigen Maske.

Achtung: Unsere Masken sind weder geprüft noch zertifiziert. Sie bieten keinen Schutz gegen Covid-19, können aber die Verbreitung von Tröpfchen reduzieren und das Risiko einer Schmierinfektion durch Berührung des Gesichts mit den Händen min-dern. Sie entbinden nicht von der Einhaltung der empfohlenen Hygieneregeln wie Abstand halten und sorgfältiges Händewaschen.

Wem es schon im normalen Leben schwer fällt, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, hat es angesichts von Isolation und Ausgangsbeschränkungen nicht leichter. Außerdem vermissen viele sicherlich auch das tägliche Abend-Bierchen in der Eckkneipe.

Mehrmals die Woche online plaudern

Deshalb wollen wir ohne Körperkontakt zusammenrücken und bieten regelmäßig mehrmals pro Woche online eine Video- oder Audio-konferenz an, bei der die Teilnehmer*innen sich unterhalten, Tipps zu Online-Kulturangeboten oder einfach nur Ratschläge gegen die Langeweile austauschen können. Wir wollen damit den Zusammenhalt fördern, die Nachbarschaftshilfe unterstützen und für Unterhaltung sorgen.

Wir sind füreinander da, wir gestalten und sehen nicht nur zu! Wer Unterstützung anbieten will, selbst benötigt oder einen kennt, der welche braucht, meldet sich bitte unter info@mog61ev.de

→ Zum mog61-Maskenprojekt

→ Zum mog61-Online-Kieztreffpunkt

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2020.

Bloß keine Langeweile

Online-Plattformen können helfen

Der beste Weg, die Ausbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen, ist die Vermeidung von Kontakten, das sogenannte »Social Distancing«. Für Menschen, die wenig verlässliche Freunde haben und Hilfe brauchen, gibt es viele Angebote:

  • Über die Online-Plattform nebenan.de können sich Nachbar*innen recht einfach vernetzen.
  • Bei der Telegram-Gruppe Corona Kreuzberg wird ebenfalls Un-terstützung koordiniert.
  • Wir gegen Corona bringt Hilfsbedürftige und Helfer aus der Nachbarschaft zusammen.
  • Über KreuzbergHilftbeiCorona bei Twitter lassen sich Informationen austauschen.
  • Wer selbst etwas tun will, findet vielleicht bei Vostel eine passende Organisation für sein Online-Volunteering.
  • Ein überaus lebendiger Austausch zu allen Corona-Themen und -Problemen herrscht in der Facebook-Gruppe Corona Help Team Berlin.

»Social Distancing« kann oft auch schlechte Stimmung bedeuten. Irgendwann ist die Wohnung aufgeräumt und dann fällt einem leicht die Decke auf den Kopf. Vor allem für kranke Menschen ist das besonders in diesen schwierigen Zeiten eine Herausforderung.

Wen am Ende dann doch die Langeweile plagt, dem hilft im Netz zum Beispiel

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2020.