Zum Kandidieren verdammt

Der kommende Wahlkampf steckt voller Absurditäten

Lange Schlange vor einem WahllokalZwei Stunden anstehen für nichts. Die Berlin-Wahl vom September 2021 wird wiederholt. Foto: psk

»Ich freue mich ganz unglaublich darauf«, sagt Oliver Nöll und die beißende Ironie ist nicht zu überhören. Als Bezirksstadtrat unter anderem für Bürgerdienste fällt die Vorbereitung für die Wiederholung der Berlinwahl in sein Ressort. An der Person des stellvertretenden Bezirksbürgermeisters lässt sich der ganze Irrsinn dieser Wahlwiederholung ziemlich gut verdeutlichen.

Der ehemalige Spitzenkandidat der Linken muss erneut für die BVV kandidieren, obwohl er als Bezirksstadtrat der BVV gar nicht angehören darf. Seinen Job im Rathaus wird er auch über den 12. Februar hinaus behalten können, denn im Gegensatz zum Senat bleiben die Bezirks­ämter in ihrer Besetzung erhalten – es sei denn, ein Bezirksstadtrat wird mit Zweidrittel-Mehrheit abgewählt. Eine solche Mehrheit scheint gegen keinen Bezirksstadtrat in Friedrichshain-Kreuzberg in Sicht.

Wie er allerdings Wahlkampf führen und gleichzeitig die Wahl vorbereiten soll, ist Oliver Nöll jedoch einigermaßen schleierhaft.

Auch Hannah Lupper muss erneut kandidieren. Die SPD-Kandidatin ist im Wahlkreis 1 angetreten, ausgerechnet gegen Katrin Schmidberger, die Stimmenkönigin der Grünen. »Alle Parteien haben die Wahlplakate schon vor dem Urteil des Landesverfassungsgerichts in Auftrag gegeben«, erzählt Hannah Lupper. Natürlich wird sie sich auch dieses Mal wieder voller Elan in den Wahlkampf stürzen. Ein mulmiges Gefühl hat sie diesmal allerdings schon. Sie wurde von einem Stalker verfolgt und hatte das in der Presse auch öffentlich gemacht. Und ausgerechnet nun wird ihr Gesicht bald wieder auf Hunderten von Wahlplakaten zu sehen sein. Sehr glücklich ist sie bei dem Gedanken nicht. Aber sie ist von Gesetzes wegen verpflichtet anzutreten.

Berlin droht nun der Dauerwahlkampf

Wäre es übrigens nach den gesetzlichen Fristen gegangen, dann hätten in der Heiligen Nacht die ersten Plakate aufgehängt werden dürfen. Die Parteien haben sich aber geeinigt: Nun darf erst ab 2. Januar plakatiert werden. Für Hannah Lupper ist das eigentlich immer noch zu früh. Sie denkt an Wahlkampfhelfer, die in das neue Jahr feiern »und am nächsten Tag auf Metallleitern klettern müssen.«

Wer den neuen Wahlkampf nun eigentlich finanziert, ist weder der SPD-Kandidatin noch dem Bezirksstadtrat von der Linken klar. Wie das mit der Wahl­kampf­kos­ten­rück­er­stattung aussieht, weiß derzeit wohl niemand genau.

Es ist nicht die einzige Frage, die bislang noch ungeklärt ist. Ist eine beantwortet, so scheinen sich gleich zwei neue zu stellen. Sowohl Hannah Lupper als auch Oliver Nöll erinnern allerdings auch daran, dass diese Situation einzigartig ist. Noch nie hat in Berlin eine komplette Wahl wiederholt werden müssen. »Es gibt einfach keinen Präzedenzfall«, meint Oliver Nöll.

Er kann zwar davon ausgehen, dass er Bezirksstadtrat bleibt, doch was geschieht, wenn die SPD die Linke überholt? Wird dann Kollege Andy Hehmke stellvertretender Bezirksbürgermeister? Oliver Nölls offene Antwort: »Ich weiß es nicht.«

Hannah Lupper treibt derweil noch eine ganz andere Frage um. Sie rechnet vor, dass nach der Berlinwahl im Jahr darauf die Europawahl, dann die Bundestagswahl und danach schon die nächste reguläre Berlinwahl folgen. »Wir haben dann fünf Jahre jedes Jahr Wahlkampf. Und im Wahlkampf wird keine Politik gemacht«, meint sie und befürchtet nun den völligen politischen Stillstand.

In einem sind sich parteiübergreifend wohl die meisten Akteure einig: Das ist ein Wahlkampf, den niemand wirklich will.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2022.