Was wird aus dem Graefekiez?

Bislang 80 Parkplätze umgewidmet

Hölzerne Stadtmöbel auf einem ehemaligen Parkplatz; davor in zweiter Reihe ein AutoDiese Parkplätze sind jetzt eine »Kiez-Terrasse« – vor der in zweiter Reihe geparkt wird. Foto: cs

Seit rund einem Jahr läuft das »Projekt Grae­fe­kiez«, im Rahmen dessen ein Großteil der dort vorhandenen Parkplätze wegfallen beziehungsweise »umgewidmet« werden soll. Nachdem das ursprünglich für die Maßnahme angedachte Areal zunächst auf ein »Kerngebiet« (der L-förmige Abschnitt aus westlicher Böckhstraße und der Graefestraße bis zur Dieffenbachstraße) eingedampft wurde, stellt sich nun die Frage, wie es weitergehen soll. Konkret geplant sind bislang nur Durchfahrtsperren an der Schönleinstraße westlich des Hohen­stau­fen­plat­zes sowie die Einführung einer Park­raum­be­wirt­schaf­tung ab Oktober. Für weitere Maßnahmen fehlt es nach dem Wegfall von Senatsmitteln derzeit an Geld im Bezirkshaushalt.

Das dürfte vor allem diejenigen freuen, die die Reduzierung von Parkplätzen ohnehin mit Argwohn beobachten.

»Schon der Beginn der Maßnahmen hat zu einer Beschwerdelage bei mir geführt«, sagt Sozialstadtrat Oliver Nöll. Er würde sich wünschen, dass die Betroffenen, also insbesondere Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und Pflegebedarf, stärker in die Beteiligung mit einbezogen werden. »Eine sinnvolle Verkehrswende kann nur mit Akzeptanz der Menschen durchgeführt werden.«

Im erwähnten Kerngebiet sind bislang rund 80 Stellplätze weggefallen. Die Hälfte davon wurde entsiegelt und teilweise in Kooperation mit Anwohnern bepflanzt. 32 Parkplätze sind als Bereiche für Liefern und Laden ausgewiesen und dürfen nur noch halbstundenweise beparkt werden. Einige weitere werden als Parklets genutzt oder sind zu Fahrradstellplätzen umgewidmet worden.

Aber reichen die Kurzzeitparkplätze aus, um den Bedürfnissen etwa von Pflegediensten gerecht zu werden? An dieser Frage scheiden sich derzeit die Geister.

Bericht weist auf Kommunikationsprobleme hin

Gundel Riebe ist seit über dreißig Jahren im Berliner Mieterverein aktiv, sitzt im Vorstand der Seniorenvertretung und im Stadtentwicklungsausschuss des Bezirks. Sie glaubt nicht daran, dass wirklich alle Stimmen von Betroffenen gehört wurden. »Die Sauerei ist im Grunde genommen bei all diesen Sachen, dass die sogenannten Bürgerbeteiligungen im Prinzip nicht stattfinden«, sagt sie und denkt dabei auch an ähnliche Fälle in Friedrichshain, bei denen Befragungen im Rahmen von temporären Spielstraßensperrungen an Sonntagen stattgefunden hätten. Da sei es kein Wunder, wenn man nur positive Stimmen sammle.

Tatsächlich weist auch der Bericht des vom Bezirksamt mit der Bürgerbeteiligung beauftragten Vereins paper planes e.V. darauf hin, dass nicht immer alle Anwohner erreicht wurden. Zwar seien alle Altersgruppen bei den angebotenen Sprechstunden vertreten gewesen, jedoch nur wenige Personen mit Migrationshintergrund. »Da vor allem der südliche Teil des Graefekiez einen höheren Anteil an türkisch und arabisch sprechenden Menschen aufweist, wäre eine Person mit eben diesen Sprachkenntnissen erforderlich gewesen, die jene Bürger:innen spezifischer hätte abholen können«, heißt es in dem Bericht. Bezeichnend darin ist auch die Passage, in der es um die Kommunikation mit der Öffentlichkeit geht. Dabei sollte »eine neutrale Wortwahl bevorzugt werden, in der das Potenzial der Umgestaltung für die Anwohnenden ebenso berücksichtigt wird, statt nur den Verlust von Parkplätzen zu thematisieren.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2024 (auf Seite 1).

Agåta, 82, ist jetzt j-fidel

Ein 40-jähriges Kneiperleben ist zu Ende / von Joachim Mühle

Da steht sie zum ersten Mal vor dir. 76 Jahre ist sie alt, hast du dir sagen lassen, und wird wohl bald aufhören zu arbeiten. 1,60m groß, so dass sie kaum über den Tresen schauen kann; rot-orange gefärbtes Haar; eher klapprig als drahtig, mit kaputter Hüfte. Kein heißer Feger ist sie, das siehst du; sondern ein Besen, das hörst du, wenn sie ihre ersten Sätze spricht, in ihrem unnachahmlichen Marika-Rökk-Slang mit den vielen ås und äs. Wenn sie dir gleich zu Beginn des ersten Gesprächs unmissverständlich klarmacht, dass ihre Kneipe zwar »Agatha« heißt, sie selber sich im Deutschen aber »Agata« schreibt und »Agåta« (fast schon »Agota«) spricht. Ein Transkriptionsproblem aus dem Ungarischen.

»Wer soll denn da kommen?« Agåta Plath mit Gast-Gastwirt Joachim Mühle beim »Valentinstag«.

Foto: fh»Wer soll denn da kommen?« Agåta Plath mit Gast-Gastwirt Joachim Mühle beim »Valentinstag«. Foto: fh

Am 20. Juni 1933 ist sie in Budapest geboren. Das Land hat sie schon Anfang der 50er verlassen; unter Zurücklassung aller sozialen Kontakte, auch einer Tochter. Auf Umwegen ist sie in Westberlin gelandet, hat sich mit Gelegenheitsjobs und einer Änderungsschneiderei über Wasser gehalten. Und dann, Anfang der Siebziger, kam Raimond Schröter. Zusammen haben sie das »Agatha« in der Jahnstraße aufgemacht. 2005 hat Raimond sie verlassen. Herzinfarkt. 2014 hat das »Agatha« aufgehört zu existieren. Kiezinfarkt (neudeutsch: Immobiliendruck). Und jetzt, Mitte Juli, hat Agåta Plath hingeschmissen. Halb freiwillig, Hirntumor, exitus. Aber der Reihe nach.

Was waren das für Zeiten, Anfang der Siebziger. Die Studentenunruhen waren vorbei. Manche ihrer Teilnehmer ließen sich im gutsituierten Charlottenburg oder Dahlem nieder und bereiteten sich auf die Professur vor, andere auf den Untergrund. Bewegung 2. Juni, Ermordung des Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann, Entführung des CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz. Was von der Studentenbewegung noch so blieb, waren die ganzen Kneipen. Die »Dicke Wirtin« gibt es heute noch. Aber das war weit weg von Kreuzberg, vor allem in Charlottenburg. TU-nah eben. In Kreuzberg und den angrenzenden Ecken Neuköllns gab es auch Kneipen. Die klassischen Schultheiss-Engelhardt-Kindl-Eckkneipen, die gerade vor der ersten Welle des Kneipensterbens standen, weil ihre traditionellen Gäste, Handwerker und Industriearbeiter, wegzuziehen begannen in die Komfortwohnungen der neuen Großsiedlungen. In die Substandard-Wohnungen Kreuzbergs zogen Türken und Studenten. Die »Kreuzberger Mischung« erfuhr eine neue Belebung, an der auch Agåta Plath und Raimond Schröter teilhaben wollten.

Ihre Idee: die erste Studentenkneipe Kreuzbergs. Und am 15. März 1974 eröffnete das »Agatha« in den Räumen einer uralten Speisegaststätte. In der kleinen, ruhigen, südlichen Verlängerung der Schönleinstraße war das, zwischen Urbanstraße und Hasenheide, Jahnstraße 15, die deshalb so heißt, weil sie direkt auf das Turnvater-Jahn-Denkmal am nordöstlichen Rand des Volksparks zuläuft. Agåta machte die Küche, Raimond den Tresen. Ihr Konzept – eine duster-plüschige Atmosphäre, preiswerte Speisen und Getränke für die jungen Leute, viel Qualm und rockig-bluesige Musik – ging auf und war stilbildend für alles, was sich in der Folge rund um Hermannplatz und Südstern ansiedelte.

Dank Jukebox, Dart, Kicker und Billard, der herzlich-rauen Art des Wirtes und der ungarisch beeinflussten Kochkunst der Wirtin war die Bude immer voll. Bis Mitte der Achtziger wohnten die Beiden auch noch in ihrem Laden, mit Schäferhund. Durchs rechte Fenster sah man den Tresen, durchs linke die weinroten Samtvorhänge, die den Privatbereich markierten. »Wie ein Puff wirkte es auf Leute, die sich nicht auskannten.« Irgendwann erzählte Agåta ihren Gästen, dass sie Wandteller und Handpuppen gerne mag. Von da an wurde der Laden damit zugepflastert. Von allen Wänden hingen die mehr oder weniger geschmackvollen Keramikteile und von der Decke jeden Quadratmeter ein halbmetergroßer Staubfänger. Aber genau das und das knallrot lackierte Tresenbuffet, ein uraltes, riesiges Apothekenregal, machte die Kneipe unnachahmlich.

Über dreißig Jahre lang war alles gut, mit den üblichen Höhen und Tiefen. Die Wirtsleute wohnten längst im Nachbarhaus in einer richtigen Wohnung, als eines Tages Raimond nicht zur Arbeit erschien. An diesem 5. Januar 2005 fand Agåta ihren Mann tot im Flur ihrer Wohnung. Herzinfarkt. Aus und vorbei. Agåta stürzte erst in ein tiefes Loch und dann sich selber in neue Aufgabenfelder. Mitarbeiter hatte es in all den Jahren nur zwei gegeben: Ingrid und Thomas, nach seinem Hund Cato-Thomas genannt. Agåta musste sich nun um alles kümmern, auch das, was ihr nicht so lag, und immer Raimonds Domäne gewesen war: der lockere Plausch am Tresen. Agåta war nicht der joviale Typ, sondern eher die Zicke. Diese Überforderung spürte sie, und sie ließ es ihre Gäste spüren. Ihr selbst ging es nicht gut, und manchen Gast vergraulte sie. Aber sie hatte auch neue Ideen, mit denen sie ihren Stamm zusammenhielt: Live-Auftritte junger Nachwuchsmusiker zwischen 15 und 55 etwa, oder die im jahreszeitlichen Wechsel stattfindenden Muschel-, Eisbein- und Gänseessen. Legendär sind ihre, dem ungarischen Gehör geschuldeten Stilblüten, wie »j-fidel«, wenn sie »j.w.d.« meinte, oder wenn sie etwas in ihren Laptop »einspeichelte« (einspeicherte). Leider nehmen aber die altersbedingten gesundheitlichen Probleme zu. Die gute Agåta ist mittlerweile über siebzig! Als am 1. Januar 2008 das Berliner Nichtraucherschutzgesetz in Kraft tritt, ist mit der Küche Schluss. Denn eines ist für Agåta, die Kettenraucherin, klar: die Luft in ihrer Kneipe muss rauchgeschwängert sein, sonst wäre es ja keine Kneipe mehr.

Und so lerne ich Agåta ein gutes Jahr später kennen. Sie: ein Jever light in der Linken, eine Zigarette (Aldi No. 7) in der Rechten; orange-rote Haare auf dem Kopf und kratzbürstige Haare auf den Zähnen; humpelnder Gang, weil die Hüfte gar nicht mehr mitspielt. Ich muss demnächst sanierungsbedingt das »Gasthaus Valentin« schließen und suche ein Übergangsquartier für meine Gäste, meine Mitarbeiter und mich. Stammgäste beider Lokale haben uns zusammengebracht. Agåtas Laden läuft nicht mehr, weil sie nicht mehr kann. Aber sie kann und will nicht loslassen. Ihre Augen blitzen misstrauisch: »Ihr kriegt mich hier nicht lebend raus!« Ich will sie ja gar nicht raushaben, sondern schildere ihr meine Idee: Immer donnerstags soll in ihrer Kneipe »Valentinstag« als Treffpunkt meiner treuen Stammgäste sein. Sie findet die Idee witzig aber bescheuert. »Wer soll denn da kommen?« – aber wenn es ihr ein paar Euro mehr in die Kasse bringt… Wir einigen uns, legen nach ein paar Wochen los und aus den geplanten zwei bis drei Monaten »Exil-Valentin« wird ein dreiviertel Jahr. So lange dauert es auch, bis wir uns zusammengerauft haben. Erst mag sie es gar nicht, wenn Anna, Astrid und ich hinter ihrem Tresen stehen – auch wenn wir ihr nur ihre Arbeit erleichtern. Aber irgendwann siegt die Bequemlichkeit über den Starrsinn. Donnerstags, wenn wir da sind, thront sie auf dem Barhocker am Tresenende und überwacht mit flinken Augen das Geschehen. Als im Frühjahr 2010 das neue »Gasthaus Valentin« in der Hasenheide eröffnet, bleibt der Kontakt zwar bestehen, aber arbeitsbedingt werden die Besuche im »Agatha« immer seltener. Und sie selber kriegt, trotz mehrfacher Einladung und angebotenem Fahrservice »ihren Hintern nicht in die Höhe« – was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Denn die Probleme mit der Hüfte und dann auch den Beinen werden immer größer. Es folgen mehrere kurze Krankenhausaufenthalte, aber verbissen macht sie weiter, proklamiert ein großes Ziel: den vierzigsten Jahrestag ihrer Gaststätte zu schaffen. Was ihr bis auf wenige Wochen auch gelingt. In den letzten Jahren ist im Zuge der Internationalisierung von »Kreuzkölln« auch wieder neues, jüngeres Publikum in ihren Laden geströmt. Aber da ist es für das wirtschaftliche Überleben schon zu spät. Eine vom Vermieter geforderte Mieterhöhung kann sie sich nicht leisten. Nach einer einjährigen »Gnadenfrist«, die sie durch das Engagement von Hausnachbarn eingeräumt bekommt, kommt Ende Februar 2014 das endgültige Aus fürs »Agatha«. Und Agåta?

Agåta Plath verlässt ihre Wohnung nur noch zu Arztbesuchen oder wenn Sie wieder einmal ins Krankenhaus muss. Ich besuche sie Mitte Juli 2015 noch zweimal im Klinikum Friedrichshain. Lungenkrebs mit Metastasen am Gehirn, die eine Lähmung der linken Körperhälfte bewirken. Vom Mundwerk her ist Agåta noch ganz die Alte. Ob es um die Krankenpflege oder das Essen geht – sie schimpft wie ein Rohrspatz. Aber dann muss sie erfahren, dass sie wohl zeitlebens halbseitig gelähmt bleiben wird und an ein gewohntes Leben in ihrer Wohnung nicht zu denken ist. Das nimmt ihr, so scheint es mir, die Illusionen, die sie bis dahin hatte. Sie wird noch in das Pflegeheim Bethesda in der Dieffenbachstraße überstellt, aber ein Pflegefall wollte sie nie sein. Jetzt lässt sie los und stirbt friedlich am 19. Juli 2015 im Alter von 82 Jahren.

Einmal wird Agåta noch umziehen, nach j.w.d. – j-fidel wie sie selbst gesagt hätte. Am 8. September 2015, um 14:00 Uhr, findet ihre Beisetzung auf dem Kirchhof Gottlieb-Dunkel-Straße 28/29 in Tempelhof statt.

Agåta-Deutsch richtige Bedeutung
j-fidel j.w.d.
Kalderwelsch Kauderwelsch
einspeicheln einspeichern
ab und da ab und an
Hutkrempel Hutkrempe
Australianer Australier
hilfslose Person hilflose Person
aus Jux und Toleranz aus Jux und Tollerei
Bingo Bells Jingle Bells (Lied)
Kleinkanone Kleinganove
…bis der Tag lang ist …wie der Tag lang ist
Solidar Solitär
auf den Dott gehen auf den Docht gehen
Römische Dörfer Böhmische Dörfer
auf dem Kerbel haben auf dem Kerbholz haben
Baukolonie Baukolonne
Ölmandant Ölmagnat
Ost-Regie Ostregime
Inquisition Invasion
zusammen kluckern zusammen glucken
Clichvertrag Knebelvertrag
inkonsequent inkontinent
Das Agåta-Glossar

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2015.