Lenau-Abriss vor dem Aus?

Als Reaktion auf unsere neue Rubrik „Wildes Kreuzberg“ erreichte uns der nachfolgende Beitrag, der von unserem Leser Wolfgang Keller verfasst wurde.

Die Kreuzberger Nostitzstraße ist keine Flaniermeile, aber trotzdem eine Adresse. Nämlich die der Lenau Schule. Sie steht vor dem Abriss. Kann die Beobachtung eines Anwohners die Abrisspläne ins Wanken bringen?

Er hatte früher als andere erfahren, was der Schule blühte. Um sich den liebgewonnenen Anblick so lange als möglich zu gönnen, verstärkte er seine Spaziergangsaktivitäten und erlebte eines schönen Sonntags, vor dem schmiedeeisernen Tor zum großen Schulhof, was noch niemand erlebt hatte.

Eine Feuerwanze schritt aufrechten Ganges dem Tor zu, unterquerte es, tat einen deutlich hörbaren Seufzer und brach nach circa zwanzig Zentimetern tot zusammen.

Ein selten Tier, dachte der nun interessierte Anwohner. Dann legte er eine Schweigeminute ein.

Da er vor Wochen in der BZ gelesen hatte, wie eine aufgefundene Knoblauchkröte den Schulneubau am Koppelweg in Neukölln verhindern könnte, sah er seine Chance für bürgerliches Engagement gekommen und benachrichtigte das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Er schilderte ausführlich seine Beobachtung und fügte zugleich die Bitte an, gemäß Koppelweg, jedwede Abriss- oder Baumaßnahme ad acta zu legen, da ja bislang niemand wisse, was er in der Streichholzschachtel nach Haus getragen habe. Denn er selbst habe sich als engagierter Bürger inzwischen darüber informiert, dass die gemeine Feuerwanze ein stummes Krabbeltier sei, also ausscheide. Dass der Leichnam der allgemein bekannten und verbreiteten Feuerwanze zum Verwechseln ähnle, besage gar nichts. Mit engagiertem Gruß.

Es meldete sich telefonisch der wissenschaftliche Dienst des Bezirksamts und bat um Übersendung des Corpus. Der wurde in wattierter Streichholzschachtel zugesandt. Der mittlerweile stark interessierte Anwohner erhielt zwei Monate später die Streichholzschachtel samt Bericht zurück. Darin hieß es, dass es sich zweifelsfrei um die gemeine Feuerwanze (Pyrrhocoris apterus) handle, welche nicht unter Artenschutz stünde, somit auch keine Verzögerung der Baumaßnahmen angeraten sei. Vielmehr würde sich die Nachbarschaft sicher erleichtert zeigen, wenn die Käfer wegen der Baumaßnahmen aus dem Wohngebiet verschwänden, da Schädlinge, wie der Name schon sage, Schäden anrichten. Mit freundlichem Gruß.

Der stark interessierte Anwohner erkannte sofort, dass er mit seiner Beobachtung bei den Falschen gelandet war. Erstens war die Identifizierung falsch, zweitens sind Feuerwanzen keine Käfer und drittens fristen Feuerwanzen ihr Dasein bestenfalls als Lästlinge.

Der nunmehr sehr stark interessierte Anwohner wandte sich an Professor Lex Parker von der Hawaiʻi Pacific University in Honolulu, als einen Spezialisten von Weltruf. An dessen Institut gehen täglich dutzende Feuerwanzenfotos ein mit Variationen der Rückenzeichnung. Immer verknüpft mit der Hoffnung, eine neue Art entdeckt zu haben. Leider sind die Rückenvarianten der gemeinen Feuerwanze dermaßen zahlreich – bis hin zu einfarbig roten Exemplaren –, dass Prof. Lex Parker über Jahre nichts Neues unter die Augen gekommen war.
Anders der Brief aus Deutschland. Auch ohne Foto, versprach die Nachricht neue Erkenntnisse. Professor Parker antwortete umgehend.

Lieber Freund der Naturwissenschaften aus der Nostitzstraße,

Ihr Brief elektrisiert mich. Ich muss das Tier unbedingt unter meine Lupen nehmen. Her damit! Sorgen Sie für schadfreien Versand. Hier einige Hinweise, die sich bewährt haben.

  • Wärmedämmung.
  • Dampfsperre mittels Antidampffolie.
  • Gegen Durchbohren und Durchstoßen hilft nur Metall.
  • Der äußere Mantel hingegen aus Holz. Schraubsysteme sind immer besser als Stecksysteme.
  • Die Ausbreitung von Schall wird mittels Ultraschall-Longitudinalimpulsen gemessen. Tun Sie etwas in der Richtung. Auch Schall kann schädigen.
  • Und unbedingt beachten: Die äußeren Maße des Versandguts müssen kleiner sein als die der engsten Stelle, die während des Transports durchquert werden muss. Ist einfacher, als es sich anhört. Das kennen Sie vom Briefschlitz, old fellow. In ihrem Fall sind Breite und Höhe meiner Labortür zu beachten. Stellen Sie sich einen ausgewachsen Menschen vor. Geben sie nach oben zwei Köpfe dazu. Die Breite ergibt sich, wenn jener Mensch beide Ellenbogen nach außen spreizt.

Lex

Der liebe Freund der Naturwissenschaften aus der Nostitzstraße interpretierte Lexens Katalog als Soll-, nicht als Muss- Festlegungen.

Immerhin entfernte er nach langem Zögern die Trommel aus seiner guten alten Miele, stopfte Zeitungspapier hinein, drückte in die Mitte die Streichholzschachtel mit der Wanze, steckte die Trommel in einen blauen Müllsack und nagelte eine Holzkiste drumherum, die er mit Packpapier einschlug, das er wiederum mit Klebeband bändigte. Für 141,99 Euro ging das Premium-Paket ab in Richtung Honolulu. In die Zollinhaltserklärung schrieb er Waschmaschinentrommel Made in Germany. Das sollte durchgehen. Ging es auch.

Als das Paket auf dem Labortisch in Honolulu lag, arbeitete sich Prof. Lex Parker bis zur Streichholzschachtel im Innern der Trommel vor. Dann endlich lag die Wanze vor ihm.

Dem Hinweis auf den aufrechten Wanzengang ging er nach, indem er die Hinterbeine unter die Lupe nahm. Er entdeckte umfänglich aufgebaute Muskulatur. Eine ebenfalls nie beobachtete trichterförmige Verbindung vom Labium zum Pronotum, die sich grob umgangssprachlich als Megaphon bezeichnen ließe, erklärte das hörbare Seufzen. Die Fachkollegen am Institut waren der einhelligen Auffassung, eine neue Wanzenart auf dem Seziertisch des Chefs gesehen zu haben.

Prof. Lex Parker bereitete einen Aufsatz für den New Scientist vor, dem er den Arbeitstitel Die Wanze als seufzender Wandersmann gab.

Vorab teilte er dem Kreuzberger brieflich in groben Zügen das Obduktionsergebnis mit, dankte ihm und versprach namentliche Erwähnung im Aufsatz.

Der weiterhin sehr stark interessierte Anwohner berichtete triumphierend dem Bezirksamt, welches daraufhin mitteilte, dass man in den Nachtragshaushalt selbstverständlich einen sehr, sehr angemessen Betrag einstellen würde, um die ungemein wissenschaftlichen Bemerkungen jenes Herrn Lex Barker zu überprüfen, der sich vielleicht besser um Winnetou als um auf zwei Beinen laufende, seufzende oder singende Wanzen kümmern möge. Das Schreiben faxte der empörte Kreuzberger umgehend nach Honolulu.

Als der Professor las, wie mit seinem Namen und seinen Forschungen umgegangen wurde, gruppierte er einen Stab von Mitarbeitern um sich und buchte nach Europa. Von zwei US-Kamerateams begleitet, traf die Gruppe mit dem sehr stark interessierten Anwohner vor dem schmiedeeisernen Tor zum großen Schulhof der Lenau Schule zusammen.

„Nice to meet you, old fellow.“

Prof. Lex Parker ließ sich nun die genaue Lauf-, nein, die Gehrichtung der Wanze anzeigen und markierte den Todesort mit einem weißen Kreidekreuz. Dann gab er eine Probe seines detektivischen Spürsinns. Da das Kreuz außerhalb des Schulgeländes liege, die Wanze aber das schmiedeeiserne Tor unterquert habe, könne dass das Tier kein Zu-, sondern müsse ein Abwanderer gewesen sein. Mithin habe der Schulhof als Habitat zu gelten, wo weitere Population jener bis dato vollkommen unbekannten Wanzenart zu vermuten sei, konstatierte er.

Vor laufenden Kameras forderte er im Namen der Wissenschaft, den Schulbesuch vorfristig einzustellen und jegliche Baumaßnahmen zu unterlassen. Er schlug vor, das Gelände blickdicht einzuhegen und im zweiten Stock des Schulgebäudes eine Forschungsstation mit Ausblick auf den Hof einzurichten.

Dann nahm er eine inzwischen angefertigte Lageskizze zur Hand und zeichnete einen Quigong-Platz auf dem Gelände ein. Um des lieben Friedens habe es sich bewährt, der Nachbarschaft ein Angebot zu machen, erklärte er. Dieser Chinasport würde die Tiere, anders als Eishockey oder Baseball, nicht zermürben, fügte er an, um sich dann wieder der Skizze zuzuwenden.

Er markierte auf dem Schuldach, auf dem Dach der Turnhalle und auf den Dächern der rechts und hinten anliegenden Wohngebäude etwa drei Dutzend Orte, wo jene Dächer mit Scheinwerferbatterien zu bestücken seien, um werthaltige Nachtforschung zu ermöglichen. Zu diesem Punkt der Ausführungen wollte der sehr stark interessierte Anwohner einen zarten Einwand erheben, kam aber nicht dazu.

Außerdem seien Richtmikrofone und Bewegungsmelder auf dem Gelände zu installieren, fuhr Prof. Lex Parker fort. Die Crew sei außerdem mit transportablen Großlupen auszustatten, wobei er seine eigene aus der Tasche zog, in die Kameras hielt und verkündete, noch heute die Weltnaturschutzunion, IUCN, zu informieren.

Als Prof. Lex Parker per Räuberleiter das schmiedeeiserne Tor zwecks Begehung des Geländes erklomm, wurde ihm der finale Absprung hausmeisterlicherseits untersagt, da er als schulfremde Person eingestuft wurde. Selbst der Hinweis, dass die TV-Reportage in den USA from coast to coast laufen würde, änderte daran nichts.

Wir bleiben am Ball.

Schlechte Aussichten für die gute Aussicht

Schöneberg setzt den Bewohnern der Eylauer Straße Eigentumswohnungen vor die Nase

Nur noch Brennholz. Foto: BI Viktoriakiez

Am Bahngraben zwischen Kolonnen- und Monumentenbrücke kreischen die Kettensägen. Die Bäume sollen Wohnhäusern weichen, und zwar zunächst je einem Eckhaus an der Monumenten- und Dudenstraße. Später sollen die Eckhäuser durch einen geschlossenen Riegel von weiteren Häusern verbunden werden, an die 30 Meter hoch, fast 300 Meter lang. Über 200 Eigentumswohnungen sollen hier entstehen, die dann laut einem Bericht der »taz« für Quadratmeterpreise zwischen 2.700 und 4.000 Euro verkauft werden sollen.

Zwar liegt das Gelände »am Lokdepot« – so der Name des Bauprojekts, für das die Projektentwicklungsgesellschaft UTB verantwortlich zeichnet – auf Schöneberger Gebiet, aber die Auswirkungen werden wohl zunächst Kreuzberger zu spüren bekommen.

Die Bewohner der Eylauer Straße wollen sich nicht damit abfinden, dass ihre luftigen, sonnigen, zur Bahntrasse offenen Hinterhöfe bald von einem »Betonklotz«, verschattet werden, und haben bereits 2010 die Bürgerinitiative »Eylauer Straße im Viktoriakiez« gegründet. Damals nämlich wurden die ersten Pläne bekannt, die die Bebauung des Geländes vorsahen, und eigentlich hatte es Ende 2010 so ausgesehen, als wäre das Thema vom Tisch, denn die Mehrheit der BVV Tempelhof-Schöneberg hatte sich gegen das Projekt ausgesprochen.

Ende 2011 aber wurde ohne weitere Einbeziehung der Politik oder der Bürger vom Leiter des Schöneberger Stadtentwicklungsamtes, Siegmund Kroll, eine Baugenehmigung für die beiden Eckhäuser erteilt. Kroll berief sich dabei auf §34 des Baugesetzbuches, der dies beim Einfügen in »die Eigenart der näheren Umgebung« und einer gesicherten Erschließung« auch ohne Bebauungsplan zulässt. Experten aus dem Umfeld der Bürgerinitiative zweifeln an, dass dieser Paragraph hier greift.

Die Gerüchteküche im Kiez munkelt, die Zusage des neuen Investors, die über die letzten Monate auf dem Gelände gewachsene illegale Mülldeponie auf seine Kosten zu beseitigen (es ist die Rede von bis zu 80.000 Euro), habe den Ausschlag gegeben, dass die Baugenehmigung so schnell und unbürokratisch erteilt wurde.

Nicht einmal das Juchtenkäferargument zieht

Dementsprechend war die gemeinsame Sitzung der Stadtplanungsausschüsse von Friedrichshain-Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg Anfang Februar so gut besucht, dass die Sitzplätze knapp wurden.

Als dann der Schöneberger Ausschussvorsitzende Reinhard Janke (SPD) aufgrund der fortgeschrittenen Zeit (zuvor war bereits über das ähnlich kontroverse Bauprojekt »Hellweg-Baumarkt« am Yorckdreieck verhandelt worden) einer Bürgerin aus der benachbarten Anwohnerinitiative »Flaschenhals/Bautzener Straße« das Rederecht verweigerte, war die Empörung groß. Anders als die Friedrichshain-Kreuzberger schreibt nämlich die Tempelhof-Schöneberger BVV-Geschäftsordnung kein grundsätzliches Rederecht für Gäste fest.

Der Schöneberger Bezirksverordnete Michael Ickes (Piraten) fand eine kreative Möglichkeit, diese Entscheidung zu unterlaufen und wiederholte jeden Satz der Bürgerin als eigenen Redebeitrag. Dies veranlasste Versammlungsleiter Janke dazu, die Sitzung abzubrechen.

Derselbe Pirat Ickes zog dann wenig später die Artenschutzkeule und formulierte einen Antrag an die BVV Tempelhof-Schöneberg, in dem er die Aussetzung der bauvorbereitenden Baumfällgenehmigung forderte, und zwar aus Rücksicht auf die in den Kellern der Eylauer Straße überwinternden Fledermäuse, die bei größeren Temperaturschwankungen gerne ihre Quartiere zu wechseln und in Baumhöhlen einzuziehen pflegen.

Aber Berlin ist nicht Stuttgart, und Fledermäuse sind keine Juchtenkäfer, und so war dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt. Zunächst wurde der Antrag in den für Fledervieh zuständigen Ausschuss für Verkehr und Grünflächen überwiesen, und auf der am 21. Februar in der Robert-Blum-Schule stattfindenden Informationsveranstaltung wurde nur noch lapidar verlautbart, dass der hinzugezogene faunistische Gutachter keine Fledermäuse wahrgenommen habe und im Übrigen auch die auf dem Gelände nistenden Singvögel gleichwertigen Wohnraum in der Nachbarschaft finden würden.

Zwei Tage nach der Informationsveranstaltung kamen die Bagger und Kettensägen und schufen vollendete Tatsachen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2012.