Abschied und Neustart

Die Kiez und Kneipe feiert ihr 20. Jubiläum

Neun Ausgaben der Kiez und Kneipe liegen aufgefächert daInsgesamt 240 Ausgaben der Kiez und Kneipe sind in den letzten 20 Jahren erschienen. Foto: cs

Als am 3. Dezember 2004 die erste Ausgabe der Kiez und Kneipe erschien, ahnte wohl niemand – auch nicht Gründer und Chefredakteur Peter S. Kaspar –, dass das ambitionierte Projekt so viele Jahre bestehen würde. Zwei Jahrzehnte später sind mit dieser Ausgabe 20 Jahrgänge komplett!

Das ist auch ohne Eigenlob und ganz objektiv betrachtet eine ziemlich beachtliche Leistung, insbesondere wenn man bedenkt, dass die KuK immer wieder mit finanziellen und personellen Engpässen zu kämpfen hatte. Denn – wer hätte das gedacht? – Zeitungmachen kostet Geld und ist Arbeit. Arbeit, die bei der KuK ganz überwiegend ehrenamtlich erbracht wird, sozusagen als Service für den Kiez. Umso dankbarer sind wir allen Mitstreitern der letzten 20 Jahre, vor allem aber auch unseren treuen Anzeigenkunden, die das Projekt schon so lange unterstützen.

Nach 20 Jahren ist aber auch Zeit für ein paar Veränderungen: Peter S. Kaspar wird die Kiez und Kneipe mit der Fertigstellung dieser Ausgabe verlassen – seine Abschiedsworte lest Ihr hier – und in neue Hände übergeben.

Wobei: So »neu« sind die Hände dann doch nicht, denn Cordelia Sommhammer und Robert S. Plaul, die das Blatt künftig weiterführen werden, sind bereits seit 2008 in der Redaktion, sodass für die Kontinuität gesorgt sein wird. Keine Angst also: Die KuK wird nicht vierspaltig und bunt!

Wir werden in nächs­ter Zeit aber an einigen Stellschrauben drehen und ein paar überfällige Modernisierungen umsetzen. Dazu gehört auch der Verzicht auf die Redaktionsräume in der Fürbringerstraße – in Zeiten von Videocalls und steigenden Kosten ein entbehrlicher Luxus, vor allem, da die KuK seit Corona ohnehin größtenteils verteilt in mehreren (Home-)Offices entsteht. Natürlich ist ist das gedruckte Heft weiterhin an rund 120 Verteilstellen im Kiez zu haben.

Kiezzeitung sucht Mitstreiter und Unterstützer

Mit der »Virtualisierung« der redaktionellen Arbeit wollen wir es vor allem aber auch einfacher machen, sich bei uns zu beteiligen, auch abseits fester Termine an konkreten Orten. Denn nach wie vor lebt die Kiez und Kneipe vom Mitmachen. Wenn Du also Lust hast, mit uns die Zukunft Deiner Lieblingskiezzeitung zu gestalten und nebenbei etwas über journalistisches Arbeiten zu lernen, dann melde Dich unter info@­kiezundkneipe.de!

Unter der gleichen Adresse nehmen wir auch jederzeit gerne Feedback unserer Leserinnen und Leser entgegen. Habt Ihr Verbesserungsvorschläge, Anregungen, Wünsche? Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, all das loszuwerden, denn wir machen die KuK ja für Euch und nicht für uns. Schreibt uns ruhig, was Ihr nicht so gut oder einfach nur doof findet, wir wollen auch das wirklich gerne hören!

Das Gleiche gilt natürlich für überschwängliche Jubiläumsgratulationen, schamlose Lobhudelei und sons­tige Sympathiebekundungen. Eine schöne Möglichkeit, seine Wertschätzung für die KuK zu zeigen, besteht übrigens darin, uns finanziell unter die Arme zu greifen: Mit einer Anzeigenbuchung für das eigene Unternehmen, mit Einkäufen in unserem Fanshop oder auch mit regelmäßigem Support über die Plattform Steady könnt Ihr dazu beitragen, dass es die Kiez und Kneipe auch die nächsten 20 Jahre noch gibt. Mehr dazu erfahrt ihr hier.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2024 (auf Seite 1).

Bunte Vögel fliegen weiter

Zum Tod von Roland »Rolandus« C. Stegemann ein Nachruf von Ritter von Lehenstein

Rolandus. Foto: privat

Ein lebensbejahendes Orange, ein zwickendes Grün und der Rest querbeet bunt, das war seine Welt. Wenn es dann noch etwas karoartiges hatte, war es sogar wert, als Klamotte getragen zu werden. Erwachsen sein und werden: »Das überlasse ich den anderen.« Seine Freundin Stephanie drückt es passend aus: Je nach Laune und Wetterlage, politischen Absurditäten oder der Mondphase gestaltete er gerne sein Outfit. So trug er bei katholischen Missstimmungen seine roten Papstschuhe. »Wenn die so weiter machen, muss ich die zum Schuster bringen und neu besohlen lassen.« Der Grüne Dienstag, die Rote Woche oder das Curry-Wochenende und als Draufgabe der Karierte Monat … so nannte er seine Styles, er verkörperte die Kreuzberger Fashion Week in Personalunion.Gerne mit Accessoires, wie einem Schneidermaßband um den Hals, einer kleinen Plüschfigur irgendwo baumelnd oder einem mit Hermesflügeln aufgewerteten Filzhut. Geschmückt mit Dingen, die seine Stimmung »dezent« unterstreichen sollten.

Er, der Maler, Erschaffer und Erfinder von unzähligen Projekten, realisierbaren und Phantastereien, die in Schubladen auf bessere Zeiten warten mussten, machte vor nichts halt. Ob es Projekte wie Goethes Gartenhaus in Weimar waren,  Brunnen, die je nach Betrachtungswinkel von spießig bis obs­zön wirken konnten, oder – seiner Zeit vor­aus – die Eröffnung der Kunstgalerie im Promenaden-Pavillon in Kühlungsborn. Schelmische Werke bereiteten ihm besondere Freude, wie die Spießrutenlaufmaschine oder das Laufrad aus schönen Bootsteilen mit einem Schusterleistenfuß als Sattel, der einem beim Laufen in den Arsch tritt. Immer wieder wartete er mit fixen Ideen auf, um auf Missstände hinzuweisen, wie Surfen auf dem Wasserfall im Viktoria­park, um auf die Vermüllung aufmerksam zu machen.

Berlin schmückte er gerne mit Wandgemälden: »Aber immer nur große Flächen, nicht so Kleinkram. Wenn ich da war, dann hat man es auch gesehen«, lachte er.

Seine Leidenschaft für Marine und Malen brachten ihn 1989 zu seinem ehrgeizigsten und größten Projekt in Hamburg: DOCK 10 zum 800. Hafengeburtstag. Das größte schwimmende Kunstgemälde, an der Werft von Blohm & Voss. Karl Tönjes B. Ringena hat darüber einen hochinteressanten Film erstellt, »Dock 10 – neu gesehen«, der das Monumentalwerk mit Schilderungen von Roland über die Entstehung und die damit verbundenen Strapazen wunderbar darstellt. »260 Meter lang, 15 Meter hoch und gut 3 Tonnen Farbe bildeten eine his­to­rische Darstellung der Entwicklung des Hamburger Hafens. In Form eines Librettos auf einer stählernen Außenwand des Docks wurde ein touristisches Highlight erzeugt, was auch zum Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde führte.«

Geboren in Königs Wusterhausen, hatte er eine innige Beziehung zu seiner Mutter. Sein Vater, Schildermaler für die UFA, war ihm zu streng. Ein heftiger, schlimmer Einschnitt in seinem Leben war, als sein Sohn Conny 2004 mit 16 bei einem Autounfall als Beifahrer starb. 

Sein Vater wurde weit über neunzig und den galt es nun zu übertrumpfen und 125 Jahre wäre ein brauchbares Ziel. Und wenn er es sagte, glaubte man es ihm. Der Tod war kein Thema, aber wie sein Grab sein sollte, das wusste er genau: »Ich will ein Grab mit so’nem Sensor, der Gesichter erkennt, unter einem Baum in dem ein Skelett oder so ein Gruselkasper steckt. Wenn dann so’n Penner kommt, der da nichts zu suchen hat, schnappt der Baum auf und das Klappergerüst erschreckt sie mit meiner Stimme, die sollen ruhig wissen, dass ich es bin. Ich sag ihnen, dass sie hier nichts verloren haben und zum Teufel gehen sollen oder schlimmer, ich sie hole.« Dabei lachte er, dass seine Nase glühte und der breite volle Mund tanzte. Er wollte nicht als schräger Kauz wahrgenommen werden, er wollte als schräger Kauz begriffen werden. Er sah sich als Spiegel, der sich jedem vorhält. Seine Welt wirkt für manche, wie aus den Fugen geraten, krumm, schief und immer bunt. »Die meinen, ich sei ein Witzbold, doch wirklich, gerade die mich so sehen, begreifen nichts, gar nichts, und denen ist auch nicht zu helfen. Vertane Liebesmüh!« 

Und auch das ist typisch Roland, mit 82 Jahren zu sterben, aber einen Tag nach seinem 83. Geburtstag beerdigt zu werden. »Klar, den wollte ich doch feiern – hoffentlich habt ihr mich ausschlafen lassen!«, so klingt seine unwiederbringliche, sonore Stimme in meinen Ohren.

Jetzt, vereint mit seinem Sohn, wird er wohl Himmel und Hölle in seinen Bann ziehen und bald werden sie gar nicht mehr wissen, wo was ist, wo oben und unten ist.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juli 2023.

Frischer Lesestoff von nebenan

Neuerscheinungen aus Kreuzberger Verlagen

Die Leipziger Buchmesse war vor zwei Jahren eines der ersten »Opfer« der Corona-Pandemie und findet in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge nicht statt. Das ist blöd für Bücherliebhaber, aber auch ein Problem für Verlage, die dort gerne ihre Neuerscheinungen präsentiert hätten. Auch KuK-Redakteur Robert S. Plaul, hauptberuflich Inhaber des Carpathia Verlags, ärgert sich, dass die zweitgrößte Buchmesse Deutschlands schon wieder ausfällt.

Um zumindest den Kreuzberger Verlagen etwas Sichtbarkeit zu geben, hat er sich bei den Kolleginnen und Kollegen umgehört und gefragt: Was ist euer Spitzentitel, den ihr gerne in Leipzig gezeigt hättet?


Cover »Der Frau«

»Der Frau« ist eine dreistimmige lyrische Textcollage über das Frausein, die im März im VHV-Verlag für Gegenwartsliteratur erscheint. Es sprechen: Mutter, Frau, Eine. Es geht um Mutterschaft und Geburt, um Menstruation und weibliche Sexualität, um das Frauwerden und das Tochtersein, um Sexismus und Rollenbilder, um Schwangerschaftsabbruch, Gewalt gegen Frauen und Selbstbestimmung. Vor allem geht es darum, Dinge auszusprechen, um misogyne Verhaltensmuster und Tabus zu verändern.
Der titelgebende Text wird durch drei weitere ergänzt, die toxische Männlichkeit persiflieren und sich mit Identität an sich und Vergänglichkeit auseinandersetzen. Ein Buch für alle Geschlechter.

Victoria Hohmann
Der Frau
Hardcover
96 S., 22,00 €
VHV-Verlag
ISBN 978-3-948574-07-9
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Cover »Achtung, Geschichtsdiebe«

Eigentlich haben Pavel, Jana und ihr Hund Streusel genug damit zu tun, ihrem Nebenjob als Prager Geister auf Touristenführungen nachzukommen und jeden Sonntag den Geschichten der geheimnisvollen Museumsleiterin Frau Vondráčková zu lauschen. Doch plötzlich geschehen beängstigende Dinge in Prag. Die Firma, eine geheime Untergrundorganisation, will das Herz der Stadt stehlen und sie in eine Geisterstadt verwandeln. Pavel, Jana und Streusel nehmen den Kampf gegen die Firma und ihre gruseligen Helfer auf. Ob sie es schaffen werden, Prag aus dem kalten Griff zu befreien?
Ein wortgewaltiger Kinderroman aus Prags Altstadt von der Historikerin Nicole Grom und Zeichnungen der tschechischen Illustratorin Barbora Kyšková.

Nicole Grom, Barbora Kyšková
Achtung, Geschichtsdiebe
ab 10 Jahren, Hardcover
424 S., 18,00 €
World for kids
ISBN 978-3-946323-20-4
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Cover » Die tollpatschige Giraffe und der verlorene Traum«

Die Giraffe Annette hatte einen ganz wunderbaren Traum. Doch worum ging es nur? Wie sehr sie es auch versucht, sie kann sich einfach nicht erinnern … Ein Glück wollen ihre Freunde helfen! Also probiert sie, eindrucksvoll zu springen wie Rainer Maria, der Fuchs, oder grandios zu singen wie Heinrich, der Frosch – doch jeder ihrer Versuche geht schief. Wird Annette ihren Traum wiederfinden und werden ihr die anderen Tiere neuen Mut machen können?
»Die tollpatschige Giraffe …« von Julia Nüsch ist eine liebevolle Geschichte über verlorene Träume und außergewöhnliche Talente, über das Scheitern und Fassen neuen Muts – aber vor allem über fantastische Freunde und die Erkenntnis, dass jede:r einzigartig ist!

Julia Nüsch
Die tollpatschige Giraffe und der verlorene Traum
ab 3 Jahren, Hardcover
40 S., 18,00 €
Kindermann Verlag
ISBN 978-3-949276-04-0
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Cover » Querkenbeck und die goldene Trompete«

»Querkenbeck und die goldene Trompete« – genau so einzigartig wie der Titel sind auch die Personen dieser brandenburgischen Kriminalgroteske. Geschrieben von einem Autorenduo – freier Musikproduzent Jörg Reinhardt aus Lindow und ehemaliger Studienrat Frank Müller aus Berlin – ist dieser Roman eine Liebeserklärung an den schon von Fontane hochgepriesenen Landstrich zwischen Berlin, Lindow, Kremmen und Kyritz.
Auf der Jagd nach der goldenen Trompete der Prignitz, begeben sich Eigenbrodt und Bentheim, (ebenfalls) zwei wunderbar schräge Vögel, auf die Suche nach Trompetenkenner Querkenbeck, der am Weihnachtsabend spurlos verschwand … Doch sind sie nicht die Einzigen, die es auf das wertvolle Stück abgesehen haben.

Frank Müller, Jörg Reinhardt
Querkenbeck und die goldene Trompete
350 Seiten, 15,90 €
Parlez Verlag
ISBN 978-3-86327-070-4
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Cover »Alles Arschlöcher überall«

Im Carpathia Verlag erscheint im März ein skurriler Roman über eine aus dem Ruder laufende Kneipennacht. Als das Café Exquisit nach einem Streit von einer Horde Nazis belagert wird, müssen sich die unfreiwilligen und nicht mehr wirklich nüchternen Insassen des Etablissements nicht nur mit einem korrupten Polizeidienststellenleiter, einer älteren Dame mit fragwürdigen politischen Ansichten und dem unbändigen Hunger nach Nachos und Pizza herumschlagen. Auch boxt sich bereits der erste Nazi durch die marode Kneipentür. Ob die Bekanntschaft mit einer sprechenden Kakerlake oder der vermeintliche Fund einer antiken Handfeuerwaffe wohl geeignet sind, das Problem zu lösen? Eins ist klar: Es wird eine verdammt lange Nacht.

Jan Bratenstein
Alles Arschlöcher überall
Hardcover mit Schutzumschlag 344 S., 25,00 €
Carpathia Verlag
ISBN 978-3-98630-000-5
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Cover » Herumtreiberinnen«

Die 17-jährige Manja und ihre beste Freundin Maxie schwänzen die Schule und treffen sich mit Jungs im Leipzig der 1980er Jahre. Bis Manja von der Volkspolizei auf die Venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten gebracht wird.
Eingewoben sind auch Erlebnisse von Lilo, die in den 1940er Jahren an diesem Ort festgehalten wurde, da sie mit ihrem Vater für den kom­mu­nis­tischen Widerstand gearbeitet hat, und der Sozialarbeiterin Robin, die in den 2010er Jahren in diesem Haus, nun eine Unterkunft für Geflüchtete, tätig ist.
»Herumtreiberinnen« erzählt die Geschichten drei junger Frauen aus verschiedenen Zeiten und stellt die Frage, welchen Einfluss die Zeit und die jeweilige Staatsform auf ihre Leben hatten.

Bettina Wilpert
Herumtreiberinnen
Hardcover
256 S., 25,00 €
Verbrecher Verlag
ISBN 978-3-95732-513-6
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Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2022.

Ahoi! HerrMann Wo Bist DU?

Hermann, der langjährige Wirt des »MIR« in der Görlitzer Straße ist tot. Uwe Meinelt hat einen bewegenden und vielschichtigen Nachruf auf die Kiezlegende verfasst:

Foto: Ernst Weltner

Ungläubig musste ich die Neuigkeit vernehmen,
dass der letzte Kosmonaut die Brücke verlassen hat.
HerrMann, der jeden Tag, sobald der erste Sonnenstrahl sich zeigte,
immer mit dem Rotwein-Glas, vor »seinem« alten Laden
dem MIR (russ. =FRIEDEN) in der Görlitzer-Park-Straße saß.
Er, der die Weisheiten des Tages verbreitete, war die lebende
TalkBox des Neuen Deutschlands, ein Kiez-Philosoff und ein
engagierter Prophet des Untergangs des Kapitalismus.

Er war alt Revolutionär,
Marx war für ihn nicht das ehemalige Cafe am Spreeplatz
auch nicht der KinderZuhälter der Katholischen Kirche,
nein Marx war nur vermurkst worden –
von diesen NeoMaos und den Stalinisten,
Die Erklärungen hierzu waren allerdings oft sehr ausufernd,
aber er bemühte sich um korrekte Aufklärung.
Verklärung war für ihn kein Thema,

Wir sind alle manipuliert und infiziert
von diesen Massen-Medien-Gedöns
und scheinen sogar total entfremdet zu sein von allem und von jedem.
Was war nochmal die Ausgangsfrage…? …war häufig meine Antwortfrage
auf seinen Vortrag, aber immerhin wusste ich anschließend mehr als vorher.
HerrMann war nicht nur die schwärzeste Institution des Kiezes,
der noch bevor die ersten Verschwöhrungstheorien aufkamen,
genau wusste, wie der Hase im Pfeffer läuft,

Foto: Ernst Weltner

Sein Eck-Café war bedi(e)nungsloser KULT,
als die ReichsBahn-Gleise noch lagen, bevor es den Park gab und
die Harnröhren-Unterführung noch kürzester Weg unter
dem alten Görlitzer Bahnhof zur Wienerstr. war.
Sp ter wurde dann daraus, der Park mit Fledermaus-Zuhaus.
Ach ja, HerrMann unser Grillenmeister des Rosis Clubs in der Revalerstr.,
immer unterwegs auf dem alten schwarzen Rad, mit Basken-Mütze,
in aerodynamische Rabenhaltung vertieft,

der Kiez Kautz schlechthin
und sein schwarzer Humor war legend r!
Ich geh_steh, ich kannte ihn eher flüchtig,
aber er war immer freundlich und kommunikatief
auf seinem Stammplatz, der Hausbank.
Mit dem grauen Vollbart und der schwarzen Brille,
schaute die alte Grille,
oft misgrämisch drein und kritisch.

Ja, immer sozial kritisch, und immer bereit für eine verbale Attacke,
einen guten Schnaak, oder eine Parole.
Glasklare Forderungen und Geistesblitze aus heiterem Himmel
waren sein Markenzeichen, kaum hatte er etwas im Sinn,
schon gings über seine Lippen hinaus, geplaudert, gerufen,
oder geflüstert, so verblüffte und schockierte er die Nachbarn
und Kiezanreiner, aber für dieses Schauspiel opferte ich gerne 2 Tassen Cafe,
oder 1 Flasche Wein, aber nur von dem Roten, da war er eisern…

nur im äußerstem Notfall, Glühwein, aber egal…
HerrMann, du hast das Leben im Kiez bereichert
und es ist mir immer eine Ehre, dich zu grüßen.
Wir werden dich vermissen, Mr. MIR
und wir ge-danken dir
für unvergessene Stunden.
Die Blumen-Bilder auf deinem alten Stamm-Platz
sagen MIR, dass du im Geiste immer bei uns bist.
Ahoi! HerrMann, mach’s gut!

Volle Fahrt voraus!

Carpathia Verlag feiert Zehnjähriges

Handlager in der Altbauwohnung. Verleger Robert S. Plaul mit den letzten Neuerscheinungen. Foto: cs

Nicht alle Dinge entwickeln sich so, wie man sie sich ursprünglich gedacht hat. Als die drei Kiez-und-Kneipe-Redakteure Peter S. Kaspar, Cordelia Sommhammer und Robert S. Plaul vor zehn Jahren den Carpathia Verlag gründeten, hatten sie eigentlich geplant, eine Satire-Zeitschrift herauszugeben. »Eisberg-Magazin« hätte die Publikation heißen sollen, eine Art freundschaftliche Kampfansage an die etablierte »Titanic«. Doch das ambitionierte Projekt kam über die Nullnummer nicht hinaus – und die junge Unternehmung wurde stattdessen zum Buchverlag.

Nach dem Start mit Kaspars Sachbuch »Koulou Tamam, Ägypten?« über die Auswirkungen der Arabellion auf den Tourismus und Experimenten mit »Kompakt­roman« getauften E-Books in Spielfilmlänge, hat sich das Carpathia-Programm zunehmend in eine belletristische Richtung weiterentwickelt.

Mit derzeit etwa drei Neuerscheinungen im Jahr ist das Verlagsprogramm zwar noch relativ überschaubar, dafür stecke umso mehr Herzblut in jedem einzelnen Buchprojekt, versichert Verleger Robert S. Plaul. »Klasse statt Masse« sei gewissermaßen das Motto. Davon zeugen auch die liebevoll gestalteten Cover und die ansprechende Ausstattung der Bücher.

»Wir können keine 500-Seiten-Bücher für ’nen Zehner verkaufen«, erklärt Plaul, »aber wenn jemand 15 oder 20 Euro für ein Buch ausgibt, dann soll das auch ein bisschen was hermachen.«

Dass es jeden Titel auch als E-Book gibt, sei heutzutage aber ebenso selbstverständlich. »Das ist dann halt nichts zum Anfassen, aber dafür natürlich viel barrierefreier.«

Das Thema Barrierefreiheit ist auch einer der Gründe, warum der Carpathia Verlag etliche seiner Titel als Hörbuch aufgenommen hat. Ende 2019 war das Buch »Was du nie siehst« über den blinden Weltreisenden und Surfer Hansi Mühlbauer erschienen (Rezension). »Hansi hat mir erzählt: Ein Buch zu lesen heißt für ihn, das Hörbuch zu hören.« Umso mehr freut sich Plaul, dass »Was du nie siehst« demnächst auch als Hörbuch erscheint – gefördert von »Neustart Kultur«, einem staatlichen Corona-Hilfsprogramm für die Kreativbranche.

Solche Programme sollte es auch außerhalb von Krisenzeiten geben, findet der Verleger, der sich auch ehrenamtlich im altehrwürdigen »Börsenverein des deutschen Buchhandels« engagiert und für eine strukturelle Verlagsförderung kämpft. »In anderen Ländern in Europa gibt es sowas seit Jahren.«

Am 15. November feiert der kleine Kreuzberger Verlag, der natürlich nach der »RMS Carpathia« benannt ist, also jenem Schiff, das 1912 die Titanic-Überlebenden rettete, sein Zehnjähriges. Zehn Tage lang gibt es zehn E-Books zum halben Preis.

Verlagswebsite: www.carpathia-verlag.de

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2021.

Das biografische Kreuzbergrätsel

Langeweile über Ostern? Beschäftigungsbedürftige Besserwisser im Bekanntenkreis? Dann haben wir was für Euch: unser biografisches Kreuzbergrätsel für Kiezkundige und solche, die es werden wollen. Alle Personen unseres Rätsels haben mehr oder weniger Kreuzberg in ihrer Biografie. Aber wer sind sie?

Google und Wikipedia sind natürlich erlaubt, und in den Kommentaren unter diesem Artikel und via Facebook beantworten wir Ja-Nein-Fragen.

Unter allen, die bis 30. April die richtigen Lösungen an info@kiezundkneipe.de schicken (Betreff »Kreuzbergrätsel«), verlosen wir eine Tasse aus unserem KuK-Shop. Der Rechtsweg ist natürlich ausgeschlossen.

Wappen Kreuzberg mit Fragezeichen drumherum1. Ein perfektionistischer Parodist

Er war ein waschechter Kreuzberger, hier geboren, aber schon früh an die Rummelsburger Bucht verschleppt. Schon in der Schule hatte er allerlei Dummheiten im Kopf, die ihn auf seinem späteren Lebensweg zwar immer wieder in Schwierigkeiten bringen sollten, letztlich aber auch zu seinem Erfolg beitrugen. So entwickelte er ein unglaubliches Talent dafür, seine Lehrer zu parodieren. Doch ehe er in seinem späteren Fach reüssierte, verdingte er sich erst einmal in der Hasenheide in der Werbebranche.

Er musste, wie viele seines Alters, in den Krieg ziehen, den er beinahe unbeschadet überstanden hätte. Kurz vor Kriegsende erlitt er jedoch einen Fußdurchschuss. Der Militärarzt wollte amputieren, doch es gelang dem jungen Mann durch einen Kartentrick, den Arzt davon abzuhalten. Nach dem Krieg verließ er Berlin und machte in einer anderen Branche Karriere, in der er für viele seiner nachfolgenden Kollegen Maßstäbe setzte. Er galt im Umgang als schwierig, weil er ein absoluter Perfektionist war. Ein auffälliges Kleidungsstück wurde zu seinem herausragenden Markenzeichen. So gut er auch in seinem Fach war, so schlecht war er als Geschäftsmann. Als er plötzlich mit 80.000 D-Mark beim Finanzamt in der Kreide stand, fürchtete er den Ruin. Aber auch aus dieser Krise arbeitete er sich wieder zäh heraus. Im übrigen machte er auch einen Postboten berühmt, der ihm das ein Leben lang dankte. (psk)

2. Geküsst von der leichten Muse

So richtig bekannt wurde die gebürtige Kreuzbergerin, die auch den Großteil ihres Lebens hier verbrachte, erst im hohen Alter, nach dem Tod ihres Mannes. Ihren Traumjob hatte sie da schon jahrzehntelang nicht mehr ausgeübt, auch weil ihr Mann das nicht wollte. Gegen den Job hatte zuvor schon schon ihr Vater Vorbehalte gehabt, wohl schon wegen seines eigenen Berufs und weil der Tätigkeit eine gewisse Anrüchigkeit nicht abzusprechen war.

Doch der väterliche Versuch, ihre berufliche Zukunft in andere Bahnen zu lenken, scheiterte – auch weil sie dabei die Bekanntschaft mit einer anderen jungen Frau machte, die später weltweite Berühmtheit erlangen sollte. Am Ende konnte sie sich doch gegen den Vater durchsetzen und ergatterte eine Stelle in einem inzwischen traditionsreichen Etablissement.

Über große Teile ihres langen Lebens ist außer einer zwölfjährigen Arbeit im größtenteils sitzenden Gewerbe wenig bekannt. Doch dann war es wieder eine Zufallsbekanntschaft, die sie zurück ins Rampenlicht brachte. Und als weitere 14 Jahre später jene Institution, in der sie als junge Frau gegen den väterlichen Widerstand ihre Berufung gefunden hatte, nach langer Pause neu eröffnete, war sie natürlich als Ehrengast dabei, gewissermaßen als letzte ihrer Art.

Anders als nach mehreren ihrer berühmten Weggefährten sind bislang keine Straßen oder Plätze nach ihr benannt. Aber das kann sich ja vielleicht noch ändern. (rsp)

3. Ein streitbarer Reformer

Schon sein Vater eckte an und musste einen anderen Beruf ergreifen, als er eigentlich vorhatte. Für den wiederum zeigte der Gesuchte keinerlei Begabung und strebte eine akademische Ausbildung an, die ihn vielleicht das erste Mal in Kontakt mit linken Gedanken brachte.

Nach seinem Studium ließ er sich nieder in einer Stadt, die in dieser Form heute nicht mehr existiert, und setzte sich dort für die Rechte von Menschen ein, die es aus ökonomischen oder politischen Gründen schwer hatten. Auch seine politische Karriere, die von den Querelen jener Zeit gekennzeichnet war, nahm dort ihren Anfang.

Schnell erreichte er überregionale Bekanntheit, doch einen Ruf nach Berlin lehnte er zunächst ab.

Es folgte eine Zeit des Umbruchs, in der er zwar nicht die Seiten, aber die Stoßrichtung seines Engagements wechselte.

Wie er dann schließlich, 15 Jahre später, doch noch nach Berlin und schließlich nach Kreuzberg kam, ist nicht so ganz klar, sein gewaltsamer Abgang zwölf Jahre später ist dafür umso besser dokumentiert.

Ein paar Jahre noch blieb er, doch dann verließ er Berlin für immer, kämpfte aber weiter für seine Überzeugung. Weitere 12 Jahre später verstarb er am Mittelmeer.

In Kreuzberg wird an mehreren Orten an ihn erinnert. Einer davon befindet sich in unmittelbarer Nähe zu seiner damaligen Wirkungsstätte, auch wenn es dort baulich inzwischen etwas anders aussieht. (rsp)

4. Sarg mit Fenstern

Sie wollte auf Nummer sicher gehen und verfügte, dass ihr Leichnam zunächst mal nicht bestattet wurde. Sie hätte ja auch scheintot sein können, und deshalb sollte ihr Doppelsarg auch mit Fenstern ausgestattet werden. 20 Jahre wollte sie im Kolumbarium des Dreifaltigkeitsfriedhofs aufgebahrt werden, ehe sie unter die Erde gebracht würde. Es wurden am Ende 36, ehe sie mit ihrem Mann dann doch noch die letzte Ruhe auf dem Friedhof am Halleschen Tor fand.

So ungewöhnlich die Umstände ihrer Beisetzung waren, so ungewöhnlich war sie auch zu ihren Lebzeiten. So war sie für ihre Zeit eine ungewöhnlich gebildete Frau, die vier Sprachen sprach. Illuster war der Kreis, den sie um sich versammelte: Dichter, Philosophen, Naturwissenschaftler und sogar gekrönte Häupter. Erstaunlich ist, dass all diese Gäste samt und sonders damals recht unbekannt waren, aber in späteren Jahren zu wahren Popstars in ihren Fächern werden sollten.

Ihre erste Liebe endete unglücklich, eine weitere im Streit, und ein paar Liebschaften später heiratete sie einen Mann, der um die Kleinigkeit von 14 Jahren jünger war als sie. Auch das war für die damalige Zeit ausgesprochen ungewöhnlich. Aber die Heirat machte sie zu eine Frau von Adel. Nicht, dass das für sie von größerem Interesse gewesen wäre, aber aufgrund der Zeitläufte brachte der Titel, vor allem für ihren jungen Mann, einen gewissen Schutz.

Sie starb 25 Jahre vor ihrem Mann. Doch der wurde gleich in die Erde des Dreifaltigkeitsfriedhofes versenkt. Erst neun Jahre später wurde sie neben ihm bestattet. (psk)

5. Mit Drumsticks und Häkelnadel

Wenige Jahre vor dem Mauerfall verschlug es die studierte Lehrerin aus der westeuropäischen Provinz der Liebe wegen nach West-Berlin. Dort verdingte sie sich zunächst bei einer Tageszeitung als Layouterin, trieb sich in der Hausbesetzerszene herum und gründete eine Band mit, in der sie nicht nur mit dem charakteristischen Akzent sang, den sie bis zu ihrem Lebensende nicht ablegte, sondern auch das Schlagzeug spielte. Einige Jahre später gründete sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dessen Künstlernamen vorne an ein süddeutsches Backwerk erinnert, eine weitere Formation, die in eingeweihten Kreisen eine gewisse internationale Bekanntheit erlangte.

Doch nicht nur mit ihren Drumsticks schuf sie avantgardistische Popkultur, sondern auch mit der Häkelnadel. Unerwartete Aufmerksamkeit der hauptstädtischen Boulevardpresse erregte ein von ihr gefertigtes textiles Kunstwerk, das im Bethanien als Teil einer Ausstellung zu sehen war. Dort gleich um die Ecke, am Oranienplatz, hatte sie jahrzehntelang ihren Lebensmittelpunkt, musizierte jenseits aber auch in der Tradition aller Konventionen des 20. Jahrhunderts, schrieb Bücher und produzierte Hörspiele.

In den letzten Jahren vor ihrem recht plötzlichen Tod moderierte sie eine regelmäßige Radiosendung, in der sie konsequent nur Vinylplatten auflegte und mit ihrem profunden Wissen »nicht nur über Autos, Sex, Tiere, Frauen, Männer und Tanzen« kommentierte, wie eine Radiokollegin in einem Nachruf sehr treffend subsummierte. (cs)

6. Ein Mann mit Hut

Geboren wurde der Gesuchte auf der Reise. Aufgewachsen ist er in einer Berliner Laubenkolonie. Vielleicht hatte ja bereits da seine spätere Affinität zu Keramikfiguren ihren Ursprung – insbesondere zu denen mit Mütze. Eine nicht ganz unauffällige Kopfbedeckung hat er selbst stets gerne getragen, sie wurde für ihn zu einer Art Markenzeichen.

Dreimal eingezogen zum Kriegsdienst wurde er jedes Mal teils schwer verwundet. Die körperlichen und seelischen Verletzungen prägten ihn sein Leben lang. Dennoch verlor er nicht den Lebensmut und den positiven Blick auf die Dinge, auch nicht auf die auf den ersten Blick weniger schönen. Wenn er sich seiner Motive annahm, wurden sie schön, oder zumindest authentisch, berührend und wichtig.

Die akademische Ausbildung zu der Profession, mit der er in seiner zweiten Lebenshälfte dann doch seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, führte er nicht zu Ende. Der Vorwurf eines seiner Lehrer, er verstehe nicht, mit Farben umzugehen, traf ihn tief. Er verdingte sich fortan als Händler von Tieren, Bieren und Dingen, die andere nicht mehr haben wollten. Wurde zu einem Nabel einer Welt von Gleichgesinnten, die Kunst im Alltag schufen.

Er starb an einem Ostersonntag. Begraben liegt er hier in Kreuzberg, unweit seiner früheren gastronomischen Wirkungsstätte in einem von ihm selbst gestaltenen Familiengrab. (cs)

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2021.

O sole mio!

Willkommen auf der Sonnenseite

Viele Menschen verlassen dieser Tage – vernünftigerweise – kaum mal die eigenen vier Wände, außer um einzukaufen oder sich vielleicht die aktuelle Ausgabe der Kiez und Kneipe (die es übrigens auch online gibt!) vor der Redaktion abzuholen. Und wenn man so aus dem Fenster schaut, dann wirkt das trübe Wetter auch nicht gerade einladend für längere Aufenthalte im Freien. Kaum mal scheint die Sonne für mehr als ein paar Stunden am Tag. Und doch ist sie da und der Erde näher als im Hochsommer – nur, dass sie derzeit vor allem die Südhalbkugel anstrahlt.

Wir wollen Euch trotzdem ein wenig Sonne in die Wohnungen zaubern und widmen unsere Mittelseiten diesen Monat dem Thema Sonne. Die Illustrationen stammen übrigens von der Pop-Art-Künstlerin Tutu, die mit ihrem Atelier »Tutus Welt« in der Mittenwalder Straße seit neuestem auch »Kunst to go« anbietet.

Jetzt aber viel Spaß mit unseren Sonnenseiten!

Sonne, Mond und Sterne

Zwischen Sonnenkult und Astronomie

Sonnengott Huitzilopochtli in einer Darstellung aus dem Codex Telleriano-RemensisSonnengott Huitzilopochtli in einer Darstellung aus dem Codex Telleriano-Remensis.

Als universellem Energielieferanten kommt der Sonne eine existentielle Bedeutung für das Leben auf der Erde zu. Das war auch schon älteren Kulturen klar, und so ist die Liste der Sonnengottheiten lang und unübersichtlich, auch weil viele frühe Religionen sowohl Sonnen- als auch Lichtgottheiten verehrten und andere Aspekte (Krieg, Feuer …) mit der Sonne assoziierten. Oft spielt auch die Dualität zwischen Tag und Nacht, Licht und Schatten oder eben: Sonne und Mond eine wichtige Rolle, etwa beim aztekischen Sonnengott Huitzilopochtli, der beinahe einem Anschlag seiner Schwester, der Mondgöttin Coyolxauhqui zum Opfer gefallen wäre (sich aber bitter rächte).

Mit dem Aufkommen und der Ausbreitung monotheistischer Religionen verloren Sonnenkulte zunehmend an Bedeutung, doch ihre Spuren sind noch an vielen Stellen zu bemerken – am offensichtlichsten sicherlich bei der Festlegung des Weihnachtsdatums auf den damaligen kalendarischen Tag der Wintersonnenwende.

Nachdem sich die meisten Menschen auf der Welt einig waren, dass weder Erde noch Sonne Scheiben sind, gehörte zur Geschichte des Verhältnisses zwischen Mensch, Sonne und Religion bald die Frage, ob sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne dreht. Inzwischen wissen wir, dass die Erde die Sonne umkreist (und der Mond die Erde) und dass die Sonne eigentlich bloß ein Stern unter vielen ist. Allein im (theoretisch) beobachtbaren Universum gibt es etwa 70 Trilliarden Sterne, von denen die Sonne uns allerdings mit Abstand ab nächsten ist: Die nächste »Sonne«, Proxima Centauri, ist etwa 268584-mal so weit entfernt.

Sonne im Kiez

Sonnenuhr an einer HauswandExakt 14:24 hätte die riesige Sonnenuhr an der Brandmauer Nostitz- Ecke Riemannstraße angezeigt, wenn die Sonne zum Zeitpunkt des Fotos nicht just hinter einer Wolke verschwunden wäre. Foto: psk
Eingang einer Eckkneipe mit dem Namen »Zur Sonne«Sehr beliebt ist die Sonne als Namensgeberin für gastronomische Betriebe. Die klassische Eckkneipe Kopisch- Ecke Fidicinstraße ist allerdings schon seit Jahren Geschichte – mittlerweile residiert hier der »Weinverein«. Foto: Sludge G / flickr (CC BY-SA 2.0)
Feiernde Menschen auf der AdmiralbrückeEinschlägige Reiseführer schwärmen vom Sonnenuntergang auf der Admiralbrücke. Kein Wunder, dass es hier an Sommer­abenden oft voll und manchmal auch laut wird. Foto: rsp (Archiv)

Vom Aufgang der Sonne …

… bis zu ihrem Niedergang

Noch sind die Nächte länger als die Tage, was mindestens einen Vorteil hat: Wer auf Sonnenaufgänge steht, muss nicht ganz so früh raus. Im Februar geht die Sonne bei uns zwischen 7:49 Uhr am 1. Februar und 6:58 Uhr am 28. Februar auf. Dank dichter Bebauung ist es gar nicht so einfach, in Kreuzberg einen schönen Blick auf die aufgehende Sonne zu erhaschen. Selbst im Viktoriapark, oben am Nationaldenkmal, kündigt bestenfalls ein in hübschen Pastellfarben langsam heller werdender Morgenhimmel hinter den Silhouetten der Stadt den beginnenden Tag an. Etwas mehr zu sehen ist von den oberirdischen Bahnhöfen der U1 aus, und wer mit dieser bis zum Schlesischen Tor fährt und auf die Oberbaumbrücke schlendert, wird mit einem spektakulären Blick auf die Spree und die Molecule Men vor der aufgehenden Sonne belohnt.

Tatsächlich wird die Vermutung aber kaum trügen, dass ein größerer Teil der Kreuzberger den Nachtschwärmern angehört. Da ist dann eher der Sonnenuntergang gefragt. Das ultimative Sonnenuntergangserlebnis bietet die Admiralbrücke mit dem Blick über den Urbanhafen. Das dürfte zudem der bekannteste Geheimtipp für »Schöne Sonnenuntergänge in Berlin« sein. Hunderte teilen im Sommer das Erlebnis. Der Tag der Tage ist natürlich der 21. Juni. Da verabschiedet sich die Sonne in diesem Jahr am Urbanhafen um genau 21:33 Uhr.

Dreimal Sonnenschein

Die Geschichte der legendären Laugenbrezel

Laugenbrezel auf einer Papiertüte, auf die drei Sonnen gemalt sind, die durch die Öffnungen der Brezel hindurchscheinenWenn es um ein wenig Sonne in der dunklen Jahreszeit geht, darf die Brezel nicht fehlen, denn das Laugengebäck hat der Legende nach sogar viel mit der Sonne zu tun. Im 15. Jahrhundert lebte in Urach am Fuß der Schwäbischen Alb ein Bäcker namens Frieder. Der ließ sich zu einem nicht näher bekannten Frevel hinreißen, auf den der Tod stand. 

Sein Fürst, der noch heute besungene Graf Eberhard im Barte, war bereit, Gnade walten zu lassen und gab Frieder drei Tage Zeit, ein Gebäck zu erfinden, »durch das die Sonne drei Mal scheint«. Doch Frieder fiel nichts ein, bis seine Frau auftauchte, eine energische schwäbische Hausfrau, die sich mit verschränkten Armen vor ihm aufbaute, wohl um ihm die Leviten zu lesen. Da wurde ihm klar, wie das Gebäck beschaffen sein musste. Er schlang den Teig zu der uns heute wohlvertrauten Form und legte sie auf ein Backblech. Doch die Katze des Hauses sauste durch die Backstube, stieß an das Backblech und versenkte den Teig in einer Wanne voll Lauge. Da eh schon alles zu spät war, schob Frieder das Blech mit den durchlaugten Brezeln in den Ofen. Und er tat gut daran. Dem Grafen mundete das Gebäck, durch das die Sonne drei Mal schien, und be­gna­dig­te den Bäcker Frieder wie versprochen.

Sonne für die Ohren

Eine Spotify-Playlist für trübe Tage

Auch in der Musik ist die Sonne von Alters her ein immer wieder gerne genutztes Sujet. Der berühmte Sonnengesang des Franz von Assisi aus dem 13. Jahrhundert (zu dem keine zeitgenössische Melodie überliefert ist) ist da weder das erste, noch das letzte Beispiel.

Wir haben die Themenseite zum Anlass genommen, ein paar Handvoll Stücke aus der populären Musik der letzen 100 Jahre herauszukramen, bei denen samt und sonders in der einen oder anderen Weise die Sonne im Mittelpunkt des Geschehens steht. Zusammengekommen ist ein buntes Potpourri von den Beatles bis Rammstein. Neben ein paar naheliegenden Klassikern mit Reggae-Feeling sind auch der definitiv schwächste Song von Udo Jürgens sowie ein paar weitere übliche Verdächtige und Überraschungen aus Pop, Rock, Punk, Chanson, Swing und Schlager dabei.

Unsere musikalischen Forschungsergebnisse haben wir in eine Playlist beim Streamingdienst Spotify überführt.

Wir wünschen viel Vergnügen mit über 90 Minuten (Tendenz steigend) sonniger Musik!

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2021.

»Wir lassen uns nicht unterkriegen!«

Kreuzberger Geschäfte, Restaurants, Kneipen und Selbstständige leiden unter dem Corona-Virus

Schild "Sorry, we are closed"Viele Geschäfte geschlossen, die Trottoirs leer wie sonst nur an Weihnachten. Auch in Kreuzberg kommt das öffentliche Leben teilweise zum Erliegen. Foto: ksk

Die wegen des Corona-Virus erlassene Kontaktsperre trifft in Kreuzberg viele Geschäfte, Restaurants, Cafés, Ateliers und Kulturschaffende sehr hart. Nur wenige Läden bleiben geöffnet. Die KuK hat sich umgesehen und umgehört.

Das DODO musste als Raucherkneipe bereits Mitte März seine Türen schließen. Wirt Rolf Jungklaus geht die Sache mit Humor an: »Der Dodo ist seit etwa 330 Jahren ausgestorben. Und das macht ihn unsterblich! Denn wer stirbt schon zweimal aus? Wir lassen uns jedenfalls nicht unterkriegen. Auf dodo-berlin.de gibt es ein Spendenkonto. Wenn wir dann wieder öffnen, feiern wir eine ganze Woche jede Nacht!«

Auch Olaf Dähmlow, Chef des Yorckschlösschens, hofft auf ein feucht-fröhliches Wiedersehen. »Wir versuchen die Situation zu überstehen, haben aber jede Menge Zahlungsverpflichtungen. Das Lokal haben wir komplett runtergefahren und alles leer und sauber gemacht. Viele Musiker sind nun leider ohne Einkommen und haben es sehr schwer.«

Chorleiter Horst Zimmermann von Con Forza ist selbst Musiker: »Mal ehr­­lich, ich genieße die Zwangspause. Der Himmel strahlend blau, keine Kondensstreifen, fast kein Abgasgestank. Der Klavier­unter­richt ist abgesagt, Chor natürlich zuerst, Klaviere stimmen geht mit Abstand und Desinfektionsmitteln am besten, aber mein kleines finanzielles Polster ist in ein paar Wochen geschwunden.«

Sieht man die teilweise leeren Regale im Edeka-Markt an der Ecke Mittenwalder / Gneise­naustraße, könnte man meinen, das Geschäft gehöre zu den Profiteuren der Pandemie. Doch im Gegenteil: »Ich mache deutlich weniger Umsatz als sonst«, erklärt Betreiber Huseyin Geyik. Weil Edeka die großen Märkte bevorzugt beliefert, kommen nur 35 bis 40 Prozent der bestellten Ware bei ihm an.

Horst Schmahl von Radio Art hofft, dass »die allgemeine Lage stabil bleibt. Wir sind als Laden mit Reparaturwerkstatt ganz gut dran und können Kunden Termine zur Abholung der Geräte anbieten. Noch sind Aufträge für April / Mai vorhanden.«

SICK!So kommentiert Pop-Art Künstlerin Tutu die Krise. Foto: ksk

Vu Hoang von der Sprachschule Transmitter ringt wie viele andere mit der Krise: »Uns ist es in den vergangenen zwei Wochen mit viel Mühe und Aufwand gelungen, unsere Sprachkurse in Online-Formate umzuwandeln. Kopfzerbrechen bereiten uns die kommenden Monate. Aber wir sind vorsichtig optimistisch. Drückt uns die Daumen!«

Keine Veranstaltungen mehr in Passionskirche und Heilig-Kreuz-Kirche bis Ende April. Sigrid Künstner vom Akanthus Kulturmanagement: »Ein erheblicher Einnahmeausfall nicht nur für uns, auch für Agenturen, Catering, Verleihfirmen, Techniker, Grafikerin und vor allem für die Künstler.«

Huseyin Geyik in seinem nah&gut-MarktUm Mitarbeiter und Kunden zu schützen, hat Huseyin Geyik Mindestabstände markiert und in Desinfektionsmittel, Handschuhe und Masken investiert. Foto: rsp

Da Broken Eng­lish auch Lebensmittel, Getränke und Drogerieartikel anbietet, bleibt das Geschäft in der Arndtstraße offen. Antje Blank ist »angesichts der funktionierenden hiesigen Gesundheitsversorgung täglich froh, dass wir von London nach Berlin gezogen sind«.

Alan Blim von Just Juggling hingegen musste schließen, setzt aber auf Online-Verkauf: »Da die Jonglage eine hervorragende Aktivität für zu Hause ist, haben wir viel mit Versand zu tun. Wer Bock auf Jonglage hat: einfach ein Anfänger Set von vier Bällen im Online-Shop bestellen!«

CD-Broker Christof Schönberg von UnderCover Media ist täglich im Büro und arbeitet Kleinigkeiten ab: »Ein paar Bestellungen, in erster Linie Material, aber nichts Arbeitsintensives. Es gibt im Bereich der Musik derzeit keinerlei Nachfragen mehr.«

Auch der Verein moment.mal hat seine Yoga­kurse für Kinder ausgesetzt. »Die Einschränkung ist für uns aber absolut nachzuvollziehen und bringt uns finanziell nicht in Gefahr«, sagt Constanze Hashemian, »da wir uns über private Spenden finanzieren und alles ehrenamtlich machen. Wir versuchen, online ein kleines Programm auf die Beine zu stellen.«

Das kleine griechisch-mediterrane Restaurant Nonne & Zwerg hat komplett geschlossen. Außer-Haus-Verkauf allein lohne sich nicht, sagt Kaj Biermann. »Wir wollten im Sommer ein paar Wochen Urlaub machen. Das ziehen wir jetzt vor.«

Beim Kino Moviemento ist jetzt Zeit für eine Grundreinigung von Böden und Sitzpolstern. Als Problem sieht Chefin Iris Praefke die Situation von Mini-Jobbern im Kino, weil Maßnahmen wie Kurzarbeit da nicht funktionieren. Noch könne man aber allen Mitarbeitern ihr Gehalt auszahlen.

Text: Marie Hoepfner, Robert S. Plaul, Klaus Stark

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2020.

Die KuK erscheint weiter

Geschrumpfte Notausgabe im April

Das Corona-Virus ist auch an der Kiez und Kneipe nicht ganz spurlos vorübergegangen. Zwar fühlen sich alle Mitarbeiter gesund und wohl, doch trotzdem produzieren wir diese Ausgabe nicht in den vertrauten Redaktionsräumen, sondern – mit einer Ausnahme – am heimischen Computer, und verbunden sind wir alle über das Netz.

Viele unserer Kunden und Geschäftsfreunde mussten ihre Läden schließen, so wie alle Kneipen und Restaurants in Kreuzberg. Für Kiez und Kneipe bedeutet das einerseits einen erheblichen Anzeigenrückgang. Dass wir überhaupt erscheinen können, verdanken wir all jenen, die der Krise aus unterschiedlichsten Gründen trotzen können und uns weiterhin unterstützen. Dafür an dieser Stelle ein ganz dickes Dankeschön.

Doch nicht nur die Anzeigen gingen zurück. Von ehemals 122 Verteilstellen in Kreuzberg, sind unter 20 geblieben. Dort und vor unserer Redaktion werden wir unser geschrumpftes Blatt nun verteilen. Geschrumpft heißt ganz konkret: zwölf Seiten und eine Auflage von 500 Exemplaren.Dieser Entscheidung gingen lange Diskussionen voraus. Wir debattierten auch darüber, die nächsten Ausgaben komplett ins Netz zu verlegen. Lohnt es sich denn wirklich, eine Kiezzeitung mit 500 Exemplaren zu veröffentlichen? Selbst die erste Ausgabe der KuK ging mit 1.000 Heften an den Start.

Die KuK liegt unter normalen Umständen nicht nur in Kneipen aus. Wir liefern auch in Einrichtungen der Pflege und Seniorenbetreuung, also genau dorthin, wohin Freunde und Bekannte aus einleuchtenden Gründen nicht mehr kommen dürfen.

Die KuK mag in diesen Zeiten dann vielleicht dem ein oder anderen nur ein kleines Fetzchen Normalität bedeuten. Aber schon dafür lohnt es sich, unser schlank gewordenes Magazin auch in der realen Welt unter die Leute zu bringen.

Wir hoffen, dass Sie die KuK im Juni, vielleicht auch erst im Juli oder August, in gewohnter Form wieder lesen können. Wir versuchen durchzuhalten. Bleiben Sie gesund!

Peter S. Kaspar und das ganze Team der KuK

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2020.

Lenau-Abriss vor dem Aus?

Als Reaktion auf unsere neue Rubrik „Wildes Kreuzberg“ erreichte uns der nachfolgende Beitrag, der von unserem Leser Wolfgang Keller verfasst wurde.

Die Kreuzberger Nostitzstraße ist keine Flaniermeile, aber trotzdem eine Adresse. Nämlich die der Lenau Schule. Sie steht vor dem Abriss. Kann die Beobachtung eines Anwohners die Abrisspläne ins Wanken bringen?

Er hatte früher als andere erfahren, was der Schule blühte. Um sich den liebgewonnenen Anblick so lange als möglich zu gönnen, verstärkte er seine Spaziergangsaktivitäten und erlebte eines schönen Sonntags, vor dem schmiedeeisernen Tor zum großen Schulhof, was noch niemand erlebt hatte.

Eine Feuerwanze schritt aufrechten Ganges dem Tor zu, unterquerte es, tat einen deutlich hörbaren Seufzer und brach nach circa zwanzig Zentimetern tot zusammen.

Ein selten Tier, dachte der nun interessierte Anwohner. Dann legte er eine Schweigeminute ein.

Da er vor Wochen in der BZ gelesen hatte, wie eine aufgefundene Knoblauchkröte den Schulneubau am Koppelweg in Neukölln verhindern könnte, sah er seine Chance für bürgerliches Engagement gekommen und benachrichtigte das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Er schilderte ausführlich seine Beobachtung und fügte zugleich die Bitte an, gemäß Koppelweg, jedwede Abriss- oder Baumaßnahme ad acta zu legen, da ja bislang niemand wisse, was er in der Streichholzschachtel nach Haus getragen habe. Denn er selbst habe sich als engagierter Bürger inzwischen darüber informiert, dass die gemeine Feuerwanze ein stummes Krabbeltier sei, also ausscheide. Dass der Leichnam der allgemein bekannten und verbreiteten Feuerwanze zum Verwechseln ähnle, besage gar nichts. Mit engagiertem Gruß.

Es meldete sich telefonisch der wissenschaftliche Dienst des Bezirksamts und bat um Übersendung des Corpus. Der wurde in wattierter Streichholzschachtel zugesandt. Der mittlerweile stark interessierte Anwohner erhielt zwei Monate später die Streichholzschachtel samt Bericht zurück. Darin hieß es, dass es sich zweifelsfrei um die gemeine Feuerwanze (Pyrrhocoris apterus) handle, welche nicht unter Artenschutz stünde, somit auch keine Verzögerung der Baumaßnahmen angeraten sei. Vielmehr würde sich die Nachbarschaft sicher erleichtert zeigen, wenn die Käfer wegen der Baumaßnahmen aus dem Wohngebiet verschwänden, da Schädlinge, wie der Name schon sage, Schäden anrichten. Mit freundlichem Gruß.

Der stark interessierte Anwohner erkannte sofort, dass er mit seiner Beobachtung bei den Falschen gelandet war. Erstens war die Identifizierung falsch, zweitens sind Feuerwanzen keine Käfer und drittens fristen Feuerwanzen ihr Dasein bestenfalls als Lästlinge.

Der nunmehr sehr stark interessierte Anwohner wandte sich an Professor Lex Parker von der Hawaiʻi Pacific University in Honolulu, als einen Spezialisten von Weltruf. An dessen Institut gehen täglich dutzende Feuerwanzenfotos ein mit Variationen der Rückenzeichnung. Immer verknüpft mit der Hoffnung, eine neue Art entdeckt zu haben. Leider sind die Rückenvarianten der gemeinen Feuerwanze dermaßen zahlreich – bis hin zu einfarbig roten Exemplaren –, dass Prof. Lex Parker über Jahre nichts Neues unter die Augen gekommen war.
Anders der Brief aus Deutschland. Auch ohne Foto, versprach die Nachricht neue Erkenntnisse. Professor Parker antwortete umgehend.

Lieber Freund der Naturwissenschaften aus der Nostitzstraße,

Ihr Brief elektrisiert mich. Ich muss das Tier unbedingt unter meine Lupen nehmen. Her damit! Sorgen Sie für schadfreien Versand. Hier einige Hinweise, die sich bewährt haben.

  • Wärmedämmung.
  • Dampfsperre mittels Antidampffolie.
  • Gegen Durchbohren und Durchstoßen hilft nur Metall.
  • Der äußere Mantel hingegen aus Holz. Schraubsysteme sind immer besser als Stecksysteme.
  • Die Ausbreitung von Schall wird mittels Ultraschall-Longitudinalimpulsen gemessen. Tun Sie etwas in der Richtung. Auch Schall kann schädigen.
  • Und unbedingt beachten: Die äußeren Maße des Versandguts müssen kleiner sein als die der engsten Stelle, die während des Transports durchquert werden muss. Ist einfacher, als es sich anhört. Das kennen Sie vom Briefschlitz, old fellow. In ihrem Fall sind Breite und Höhe meiner Labortür zu beachten. Stellen Sie sich einen ausgewachsen Menschen vor. Geben sie nach oben zwei Köpfe dazu. Die Breite ergibt sich, wenn jener Mensch beide Ellenbogen nach außen spreizt.

Lex

Der liebe Freund der Naturwissenschaften aus der Nostitzstraße interpretierte Lexens Katalog als Soll-, nicht als Muss- Festlegungen.

Immerhin entfernte er nach langem Zögern die Trommel aus seiner guten alten Miele, stopfte Zeitungspapier hinein, drückte in die Mitte die Streichholzschachtel mit der Wanze, steckte die Trommel in einen blauen Müllsack und nagelte eine Holzkiste drumherum, die er mit Packpapier einschlug, das er wiederum mit Klebeband bändigte. Für 141,99 Euro ging das Premium-Paket ab in Richtung Honolulu. In die Zollinhaltserklärung schrieb er Waschmaschinentrommel Made in Germany. Das sollte durchgehen. Ging es auch.

Als das Paket auf dem Labortisch in Honolulu lag, arbeitete sich Prof. Lex Parker bis zur Streichholzschachtel im Innern der Trommel vor. Dann endlich lag die Wanze vor ihm.

Dem Hinweis auf den aufrechten Wanzengang ging er nach, indem er die Hinterbeine unter die Lupe nahm. Er entdeckte umfänglich aufgebaute Muskulatur. Eine ebenfalls nie beobachtete trichterförmige Verbindung vom Labium zum Pronotum, die sich grob umgangssprachlich als Megaphon bezeichnen ließe, erklärte das hörbare Seufzen. Die Fachkollegen am Institut waren der einhelligen Auffassung, eine neue Wanzenart auf dem Seziertisch des Chefs gesehen zu haben.

Prof. Lex Parker bereitete einen Aufsatz für den New Scientist vor, dem er den Arbeitstitel Die Wanze als seufzender Wandersmann gab.

Vorab teilte er dem Kreuzberger brieflich in groben Zügen das Obduktionsergebnis mit, dankte ihm und versprach namentliche Erwähnung im Aufsatz.

Der weiterhin sehr stark interessierte Anwohner berichtete triumphierend dem Bezirksamt, welches daraufhin mitteilte, dass man in den Nachtragshaushalt selbstverständlich einen sehr, sehr angemessen Betrag einstellen würde, um die ungemein wissenschaftlichen Bemerkungen jenes Herrn Lex Barker zu überprüfen, der sich vielleicht besser um Winnetou als um auf zwei Beinen laufende, seufzende oder singende Wanzen kümmern möge. Das Schreiben faxte der empörte Kreuzberger umgehend nach Honolulu.

Als der Professor las, wie mit seinem Namen und seinen Forschungen umgegangen wurde, gruppierte er einen Stab von Mitarbeitern um sich und buchte nach Europa. Von zwei US-Kamerateams begleitet, traf die Gruppe mit dem sehr stark interessierten Anwohner vor dem schmiedeeisernen Tor zum großen Schulhof der Lenau Schule zusammen.

„Nice to meet you, old fellow.“

Prof. Lex Parker ließ sich nun die genaue Lauf-, nein, die Gehrichtung der Wanze anzeigen und markierte den Todesort mit einem weißen Kreidekreuz. Dann gab er eine Probe seines detektivischen Spürsinns. Da das Kreuz außerhalb des Schulgeländes liege, die Wanze aber das schmiedeeiserne Tor unterquert habe, könne dass das Tier kein Zu-, sondern müsse ein Abwanderer gewesen sein. Mithin habe der Schulhof als Habitat zu gelten, wo weitere Population jener bis dato vollkommen unbekannten Wanzenart zu vermuten sei, konstatierte er.

Vor laufenden Kameras forderte er im Namen der Wissenschaft, den Schulbesuch vorfristig einzustellen und jegliche Baumaßnahmen zu unterlassen. Er schlug vor, das Gelände blickdicht einzuhegen und im zweiten Stock des Schulgebäudes eine Forschungsstation mit Ausblick auf den Hof einzurichten.

Dann nahm er eine inzwischen angefertigte Lageskizze zur Hand und zeichnete einen Quigong-Platz auf dem Gelände ein. Um des lieben Friedens habe es sich bewährt, der Nachbarschaft ein Angebot zu machen, erklärte er. Dieser Chinasport würde die Tiere, anders als Eishockey oder Baseball, nicht zermürben, fügte er an, um sich dann wieder der Skizze zuzuwenden.

Er markierte auf dem Schuldach, auf dem Dach der Turnhalle und auf den Dächern der rechts und hinten anliegenden Wohngebäude etwa drei Dutzend Orte, wo jene Dächer mit Scheinwerferbatterien zu bestücken seien, um werthaltige Nachtforschung zu ermöglichen. Zu diesem Punkt der Ausführungen wollte der sehr stark interessierte Anwohner einen zarten Einwand erheben, kam aber nicht dazu.

Außerdem seien Richtmikrofone und Bewegungsmelder auf dem Gelände zu installieren, fuhr Prof. Lex Parker fort. Die Crew sei außerdem mit transportablen Großlupen auszustatten, wobei er seine eigene aus der Tasche zog, in die Kameras hielt und verkündete, noch heute die Weltnaturschutzunion, IUCN, zu informieren.

Als Prof. Lex Parker per Räuberleiter das schmiedeeiserne Tor zwecks Begehung des Geländes erklomm, wurde ihm der finale Absprung hausmeisterlicherseits untersagt, da er als schulfremde Person eingestuft wurde. Selbst der Hinweis, dass die TV-Reportage in den USA from coast to coast laufen würde, änderte daran nichts.

Wir bleiben am Ball.

Der Osten und der Westen

Dreißig Jahre Mauerfall – was bedeutet das?

Die Geschichten der Menschen, die dabei waren, als die Mauer fiel, sind spannend. Aber davon haben wir mittlerweile die meisten gehört.

Also fragen wir unsere beiden Redaktionsküken. Was bedeutet Ost und West für Menschen, die nach 1990 geboren sind? Ist die Wiedervereinigung ihrer Meinung nach geglückt? Oder ist Deutschland immer noch gespalten?

Zwei Geschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Geschichten von Ost und West.

Zu den Artikeln:

Ninell Oldenburg: Mein Osten
Victor Breidenbach: Mein Westen

Feiernde Menschen auf Berliner Mauer. Pop-Art von TutuTutu ist Pop-Art-Künstlerin und betreibt seit 2012 eine Atelier-Galerie in der Mittenwalder Straße 16. Dem Thema Mauerfall hat sie eine ganze Bilderserie gewidmet. Diese und ihre anderen Werke kann man in ihrem gemütlichen Ladengeschäft oder auf ihrer Webseite bewundern und Originale, Poster und Postkarten kaufen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.

Gegendarstellung

Gegendarstellung der Neue Riehmers Hofgarten GmbH zum Beitrag »Drohung gegen Spekulanten« vom 06.07.2018

Sie schreiben unter www.kiezundkneipe.de am 06.07.2018 unter der Überschrift »Drohung gegen Spekulanten« in Bezug auf Riehmers Hofgarten:

Bereits im vergangenen Jahr hatten die Eigentümer mit ihren Plänen, das Yorck-Kino abzureißen, von sich hören gemacht. Die dafür notwendige Genehmigung hatte der Bezirk jedoch nicht erteilt. Zwischenzeitlich gibt es einen neuen Plan für Abriss und Neubau, bei dem das Kino erhalten bliebe.

Zu dem hierdurch erweckten Eindruck, dass ursprünglich unsererseits geplant gewesen sei, das Kino nicht erhalten zu wollen, stellen wir fest:

Es war von Anfang an geplant, dass das Kino an gleicher Stelle fortbestehen soll.

Istanbul, den 10. Juli 2018

Neue Riehmers Hofgarten GmbH,
vertreten durch die Geschäftsführer Osman Necdet Turkay und Gurhan Berker

Die Darstellung der Neue Riehmers Hofgarten GmbH ist richtig.
Die Redaktion

Erschienen in der gedruckten KuK vom August 2018.

Justitia hat gesprochen

Teurer Spaß: Wegen eines Links zu einer anderen Zeitung muss die Kiez und Kneipe tüchtig blechen.

»Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand«, sagt ein Sprichwort. Wir haben zwar gewisse Zweifel an einer göttlichen Einmischung, sehen uns als Kiez und Kneipe nun aber leider doch mit den finanziellen Folgen eines verlorenen Gerichtsprozesses konfrontiert.

Was ist passiert? Im vergangenen Jahr hatte eine Leserin eine einstweilige Verfügung gegen uns erwirkt, weil wir auf unserer Webseite auf einen bestimmten Tagesspiegel-Artikel verlinkt hatten, deren Inhalt ihrer Ansicht nach rechtswidrige Äußerungen ent­hielt. Sofort hatten wir den Link entfernt und sogar eine Gegendarstellung veröffentlicht, obwohl das Gericht an unserer eigenen Berichterstattung gar nichts auszusetzen hatte.

Nachdem der Tagesspiegel seinerseits den Artikel entfernt und auch eine entsprechende Unterlassungserklärung abgegeben hatte, waren wir davon ausgegangen, dass die Sache damit erledigt ist – zumal wir ja gar nicht mehr die Möglichkeit gehabt hätten, erneut auf den Tagesspiegel-Artikel zu verlinken.

Trotzdem forderte uns die Gegenseite zur Abgabe einer sogenannten »Abschlusserklärung« und der Zahlung der dafür anfallenden gegnerischen Anwaltskosten auf. Ähnlich wie die Kosten einer Abmahnung sind diese erstattungsfähig, wenn die Erklärung im mutmaßlichen In­ter­esse des Beklagten ist. Da wir wegen der nicht vorhandenen Wiederholungsgefahr aber keinen kostspieligen Prozess vor dem Landgericht befürchten mussten, verweigerten wir die Zahlung.

Leider überzeugte unsere Argumentation die Richterin am Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg nicht, so dass wir jetzt noch einmal insgesamt rund 1.000 Euro an Gericht und Gegenseite zahlen müssen. Bereits Abmahnung und einstweilige Verfügung schlugen mit knapp über 1.000 Euro zu Buche, die wir zum großen Teil aus Spenden bestreiten konnten. An dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank an alle Leserinnen und Leser für Eure Unterstützung!

Umso mehr würden wir uns freuen, wenn Ihr uns noch einmal unter die Arme greift: Mit Geld, einer Anzeigenschaltung oder wenigstens netten Worten … Schreibt uns an info@kiezundkneipe.de oder spendet online.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Mai 2018.

Politik goes Schankwirtschaft

Öffentliche Redaktionsgespräche mit Direktkandidaten des Wahlkreises

In Bild und Ton: Alle Redaktionsgespräche gibt es auch komplett auf dem KuK-YouTube-Kanal. Foto: rsp

Wie vor jeder Bundestagswahl hat sich sie Kiez und Kneipe auch in diesem Jahr mit Direktkandidaten aus dem Wahlkreis getroffen, um zu erfahren, mit welchen Themen sie den Kiez auf Bundesebene vertreten wollen. In Form von öffentlichen Redaktionsgesprächen haben wir die Kandidaten der vier im Bundestag vertretenen Parteien zu Einzelgesprächen in Kreuzberger Kneipen eingeladen. Dabei mussten sich die Politiker nicht nur unseren kritischen Fragen, sondern auch denen der Zuschauer stellen.

Im Vordergrund der Gespräche standen Themen, die derzeit den Kiez bewegen: Die von den meisten als zahnlos empfundene Mietpreisbremse ebenso wie Fragen zur Drogen- und Flüchtlingspolitik. Angesichts des hohen Anteils türkischer Migranten in Kreuzberg – auch drei der vier Kandidaten haben türkische Wurzeln – interessierte uns bei allen Bewerbern um das Direktmandat auch ihre Einschätzung zur Lage in der Türkei.

Auch nach der Einschätzung der eigenen Wahlchancen haben wir gefragt. Denn nachdem der langjährige Inhaber des Direktmandats Hans-Christian Ströbele  (Grüne) dieses Jahr nicht mehr kandidiert, könnten die Karten durchaus neu gemischt werden.

Ströbeles Nachfolge anzutreten, hat sich Canan Bayram auf die Fahnen geschrieben, die derzeit für die Grünen im Abgeordnetenhaus sitzt.

Anders als etwa Cansel Kiziltepe (SPD, seit vier Jahren im Bundestag) ist sie nicht über die Landesliste abgesichert, kann also nur per Erststimme in den Bundestag kommen.

Auch Timur Husein, momentan für die CDU in der Bezirksverordnetenversammlung und auf Listenplatz 9, hofft auf das Direktmandat.

Pascal Meiser (Linke) ist mit Platz 4 auf der Landesliste ebenfalls vermutlich auf die Erststimme angewiesen, wenn er in den Bundestag kommen will.

Erstmalig haben wir die Veranstaltungen auch komplett auf Video aufgezeichnet und auf unserem YouTube-Kanal veröffentlicht.

Hier geht’s zur YouTube-Playliste mit allen Redaktionsgesprächen.

Politik goes Schankwirtschaft
Öffentliche Redaktionsgespräche mit Direktkandidaten des Wahlkreises
Vorhandene Gesetze besser durchsetzen
Timur Husein will sich für mehr Sicherheit stark machen
»Ich will die Leute vor mir hertreiben«
Pascal Meiser möchte für Die Linke in den Bundestag
Canan Bayram tritt in große Fußstapfen
Die Direktkandidatin der Grünen stellt sich im Heidelberger Krug der Diskussion
»Mehr war mit der CDU nicht drin«
Cansel Kiziltepe kämpft für eine linke Mehrheit im Bundestag

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2017.