Von der Bühne auf den Bildschirm

Victor F. Breidenbach sondiert die Online-Theaterlandschaft

Notebook auf KüchentischKultur in pandemischen Zeiten findet unter anderem am Küchentisch statt. Foto: vfb

Spätestens seit dem 13. März und mindestens bis zum 19. April kann man nicht mehr ins Theater gehen. Doch der Spielbetrieb ist nicht gänzlich eingestellt. Viele Theater retten nicht unbeträchtliche Teile ihres Programms in den virtuellen Raum. Es folgt ein kursorischer Einblick in diese neue Theaterlandschaft.

Das Hebbel am Ufer etwa verlegte ein ganzes Festival auf YouTube: »Spy On Me #2 – künstlerische Manöver für die digitale Gegenwart«. »Im Theater forschen wir nach Auswegen aus Gefühlen der Ohnmacht und der Überforderung, die viele Nutzer*innen internetbasierter Technologien empfinden.« Ich berichte aus meiner Küche.

Obwohl die Videoaufnahmen nicht besonders interessant sind, übt James Bridles Kurzfilm »Se ti sabir« aufgrund der eigenwilligen Monologe des Künstlers auch einen eigenartigen Sog aus. Wir folgen ihm auf einem Spaziergang durch die belgische Provinz Limburg, wo er uns zuerst einen seismologischen Messapparat in einem Schieferbruch zeigt. Der Apparat soll feststellen, ob dieser Ort, der für seine geologische Stabilität ausgewählt wurde, tatsächlich stabil genug ist, um das geplante Einsteinteleskop zu beherbergen – ein Gerät, das sehr langsame Gravitationswellen misst und dadurch eine Art Echolokalisierung des Urknalls ermöglicht. Diese durch absolute Ruhe ermöglichte Sensibilität für subtile Prozesse ist für Bridle ein Vorbild der Entschleunigung: »Mich interessierteigentlichnur dieser Moment, in dem wir still genug werden, um die Vibrationen des Universums wahrzunehmen.« Bridle zeigt uns noch weitere Orte und führt ausufernde Monologe über, unter anderem, die einst auf dem Mittelmeer gängige Lingua Franca, das Gehirn von Cephalopoden und seine Vision für künstliche Intelligenz.

Auch »Future Tense: AI from the Margins«, ein poetischer Videovortrag von Nakeema Stefflbauer und Nushin Yazdani, lässt sich problemlos ins Internet übertragen. Wie beim Screensharing sieht man einen unaufgeräumten Desktop, auf dem Videodateien und Browserfenster nacheinander und übereinander geöffnet werden. Auf eingängige Weise kritisieren Stefflbauer und Yazdani die normativen Standards von Algorithmen und die Formen der Diskriminierung, die sie zur Folge haben: In der Justiz benutzte Algorithmen, die das Risiko einschätzen, ob jemand zum Wiederholungstäter wird, diskriminieren zum Beispiel Schwarze, weil sie an Weißen entwickelt wurden. Die künstliche Intelligenz spiegelt und reproduziert gesellschaftliche Vorurteile. Aufzeichnungen des gesamten Festivals sind auf dem HAU YouTube-Kanal abrufbar.

Noch zwei Empfehlungen: Die Schaubühne stellt derzeit für jeweils einen Tag Fernsehaufzeichnungen aus ihrem Repertoire online. Man kann also vieles sehen, wofür man nie Karten gekriegt hat, oder ältere Produktionen beispielsweise von Peter Stein. Auch das Berliner Ensemble stellt großartige Produktionen für jeweils eine Woche ins Netz.

Diese Angebote sind alle kostenlos. Wer es sich leisten kann, sollte deshalb darüber nachdenken, dem jeweiligen Theater etwas zu spenden oder bei bereits gekauften Karten auf Rückerstattung zu verzichten.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2020.

»bUm« statt Google Campus

Das Umspannwerk wird zu einem Haus für die engagierte Zivilgesellschaft

Kunstprojekt »Streetlife« im bUmDas Kunstprojekt »Streetlife« von Erik Sturm und Jugendlichen von KARUNA. Foto: bUm

Einst wollte Google das Umspannwerk am Paul-Lincke-Ufer selbst beziehen. Es wäre der weltweit siebte Google-Campus geworden, mit einem Betreuungsprogramm für Start-ups und einem Google-Café. Jetzt hat dort stattdessen das bUm eröffnet, ein Haus für die engagierte Zivilgesellschaft, in dem gemeinnützigen Organisationen und sozial engagierten AkteurInnen Raum zum Arbeiten geboten wird. Die Trägerorganisationen sind betterplace und Karuna, denen Google das Umspannwerk fünf Jahre mietfrei zur Verfügung stellt. Dass es dazu kam, ist ein Verdienst der organisierten Kiezbewohner Kreuzbergs.

Der Widerstand gegen einen Google-Campus in Kreuzberg wurde von Initiativen wie Bizim Kiez, Lause bleibt, GloReiche Nachbarschaft und Fuck Off Google geführt. Die Kritik wurde unter verschiedenen Gesichtspunkten betrieben. Für manche ist Google das Böse schlechthin, ein Überwachungskomplex und Datendealer. Für andere stand die Befürchtung einer beschleunigten Gentrifizierung im Mittelpunkt. Als das Beispiel für die Wohnraumaufwertung und Verdrängung, die Googles Einzug in eine Stadt oder Nachbarschaft auslösen kann, gilt ihnen San Francisco, wo steigende Mietpreise zu einer Obdachlosenkrise beitrugen. Wenn Kreuzberg gegen einen Google-Campus protestiert, protestiert es zum einen ganz konkret für den Bäcker an der Ecke, für den alten Schallplattenladen und dafür, dass langjährige Mieter nicht wegziehen müssen. Zum anderen protestiert es gegen Google als Symbol der Monopolisierung und der Überwachungsgesellschaft.

Nachdem zahlreiche Demos abgehalten, angeblich ein paar Kaffeebecher und Farbbeutel geworfen wurden und letzlich sogar die Baustelle am Umspannwerk besetzt wurde, gab Google den Plan eines Campus in Kreuzberg auf. Kurz darauf verkündete die Firma, dass das Umspannwerk der Spendenplattform betterplace und der Sozialgenossenschaft Karuna fünf Jahre mietfrei zur Verfügung gestellt werden würde. Statt einem Google-Campus und Inkubator für Start-ups sollte im Umspannwerk also ein Haus für soziales Engagement entstehen – das bUm.

bUm, so wurde auf der Eröffnungsfeier Anfang Oktober verkündet, steht für den Herzschlag der Stadt. Auf insgesamt 3000m², davon 1000m² Gemeinschaftsfläche, ist dort nun eine Art Coworking- und Eventspace für den sozialen Sektor entstanden. Fest eingezogen sind das betterplace lab, die Straßenzeitung Karuna Kompass und die Jugendinitiative MOMO Voice of disconnected Youth. Die restlichen 80 sogenannten flexiblen Arbeitsplätze werden langfristig sowie kurzfristig zu reduzierten Preisen an gemeinnützige Organisationen und sozial engagierte AkteurInnen vermietet. Ein reduzierter Tagespass kostet zum Beispiel 6 Euro, ein Monatspass 45 Euro. Mit dem Solipreis (15 bzw. 60 Euro) kann jeder dazu beitragen, dass auch Organisationen ohne nennenswertes Budget kostenfrei Räume nutzen dürfen. Auch profitorientierte Unternehmen können begrenzt Arbeitsplätze mieten, jedoch zu Normalpreisen.

Dass es keinen Google-Campus in Kreuzberg geben wird, wurde unterschiedlich aufgenommen. »Der 100-Milliarden-Dollar-Umsatz-Tech-Konzern aus Amerika ist vor ein paar Kreuzberger Nachbarschaftsaktivisten in die Knie gegangen«, stand als eine Hypothese bei der Zeit Online. Die taz zelebrierte es ebenfalls als eine »Kapitulation«. Der Fraktionschef der FDP im Abgeordnetenhaus dagegen nannte den Schritt eine »fatale Botschaft an alle zukünftigen Unternehmen und Investoren«.
Als die Aussicht auf einen Kreuzberger Campus endgültig vernebelt wurde, hatte Google den Mietvertrag bereits unterschrieben. Dass Google für das verlorene Investment in Imagekapital entschädigt werden möchte, liegt auf der Hand. Aber das sagt natürlich erstmal nichts über die Arbeit aus, die im bUm geleistet werden wird. Diese Arbeit erscheint sehr vielversprechend. Wer sich einen eigenen Eindruck machen will, kann jeden Mittwoch um 18 Uhr an einer Tour durch das Gebäude teilnehmen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.

Mein Westen

Victor ist in Westberlin aufgewachsen

An erster Stelle stehen die Erinnerungen Anderer. Als wäre ich selbst dabei gewesen, sehe ich meine Eltern am 9. November 1989 gebannt vor ihrem Fernseher in Berkeley, Kalifornien sitzen. Ich stelle mir auch meinen Großvater vor, wie er, nach dem Mauerfall, »die beste Zeit [seines] Lebens« damit verbrachte, im Auftrag der Treuhand ostdeutsche Industrien, die »nicht mehr wirtschaftlich waren«, stückweise an westdeutsche Investoren zu veräußern.

Dass Deutschland noch immer ein gespaltenes Land ist, habe ich als Kind nie wahrgenommen. Das liegt daran, dass ich in einer Westblase aufgewachsen bin: Charlottenburg, dann Nikolassee und die Internationale Schule in Dahlem. Ob jemand aus einem Ost- oder Westhaushalt kam hat dort keine Rolle gespielt, wir hätten es nicht einmal voneinander gewusst. Entweder schien uns der Unterschied inmitten von Diplomatenkindern aus Ägypten, Frankreich und Amerika unwesentlich, oder die deutschen Eltern von Privatschulkindern kamen ohnehin alle aus dem Westen. Mit Ausnahme eines Arbeitskollegen meines Vaters, können auch meine Eltern sich nicht erinnern, in dieser Zeit viel Kontakt mit Ostdeutschen gehabt zu haben. Ich habe also nie gelernt, Menschen in Ossis und Wessis einzuteilen, einfach weil es nicht genug Fallbeispiele in meinem Umfeld gab. Bis heute habe ich nur eine durch Film und Buch informierte Vorstellung davon, was überhaupt damit gemeint ist.

Erst als Jugendlicher gewann der Begriff des Ostens für mich an Gehalt. Und das im Grunde nur im Kontext von »Partymachen«. In den Osten Berlins fuhr ich, um zu feiern. Dort war es, wie man sagte, »abgefuckter« – unverputzte Industriehallen, freigelegte Rohre und Technomusik waren cooler als weiße Hemden und Champagner. Die Welt der Ostklubs war anziehender, aber auch bedrohlicher. Meine frühen Streifzüge durch den Osten assoziiere ich teils mit der Angst, nicht in den Club zu kommen, teils mit schrecklicher Kälte. Besonders eingeprägt haben sich die langen, frostigen Wintermorgenstunden am sonst völlig leeren Ostbahnhof, in denen ich darauf wartete, dass die Züge, die während der Woche erst ab 04:30 Uhr wieder fuhren, mich endlich nach Hause brachten.

Auch von Ostdeutschland habe ich fast nichts gesehen. Einmal bin ich mit mehreren Freunden für ein Wochenende nach Ferchels gefahren. Im Radio warnten sie, es könnte im Umkreis zu Überflutungen kommen, aber das kümmerte uns nicht. Während wir uns drei Tage lang betranken, stieg das Wasser um uns immer höher, bis der Fleck Land, auf dem wir standen, eine Insel geworden war. Ein Amphibienfahrzeug der Bundeswehr hat uns schließlich zum nächsten Bahnhof befördert. Das war mein letzter Eindruck vom östlichen Land, ein paar trostlose Dörfer die unter Wasser stehen, gesehen von einer riesigen Ladefläche aus.

Zu welchem Grad die Wiedervereinigung gescheitert ist, war mir auch später nie richtig klar. Es hat mich zum Beispiel sehr verwundert, als ich erfuhr, dass der Mindestlohn im Osten niedriger ausfällt als im Westen. Dass mir diese Einteilung nie etwas bedeutet hat, ist natürlich ein Westprivileg, und wahrscheinlich würde man sagen, dass ich, ohne mich je darüber identifiziert zu haben, ein richtiger Wessi bin. Langsam wird mir bewusst, wie wichtig es für mich ist, die ersten Schritte zu machen und meine Perspektive auf die Ost-West-Beziehung zu reflektieren. Dazu war mir dieser Artikel eine willkommene Gelegenheit.

Victor Breidenbach, 1995 in Westberlin geboren, lebte bis zum 18. Lebensjahr in Charlottenburg und Nikolassee, studierte Philosophie in New Mexico, USA und zog 2018 nach Kreuzberg, wo er seit Ende des gleichen Jahres für die KuK schreibt.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.

Bergmannstraßenfest dieses Jahr in der Kreuzbergstraße

Das Programm des Bergmannstraßenfests 2019 steht fest

Lageplan Bergmannstraßenfest 2019Im Westen was neues: Kreuzberg jazzt dieses Jahr auf der anderen Seite des Mehringsdamms bis zur Katzbachstraße. Grafik: Toge Schenck

Das Bergmannstraßenfest findet entgegen anders lautenden Ankündigungen auch dieses Jahr wieder statt. Zum 25. Jahr in Folge werden vom 28. bis 30. Juni 50 Bands auf drei Bühnen zu hören sein. Die Theaterbühne an der Großbeerenstraße zeigt neben Theater, Comedy und Tanz auch wieder das beliebte Kinderprogramm am Samstag und Sonntagvormittag.

Eigenartigerweise findet das Bergmannstraßenfest dieses Jahr jedoch nicht in der Bergmannstraße statt. Weil die umstrittenen Parklets, Fahrradbügel und Fahrbahnübergänge den Veranstaltern zu viel Platz in Anspruch nehmen, wird es ausnahmsweise ein paar hundert Meter weiter in die Kreuzbergstraße verlegt. Dort soll eine ganz eigene Begegnungszone geschaffen werden, in der Anwohner aus Berlin, Brandenburg und tausende Besucher der Stadt zusammenkommen können. In der Bergmannstraße wären aufgrund der neuen Straßenmöblierung 80 bis 90 Prozent der zu vermietenden Stände weggefallen. Da der Veranstalter Kreuzberg Festival e.V. keine öffentlichen Gelder bezieht und das Fest sich durch Standgebühren trägt, kam die Bergmannstraße somit nicht mehr in Frage. Daraufhin wurde der Weg geebnet, die Kreuzbergstraße zu bespielen.

Neben der Vielzahl musikalischer Beiträge und kultureller Aktivitäten wird eine abwechslungsreiche Bewirtung mit Getränken und internationalen Leckereien angeboten. Auch Spitzenköche aus Kreuzberg werden in einem Zelt bei der Bühne Großbeerenstraße zu kleinem Preis Kostproben ihres Könnens anbieten.

Mit Wille & The Bandits (UK) und der Honey Island Swamp Band (USA) konnten zwei großartige internationale Bands engagiert werden. Unter den vielen Berliner Auftritten sind Mi Solar, Marcos Coll, Pugsley Buzzard und Kreuzberger Kiezgrößen wir Eb Davis, Roger Raddatz und Blue Bayou. Ebenso wieder mit dabei sind Bühnenprogramme der Kreuzberger Musikalischen Aktion e.V. und der im Kiez ansässigen Agentur Ahoi. Mit dem Slogan »Kreuzberg Jazzt« fassen die Veranstalter den Begriff »Jazz« also relativ offen. Das könnte für dieses Jahr besonders gelten, unter anderem weil der sonst prägende Yorkschlösschen Chef Olaf Dähmlow zum ersten Mal nicht mitorganisiert. Das komplette Programm mit Soundproben der verschiedenen Bands kann auf auf der Webseite des Straßenfests eingesehen werden.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2019.