Sie blieb ihrer Überzeugung treu

Robert S. Plaul erinnert an Regina Jonas, die weltweit erste Rabbinerin

Regina Jonas

Bereits im Mai hat die Bezirksverordnetenversammlung beschlossen, eine Straße nach Regina Jonas zu benennen. Sie war 1938 die weltweit erste Rabbinerin. Unter anderem predigte sie in der heutigen Synagoge am Fraenkelufer. Aber der Reihe nach:

Streng religiös soll das Elternhaus der am 3. August 1902 im damaligen Scheunenviertel Geborenen gewesen sein. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass Regina Jonas nach dem Abitur 1923 ein Studium an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums beginnt. Erst vor ein paar Jahren ist in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt worden, und auch die jüdische Frauenbewegung kämpft für Gleichberechtigung, doch von den Studentinnen der Hochschule ist Regina Jonas die einzige mit dem erklärten Ziel, Rabbinerin zu werden.

1930 schließt sie ihr Studium, das sie mit Hebräisch- und Religionsunterricht finanziert, ab. »Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?« lautet der vielsagende Titel ihrer Abschlussarbeit, in der sie die Frage positiv beantwortet. Bemerkenswert an Jonas’ Kampf für Frauen im Rabbineramt ist dabei, dass ihre Motivation weniger den progressiven Strömungen jener Zeit entspringt, sondern vielmehr ihrer religiösen Überzeugung. Dementsprechend argumentiert sie aus der Tradition des Judentums heraus. »Außer Vorurteil und Ungewohntsein steht halachisch fast nichts dem Bekleiden des rabbinischen Amtes seitens der Frau entgegen«, resümiert sie. »So möge auch sie in einer solchen Tätigkeit jüdisches Leben und jüdische Religiosität in kommenden Geschlechtern fördern.«

Doch obwohl die Arbeit von ihrem Prüfer Eduard Baneth, Professor für Talmudische Wissenschaft, mit »gut« bewertet wird, muss sie noch fünf Jahre auf die Ordination warten – womöglich auch, weil Baneth überraschend stirbt.

Regina Jonas lässt sich derweil nicht entmutigen, gibt weiter Religionsunterricht und hält eine Reihe von Übungspredigten sowie Vorträge zu religiösen Themen. Schließlich findet sie mit Max Dienemann einen liberalen Rabbiner, der bereit ist, sie zu ordinieren.

Doch als »richtige« Rabbinerin mag die Jüdische Gemeinde in Berlin sie zunächst auch da nicht einstellen. Offiziell gibt sie weiter Religionsunterricht und übernimmt »rabbinisch-seelsorgerische Betreuung«. Erst als ab 1938 etliche ihrer männlichen Kollegen vor den Nazipogromen fliehen, arbeitet sie verstärkt als Rabbinerin. Zudem engagiert sie sich bei jüdischen Frauenvereinigungen.

1940 sind immer mehr jüdische Gemeinden ohne Rabbiner, und Regina Jonas wird von der bereits gleichgeschalteten »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« quer durchs Land geschickt, um solche Gemeinden zu betreuen, etwa in Frankfurt/Oder, Braunschweig, Göttingen oder Bremen. Wahrscheinlich hätte auch sie fliehen können, doch sie entscheidet sich zu bleiben und spricht denen, die wie sie geblieben sind, Mut zu.

Anfang 1942 wird sie zur Zwangsarbeit in einer Kartonagenfabrik in Lichtenberg verpflichtet und im November, zusammen mit ihrer Mutter, nach Theresienstadt deportiert. Und auch hier bleibt sie ihrer Überzeugung treu, hält für die Mitgefangenen Vorträge und Predigten und kümmert sich um die Seelsorge von Neuankömmlingen. Am 12. Oktober 1944 wird sie ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verbracht und dort (je nach Quelle) entweder sofort oder am 12. Dezember 1944 ermordet.

Danach geriet Regina Jonas fast völlig in Vergessenheit. Erst in den Neunzigern entdeckte die evangelische Theologin Katharina von Kellenbach in Ost-Berliner Archiven den schriftlichen Nachlass der weltweit ersten Rabbinerin. 2013 erschien der biografische Film »Regina«.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2022 (auf Seite 2).

Wahrheiten in der Dachstube

Peter S. Kaspar über die erstaunliche Geschichte der Rahel Varnhagen von Ense

Der Pförtner in dem früheren Pförtnerhaus der Friedhöfe am Halleschen Tor hatte einen etwas unheimlichen Job. So hatte er unter anderem auf neun Glöckchen zu achten, die in seinem Raum hingen. Es ist nicht überliefert, dass auch nur einmal eines geläutet hätte.

Die Glöckchen waren über Schnüre mit dem benachbarten Kolumbarium verbunden, einem Raum, in dem Tote in ihren Särgen aufgebahrt waren. All diese Särge hatten ein kleines Loch, durch das die Schnüre führten, die mit den Zehen der Leichen verbunden waren. So sollte sichergestellt werden, dass nicht aus Versehen ein Scheintoter beerdigt wird.

Rahel Levin, später Varnhagen, war eine der ersten Saloniéren. Porträt von Moritz Daffinger 1800

Auch die bekannte Saloniére Rahel Varnhagen von Ense hatte eine so panische Angst davor, bei lebendigem Leibe begraben zu werden, dass sie sich nach ihrem Tod nicht bestatten, sondern im Kolumbarium aufbahren ließ.

Den leicht exzentrischen Wunsch verwehrte ihr niemand, noch war jemand davon besonders überrascht. Sie galt schon zu Lebzeiten als eher ungewöhnliche Frau.

Sie wurde am 19. Mai 1771 in Berlin als Rahel Levin geboren. Ihr Vater war Bankier und Juwelenhändler. Die Familie war zwar wohlhabend, aber auch jüdisch, was einen gesellschaftlichen Aufstieg schwierig machte.

Rahel gelang es trotzdem. Sie war eine der ersten Frauen, die einen literarischen Salon eröffneten. 1790 war das, und die Namen auf ihrer Gästeliste konnten sich wahrhaft sehen lassen. Namen wie die der Dichter Heinrich von Kleist, Adalbert von Chamisso, Jean Paul und Ludwig Tieck fanden sich darunter, aber auch von Wissenschaftlern wie den Brüdern Wilhelm und Alexander von Humboldt. Der Neffe des Alten Fritz’, Louis Ferdinand, zählte ebenso zu dem Kreis. Für den Prinzen war die regelmäßige Begegnung mit »normalen« Menschen offensichtlich eine sehr wichtige Erfahrung. Rahel schrieb 1800 in einem Brief: »Wissen Sie, wer jetzt noch meine Bekanntschaft gemacht hat? Prinz Louis. Den find’ ich gründlich liebenswürdig. Solche Bekanntschaft soll er noch nicht genossen haben. Ordentliche Dachstuben-Wahrheit wird er hören.«

Das mit den Dachstubenwahrheiten darf durchaus wörtlich genommen werden, denn Rahels erster Salon war nicht in einem prächtigen Saal in einem pompösen Stadtpalast, sondern in einer vergleichsweise bescheidenen Wohnung im Dachgeschoss.

Das alles hatte sie ganz ohne männliches Zutun geschafft. Ihre Liebesgeschichten endeten immer tragisch, bis 1814, als sie Karl August Varnhagen kennen und lieben lernte. Die Beziehung hatte einen kleinen Schönheitsfehler: Er war 14 Jahre jünger als sie. Der Liebe tat das keinen Abbruch.

Nachdem ihr Gatte geadelt wurde, wurde aus der früheren Rahel Levin endgültig Rahel Varnhagen von Ense.

1819 gründete Rahel in der Mauerstraße ihren zweiten Berliner Salon. Und wieder lockte er zahlreiche große Namen an, wie etwa Heinrich Heine oder den Fürsten Pückler.

Mit 63 starb Rahel und wurde in einem Zinnsarg mit Sichtfernstern aufgebahrt. Erst 25 Jahre nach ihr starb ihr Mann – und erst neun Jahre nach seinem Tod wurde Rahel schließlich an seiner Seite beerdigt. Die beiden liegen nun gemeinsam in einem Grab, das 1956 vom Land Berlin zu einem Ehrengrab erklärt wurde.

 

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.