Frischer Lesestoff von nebenan

Neuerscheinungen aus Kreuzberger Verlagen

Die Leipziger Buchmesse war vor zwei Jahren eines der ersten »Opfer« der Corona-Pandemie und findet in diesem Jahr zum dritten Mal in Folge nicht statt. Das ist blöd für Bücherliebhaber, aber auch ein Problem für Verlage, die dort gerne ihre Neuerscheinungen präsentiert hätten. Auch KuK-Redakteur Robert S. Plaul, hauptberuflich Inhaber des Carpathia Verlags, ärgert sich, dass die zweitgrößte Buchmesse Deutschlands schon wieder ausfällt.

Um zumindest den Kreuzberger Verlagen etwas Sichtbarkeit zu geben, hat er sich bei den Kolleginnen und Kollegen umgehört und gefragt: Was ist euer Spitzentitel, den ihr gerne in Leipzig gezeigt hättet?


Cover »Der Frau«

»Der Frau« ist eine dreistimmige lyrische Textcollage über das Frausein, die im März im VHV-Verlag für Gegenwartsliteratur erscheint. Es sprechen: Mutter, Frau, Eine. Es geht um Mutterschaft und Geburt, um Menstruation und weibliche Sexualität, um das Frauwerden und das Tochtersein, um Sexismus und Rollenbilder, um Schwangerschaftsabbruch, Gewalt gegen Frauen und Selbstbestimmung. Vor allem geht es darum, Dinge auszusprechen, um misogyne Verhaltensmuster und Tabus zu verändern.
Der titelgebende Text wird durch drei weitere ergänzt, die toxische Männlichkeit persiflieren und sich mit Identität an sich und Vergänglichkeit auseinandersetzen. Ein Buch für alle Geschlechter.

Victoria Hohmann
Der Frau
Hardcover
96 S., 22,00 €
VHV-Verlag
ISBN 978-3-948574-07-9
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Cover »Achtung, Geschichtsdiebe«

Eigentlich haben Pavel, Jana und ihr Hund Streusel genug damit zu tun, ihrem Nebenjob als Prager Geister auf Touristenführungen nachzukommen und jeden Sonntag den Geschichten der geheimnisvollen Museumsleiterin Frau Vondráčková zu lauschen. Doch plötzlich geschehen beängstigende Dinge in Prag. Die Firma, eine geheime Untergrundorganisation, will das Herz der Stadt stehlen und sie in eine Geisterstadt verwandeln. Pavel, Jana und Streusel nehmen den Kampf gegen die Firma und ihre gruseligen Helfer auf. Ob sie es schaffen werden, Prag aus dem kalten Griff zu befreien?
Ein wortgewaltiger Kinderroman aus Prags Altstadt von der Historikerin Nicole Grom und Zeichnungen der tschechischen Illustratorin Barbora Kyšková.

Nicole Grom, Barbora Kyšková
Achtung, Geschichtsdiebe
ab 10 Jahren, Hardcover
424 S., 18,00 €
World for kids
ISBN 978-3-946323-20-4
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Cover » Die tollpatschige Giraffe und der verlorene Traum«

Die Giraffe Annette hatte einen ganz wunderbaren Traum. Doch worum ging es nur? Wie sehr sie es auch versucht, sie kann sich einfach nicht erinnern … Ein Glück wollen ihre Freunde helfen! Also probiert sie, eindrucksvoll zu springen wie Rainer Maria, der Fuchs, oder grandios zu singen wie Heinrich, der Frosch – doch jeder ihrer Versuche geht schief. Wird Annette ihren Traum wiederfinden und werden ihr die anderen Tiere neuen Mut machen können?
»Die tollpatschige Giraffe …« von Julia Nüsch ist eine liebevolle Geschichte über verlorene Träume und außergewöhnliche Talente, über das Scheitern und Fassen neuen Muts – aber vor allem über fantastische Freunde und die Erkenntnis, dass jede:r einzigartig ist!

Julia Nüsch
Die tollpatschige Giraffe und der verlorene Traum
ab 3 Jahren, Hardcover
40 S., 18,00 €
Kindermann Verlag
ISBN 978-3-949276-04-0
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Cover » Querkenbeck und die goldene Trompete«

»Querkenbeck und die goldene Trompete« – genau so einzigartig wie der Titel sind auch die Personen dieser brandenburgischen Kriminalgroteske. Geschrieben von einem Autorenduo – freier Musikproduzent Jörg Reinhardt aus Lindow und ehemaliger Studienrat Frank Müller aus Berlin – ist dieser Roman eine Liebeserklärung an den schon von Fontane hochgepriesenen Landstrich zwischen Berlin, Lindow, Kremmen und Kyritz.
Auf der Jagd nach der goldenen Trompete der Prignitz, begeben sich Eigenbrodt und Bentheim, (ebenfalls) zwei wunderbar schräge Vögel, auf die Suche nach Trompetenkenner Querkenbeck, der am Weihnachtsabend spurlos verschwand … Doch sind sie nicht die Einzigen, die es auf das wertvolle Stück abgesehen haben.

Frank Müller, Jörg Reinhardt
Querkenbeck und die goldene Trompete
350 Seiten, 15,90 €
Parlez Verlag
ISBN 978-3-86327-070-4
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Cover »Alles Arschlöcher überall«

Im Carpathia Verlag erscheint im März ein skurriler Roman über eine aus dem Ruder laufende Kneipennacht. Als das Café Exquisit nach einem Streit von einer Horde Nazis belagert wird, müssen sich die unfreiwilligen und nicht mehr wirklich nüchternen Insassen des Etablissements nicht nur mit einem korrupten Polizeidienststellenleiter, einer älteren Dame mit fragwürdigen politischen Ansichten und dem unbändigen Hunger nach Nachos und Pizza herumschlagen. Auch boxt sich bereits der erste Nazi durch die marode Kneipentür. Ob die Bekanntschaft mit einer sprechenden Kakerlake oder der vermeintliche Fund einer antiken Handfeuerwaffe wohl geeignet sind, das Problem zu lösen? Eins ist klar: Es wird eine verdammt lange Nacht.

Jan Bratenstein
Alles Arschlöcher überall
Hardcover mit Schutzumschlag 344 S., 25,00 €
Carpathia Verlag
ISBN 978-3-98630-000-5
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Cover » Herumtreiberinnen«

Die 17-jährige Manja und ihre beste Freundin Maxie schwänzen die Schule und treffen sich mit Jungs im Leipzig der 1980er Jahre. Bis Manja von der Volkspolizei auf die Venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten gebracht wird.
Eingewoben sind auch Erlebnisse von Lilo, die in den 1940er Jahren an diesem Ort festgehalten wurde, da sie mit ihrem Vater für den kom­mu­nis­tischen Widerstand gearbeitet hat, und der Sozialarbeiterin Robin, die in den 2010er Jahren in diesem Haus, nun eine Unterkunft für Geflüchtete, tätig ist.
»Herumtreiberinnen« erzählt die Geschichten drei junger Frauen aus verschiedenen Zeiten und stellt die Frage, welchen Einfluss die Zeit und die jeweilige Staatsform auf ihre Leben hatten.

Bettina Wilpert
Herumtreiberinnen
Hardcover
256 S., 25,00 €
Verbrecher Verlag
ISBN 978-3-95732-513-6
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Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2022.

Volle Fahrt voraus!

Carpathia Verlag feiert Zehnjähriges

Handlager in der Altbauwohnung. Verleger Robert S. Plaul mit den letzten Neuerscheinungen. Foto: cs

Nicht alle Dinge entwickeln sich so, wie man sie sich ursprünglich gedacht hat. Als die drei Kiez-und-Kneipe-Redakteure Peter S. Kaspar, Cordelia Sommhammer und Robert S. Plaul vor zehn Jahren den Carpathia Verlag gründeten, hatten sie eigentlich geplant, eine Satire-Zeitschrift herauszugeben. »Eisberg-Magazin« hätte die Publikation heißen sollen, eine Art freundschaftliche Kampfansage an die etablierte »Titanic«. Doch das ambitionierte Projekt kam über die Nullnummer nicht hinaus – und die junge Unternehmung wurde stattdessen zum Buchverlag.

Nach dem Start mit Kaspars Sachbuch »Koulou Tamam, Ägypten?« über die Auswirkungen der Arabellion auf den Tourismus und Experimenten mit »Kompakt­roman« getauften E-Books in Spielfilmlänge, hat sich das Carpathia-Programm zunehmend in eine belletristische Richtung weiterentwickelt.

Mit derzeit etwa drei Neuerscheinungen im Jahr ist das Verlagsprogramm zwar noch relativ überschaubar, dafür stecke umso mehr Herzblut in jedem einzelnen Buchprojekt, versichert Verleger Robert S. Plaul. »Klasse statt Masse« sei gewissermaßen das Motto. Davon zeugen auch die liebevoll gestalteten Cover und die ansprechende Ausstattung der Bücher.

»Wir können keine 500-Seiten-Bücher für ’nen Zehner verkaufen«, erklärt Plaul, »aber wenn jemand 15 oder 20 Euro für ein Buch ausgibt, dann soll das auch ein bisschen was hermachen.«

Dass es jeden Titel auch als E-Book gibt, sei heutzutage aber ebenso selbstverständlich. »Das ist dann halt nichts zum Anfassen, aber dafür natürlich viel barrierefreier.«

Das Thema Barrierefreiheit ist auch einer der Gründe, warum der Carpathia Verlag etliche seiner Titel als Hörbuch aufgenommen hat. Ende 2019 war das Buch »Was du nie siehst« über den blinden Weltreisenden und Surfer Hansi Mühlbauer erschienen (Rezension). »Hansi hat mir erzählt: Ein Buch zu lesen heißt für ihn, das Hörbuch zu hören.« Umso mehr freut sich Plaul, dass »Was du nie siehst« demnächst auch als Hörbuch erscheint – gefördert von »Neustart Kultur«, einem staatlichen Corona-Hilfsprogramm für die Kreativbranche.

Solche Programme sollte es auch außerhalb von Krisenzeiten geben, findet der Verleger, der sich auch ehrenamtlich im altehrwürdigen »Börsenverein des deutschen Buchhandels« engagiert und für eine strukturelle Verlagsförderung kämpft. »In anderen Ländern in Europa gibt es sowas seit Jahren.«

Am 15. November feiert der kleine Kreuzberger Verlag, der natürlich nach der »RMS Carpathia« benannt ist, also jenem Schiff, das 1912 die Titanic-Überlebenden rettete, sein Zehnjähriges. Zehn Tage lang gibt es zehn E-Books zum halben Preis.

Verlagswebsite: www.carpathia-verlag.de

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2021.

Eine Geschichte der Aufmüpfigkeit

Jürgen Enkemanns Kreuzbergbuch ist erschienen

Buchcover »Kreuzberg – das andere Berlin« von Jürgen Enkemann

Jürgen Enkemann kann wohl mit gutem Gewissen als »Kreuzbergversteher« bezeichnet werden. 1963 zog er nach Abschluss eines philologischen Studiums von Göttingen nach Kreuzberg und blieb dort. Als Mitbegründer und Mitglied zahlreicher Ini­tiativen im Bezirk und Herausgeber des Kiezmagazins »Kreuzberger Horn« (seit 1998) hat er viele der Ereignisse und Entwicklungen selbst miterlebt und mitgestaltet, von denen er in seinem jetzt im vbb verlag für berlin-brandenburg erschienenen Buch berichtet.

»Kreuzberg – das andere Berlin« lautet der Titel des 240 Seiten starken Werks. Was genau Kreuzberg jetzt so anders macht als die anderen Berliner Stadtteile, analysiert Enkemann gründlich und fundiert in zwölf Kapiteln, die jeweils einen thematischen Schwerpunkt näher beleuchten, der für das Werden und Sein, das Selbstverständnis und die Außenwahrnehmung Kreuzbergs eine Rolle spielte und spielt.

Er geht dabei (anders als etwa Martin Düs­pohl in seiner an mehreren Stellen von Enkemann zitierten »Kleinen Kreuzberggeschichte« von 2009) nicht strikt chronologisch vor. Vielmehr ordnet er die Phänomene nach der Zeit ihres ersten Auftretens an und konzentriert sich innerhalb der Kapitel auf die Ereignisse und Entwicklungen des jeweiligen Themas.

Beispielsweise be­ginnt das Kapitel über die (später legendäre) Kreuzberger Künstlerszene mit der Gründung der Galerie zinke 1959 und endet mit Entstehung, Rezeption und Wirkungsgeschichte des Lieds »Kreuzberger Nächte« der Gebrüder Blattschuss, während das darauffolgende Kapitel über die Entwicklung des multikulturellen Kreuzbergs den Bogen von der Anwerbung der ersten türkischen Arbeitskräfte 1961 bis hin zu aktuellen Debatten der Migrationsforschung spannt.

Als roter Faden durch die Geschichte zieht sich immer wieder die Aufmüpfigkeit, die Widerständigkeit des Bezirks, seiner Bewohner und – auch das mit einer überraschenden Kontinuität – seiner Verwaltung.

»Kreuzberg – das andere Berlin« ist keine Bedienungsanleitung für Touristen und Zugezogene, keine launige Anekdotensammlung und auch kein Geschichtsbuch mit Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität. Es ist eine wissenschaftlich fundierte und gleichwohl subjektive Analyse von Tendenzen, Kontinuitäten und Brüchen, reich bebildert mit zeitgenössischen Fotografien, Flugblättern, Plakaten, einem akribisch geführten Quellennachweis und Personenverzeichnis im Anhang.

Auch wenn der Text stellenweise recht nüchtern und sachlich daherkommt, ist das Buch dennoch von der ersten bis zur letzten Seite hochinteressant und uneingeschränkt lesenswert. Auch Leser, die sich (wie die Rezensentin) insgeheim selbst als Kreuzbergversteher verorten, können noch eine ganze Menge erstaunliche Details und Fakten über »ihr« Kreuzberg dazulernen.

Jürgen Enkemann: »Kreuzberg – das andere Berlin«, 240 Seiten, 179 Abbildungen. ISBN 978-3-947215-57-7, 25 Euro

Mehr zum Buch auf der Website des Verlags

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2020.