Mr Postman, look and see, is there a parcel in the bag for me?

Marcel Marotzke erleidet eine postapokalyptische Belastungsstörung. Ein posthumes Protokoll

Freitag, 20:11 Uhr. Per E-Mail erfahre ich, dass mein DHL-Paket in der Postfiliale in der Bergmannstraße liegt.

Samstag, 8:30 Uhr. Voller Motivation reihe ich mich in die bereits 30 Meter lange Schlange vor der Post ein. Die Filiale öffnet erst in einer Stunde, aber die guten Plätze in der Schlange sind heiß begehrt.

9:30 Uhr. Pünktlich öffnen sich die Tore. 20 Meter Schlange passen in den Vorraum. Ich stehe vor der Tür, genau wie die rund hundert Menschen hinter mir.

9:45 Uhr. Ein Mitarbeiter vom DRK verteilt alkoholfreien Glühwein gegen die Kälte.

10:00 Uhr. Ich rücke in den Vorraum auf. Hier gibt es kein Problem mit der Kälte, eher im Gegenteil.

Flaschenpost am StrandMit einer Flaschenpost wäre das nicht passiert. Foto: Settergren / Pixabay

10:15 Uhr. Die junge Frau vor mir, von der ich inzwischen weiß, dass sie Miriam heißt, bittet mich, kurz ein Auge auf ihre Kinder zu haben, die vor den Postfächern Pokémon jagen, und ihren Platz in der Schlange freizuhalten, damit sie in der benachbarten Bäckerei mal auf die Toilette gehen könne.

10:40 Uhr. Miriam ist zurück. In der Bäckerei gab es wohl eine längere Kloschlange mit Postkunden. Außerdem hatte sie etwas länger mit den Beamten der Einsatzhundertschaft diskutieren müssen, die draußen den Zugang kontrollieren.

10:55 Uhr. Ein vollbärtiger Typ mit Holzfällerhemd und riesigen Kopfhörern um den Hals hat es irgendwie an der Eingangskontrolle vorbeigeschafft und erklärt den Wartenden, er müsse nur kurz ein Paket abholen. Die Stimmung droht zu kippen, aber bevor es zu einer Schlägerei kommen kann, flüchtet der Hipster nach draußen.

11:10 Uhr. Die beiden Punks, die sich in den letzten Stunden mit dem netten syrischen Flüchtling angefreundet haben, versuchen, ihm den Zungenbrecher mit dem Potsdamer Postkutscher beizubringen. »Der Postdamer Potskutser …«, versucht er es und muss lachen. Die Stimmung ist allgemein etwas gelöster.

11:30 Uhr. Der Mensch mit dem Gitarrenkasten, der bislang eher gelangweilt herumgestanden hat, packt endlich seine Klampfe aus, und wir singen alle gemeinsam »Hoch auf dem gelben Wagen«.

12:00 Uhr. Noch eine Stunde Zeit, bis die Filiale schließt. Mal sehen, ob das reicht.

12:02 Uhr. Mir fällt ein, dass ich keinen Personalausweis dabei habe. Scheiße!

12:04 Uhr. Miriam hat ihren Ausweis dabei. Auf der Rückseite eines Flyers, der den Top-Kundenservice der Postbank bewirbt, schreibe ich ihr eine Vollmacht zur Abholung meiner Post.

12:30 Uhr. Am Horizont verschwindet gerade der einzige Mitarbeiter der Filiale mit einer Benachrichtigungskarte im Lager.

12:35 Uhr. Der Mitarbeiter ist zurück, allerdings ohne Paket. Aber die Zeit ist trotzdem rekordverdächtig.

13:02 Uhr. Es hat geklappt! Miriam wird als letzte Kundin noch bedient und übergibt mir mein Paket. Vor der Tür erteilt die Polizei gerade Platzverweise an die letzten renitenten Wartenden. Das DRK baut seine mobile Suppenküche ab.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.

Berlin ist doch ein Paradies

Rolf-Dieter Reuter findet einen prominenten Fürsprecher für die Hauptstadt

Mark TwainEr war ein Berliner: Mark Twain lebte fünf Monate in der Stadt. Foto: Library of Congress

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mir geht dieses permanente Berlin-Bashing inzwischen ziemlich auf den Keks. Berlin soll eine grässliche und gefährliche Stadt sein. Ja, ja, der Flughafen wird nicht fertig, die Straßen sind kaputt, die Parks vermüllt und jetzt kommt auch noch der Mietendeckel, der Berlin endgültig in Not, Elend und Chaos stürzen wird.

Jetzt reicht’s, finde ich. Wenn die Stadt so schlimm wäre, dann würde sie doch nicht wachsen wie Unkraut, dann wären die Wohnungen nicht so begehrt und dann bräuchte es keinen Mietendeckel. Es würde ein kleinerer Flughafen ausreichen. Weniger Menschen würden weniger Dreck machen und die Straßen würden auch länger halten.

Berlin ist nicht schlimm, Berlin ist nicht grässlich, Berlin ist eine Erfolgsgeschichte und dafür gibt es prominente Zeugen. Nun ja, mindestens einen.

Es handelt sich um Samuel Langhorne Clemens, der 1891 mit seiner Familie nach Berlin reiste und hier immerhin fünf Monate verbrachte. Samuel Langhorne wie? Clemens. Dahinter verbirgt sich kein geringerer als Mark Twain. Und der hat Berlin gemocht, ja geliebt – und besungen. Nicht wirklich, eher im übertragenen Sinne.

»Ja«, werden Sie nun mit Recht sagen, »das ist jetzt bald 130 Jahre her, da kann sich vieles verändern.« Ja, kann es, muss es aber nicht. Twain schwärmte: »Berlin ist die neueste Stadt, die mir jemals vorgekommen ist.« Und er verglich Berlin mit Chicago – und Chicago kam dabei nicht gut weg.

Und wie wenig sich in 130 Jahren ändert, verdeutlicht Twains hymnische Verehrung der Berliner Straßen, die er noch nirgendwo auf der Welt so breit gesehen hat. Unter den Linden seien eigentlich drei nebeneinander liegende Straßen, mutmaßte er und: »Die Potsdamer Straße ist von beiden Seiten mit Bürgersteigen eingefasst, die breiter sind, als die berühmten Hauptstraßen der größten Städte in Europa.«

Und nun, London, Paris, Rom, Uppsala? Der amerikanische Dichterfürst adelt die Berliner Straßen ausgerechnet am Beispiel der Potse.

Nun gut, er hat um die Ecke in der Körnerstraße gewohnt und hätte es nicht weit zum Gleisdreieckpark gehabt, hätte es den damals schon gegeben. Und er hätte ihm gefallen. Die damalige Nachbarschaft gefiel ihm allerdings weniger. Er nannte seinen Kiez »Paradies der Lumpensammler.« Nun ja, er war halt ein großer Spötter vor dem Herrn.

Und dann die Straßenbeleuchtung, die er mit begeisterten Worten bedachte: »Allabendlich findet eine wahrhaft verschwenderische Beleuchtung mit Gas und elektrischem Licht statt, Berlin bietet daher zur Nachtzeit einen entzückenden Anblick. Überall hat man eine Doppelreihe glänzender Lichter vor sich, die nach allen Seiten in gerader Linie weit in die Nacht hinausläuft.« Das alles schrieb er über 100 Jahre bevor das »Festival of Lights« überhaupt erfunden war.

Twain war voll des Lobes, obwohl er von November bis März in Berlin war. Was hätte er erst geschrieben, wäre er in den Sommermonaten hier gewesen? Außerdem stellte er bewundernd fest, dass Berlin »in jeder Beziehung gut und zweckmäßig verwaltet wird.« Nun ja, auch ein Genie kann sich mal irren.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.

Auf, ihr Yogis, frisch und frei!

Marcel Marotzke feiert die Freiheit und trotzt den Verboten von Idioten

Erfreulicherweise leben wir in einer Gesellschaft, in der ziemlich viele Dinge ziemlich erlaubt sind: Man kann glauben woran man will, sich aufhalten, wo und mit wem man will, und dann dort im Wesentlichen auch tun oder lassen, wozu man Lust hat – wenigstens vorausgesetzt, alle Beteiligten sind damit einverstanden.

Tai Chi auf der Wiese könnte man auch verbieten, schon wegen des Verletzungsrisikos. Überdies werden hier Menschen diskriminiert, die nicht so gelenkig sind.

Foto: rspTai Chi auf der Wiese könnte man auch verbieten, schon wegen des Verletzungsrisikos. Überdies werden hier Menschen diskriminiert, die nicht so gelenkig sind. Foto: rsp

Und das, so würde es unserer verflossener Regierender vielleicht sagen, ist ja auch gut so. Denn die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden: Die einen spielen Fifty Shades of Grey im Hobbykeller nach, die anderen lieben veganes Kochen. Eine Freundin von mir geht seit neuestem wöchentlich zum Yoga, und auch das darf sie in unserer modernen, aufgeklärten Gesellschaft – unverschleiert, obwohl auch Männer in der Gruppe mitmachen.

Allerdings sind ihre bisherigen Bewegungsfähigkeiten beim Yoga selbst nach eigenem Bekunden nicht so weit gediehen, dass sie versehentlich unkeusche Gedanken erwecken könnten. Doch selbst wenn es mit dem »Lotussitz« noch nicht so recht klappen will, und auch wenn ihr »Adler« eher aussieht wie ein »Sterbender Toldalk« – keiner käme auf die Idee, ihre frisch entflammte Begeisterung für körperliche Ertüchtigung mit spiritueller Untermauerung mit einem kreuzbergweitem Yogaverbot zu torpedieren.

Nein, wer sich im Allgemeinen grob an das gute alte »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem and’ren zu« hält, muss eigentlich weder Verbote noch Sanktionen fürchten.

Eine Ausnahme bilden da die Fotozensurabteilung von Facebook, die ihre prüden, amerikanischen Moralvorstellungen gerne auf die ganze Welt angewendet sähe (um die es aber hier nicht gehen soll), und der Berliner Senat. Gerade noch verunsichert der eine verwirrte CDUler mit seinen Alkoholververkaufsverbot-ab-22-Uhr-Plänen eine ganze Branche, da kommt schon der nächste um die Ecke und peitscht eine »Null-Toleranz-Zone« im Görli durch.

Die Dealer am Park­rand, bei denen die Polizei bei Razzien ohnehin nie Drogen findet, wird das wenig kratzen, harmlose Parkbesucher, die alleine oder in Gruppen einen Joint rauchen wollen, um trotz der – auch – politikgemachten Alltagssorgen ent­spannt zu bleiben, dagegen sehr. Grillverbot, Kiff­verbot – was kommt als nächstes, um die besorgten Mütchen der Zehlendorfer Abendschau-Gucker zu kühlen? Ein Musizierverbot würde die Gefahr von Lärmbelästigungen senken, ein Sportverbot könnte eventuell die Unfallstatistiken nach unter korrigieren. Und wenn dann der Park wegen der »Betreten der Grünfläche verboten«-Schilder nicht mehr genutzt wird, ist wieder Platz für neue Luxuswohnungen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2015.

Dem Fögelchen ihr Mann sein Platz

Rolf-Dieter Reuter ist gegen jegliche Art der Diskriminierung – und Bevorzugung

Die Bezirksverordnetenversammlung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg hat sehr ernsthaft mit sich gerungen. Einerseits stand da der Grundsatzbeschluss, solange Straßen im Bezirk nach Frauen zu benennen, bis die Zahl von Frauen- und Männerbenamten Straßen gleich groß ist. Andererseits war da die Umbenennung eines Teils der Koch- in Rudi-Dutschke-Straße und der Gabelsberg- in Silvo-Meier-Straße.

Gretchen-Dutschke-Klotz-und-Rudi-Dutschke-Straße Ecke Friede-und-Axel-Cäsar-Springer-StraßeDann aber bitte konsequent! Foto: psk/cs

Und jetzt ging es es um den Vorplatz des Education-Centers am Jüdischen Museum. Und so kam es, wie es kommen musste: Mit Regina Jonas trat die erste deutsche Rabbinerin an, verfolgt und ermordet von den Nazis, gegen Moses Mendelssohn, bedeutender Philosoph der Aufklärung und Ahnherr einer bedeutenden Familie, wie man gerade in Kreuzberg durchaus erkennen kann. Doch dazu später mehr.

Vorab Grundsätzliches: Ich persönlich habe ja nie verstanden, was das für ein Fortschritt sein soll, wenn gleichviel Straßen nach Frauen benannt werden , wie nach Männern. Das ist Unsinn. Die Geschichte hat eindeutig gezeigt, dass unter Generälen, Massenmördern, Tyrannen, Betrügern, Hochstaplern, Politganoven und ähnlich angenehmen Zeitgenossen, nach denen gemeinhin Straßen benannt werden, deutlich weniger Frauen sind als Männer. Straßennamen spiegeln doch nur die geschichtliche und gesellschaftliche Realität. Je nun. Wenn frau es so will, seufz!

Der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau hatte auf die Frage, ob ein Fußballstadion nicht auch mal nach einer Frau benannt werden könnte, geantwortet: »Und wie soll das dann heißen? Ernst Kuzorra seine Frau ihr Stadion?« Die Geschichte hat Rau überholt. Heute heißen Fußballstadien nach Versicherungsgesellschaften und Automarken.

Aber was war nun mit dem Vorplatz des Education-Centers? Nun ja, Frau Jonas hat verloren, aber Herr Mendelssohn nicht gewonnen . Der Platz sollte nach ihm und seiner Ehefrau benannt werden.

»Das kann nicht ihr Ernst sein«, dachte ich entsetzt , nachdem ich in Wikipedia auf den Namen der Frau gestoßen war: Fögelchen Philipp Neustädtel. Welcher Platz will schon Fögelchen-Philipp-Neustädtel-und Moses-MendelsohnPlatz heißen?
Doch dann die Entwarnung. Mir war ein mendelssohnsches S verloren gegangen. Der Moses mit dem Fögelchen kam zudem aus Hamburg und hatte mit Berlin rein gar nichts zu tun.

Ich persönlich finde es schade, dass Regina Jonas leer ausging. Aber immerhin hat Fromet Mendelssohn zehn Kindern das Leben geschenkt, das ist ja schon einen halben Vorplatz wert.

Der eigentliche Skandal an der Geschichte ist: Während sich die BVV über Gendergeschichten streitet, ist ihr ganz entgangen, dass die Familie in Kreuzberg und Umgebung mit Namen schon ganz gut vertreten ist: Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel waren nämlich die Enkel von Moses und Fromet. Wird da am Ende etwa eine Familie bevorzugt behandelt?

Erschienen in der gedruckten KuK vom Mai 2013.