WM oder nicht WM, das ist hier die Frage

Kreuzberger Kneipen stehen unterschiedlich zum Public Viewing

Weder draußen noch drinnen: Der unterRock zeigt keine WM. Archivfoto: rsp

Natürlich ist es nur Zufall, dass die Fußball-WM 2022 ausgerechnet am Totensonntag angepfiffen wird. Doch dass die diesjährige Weltmeis­terschaft nicht so werden wird wie etwa der 2006 in Deutschland ausgetragene Wettbewerb, dürfte schon jetzt feststehen. Selbst unter Hardcore-Fußballfans ist die Kritik am Gastgeberland Katar mit seinen Menschenrechtsproblemen und den tödlichen Arbeitsbedingungen auf den Baustellen im vergangenen Jahr gewachsen. Soll man sich das Spektakel wirklich ansehen? Und wo (außer zu Hause) kann man das überhaupt? Wir haben uns bei Kreuzberger Kneipen umgehört, wie es dort in Sachen Public Viewing gehalten wird.

»Boycott Qatar« steht auf dem Plakat, das bereits seit Wochen im unterRock hängt. »Sport soll die Menschen vereinen«, sagt Inhaber Harald Jae­nicke, der selbst »ein großer Fußballfan« ist. Das passe nicht zur Menschenrechtssituation in Katar. Zudem findet er es unmöglich, »im Angesicht einer Klimakatastrophe« eine WM in klimatisierten Stadien abzuhalten. Der unterRock ist allerdings ohnehin keine Fußballkneipe, und der Fernseher wird normalerweise nur zu Welt- oder Europameisterschaften aufgestellt.

Anders stellt sich die Situation im backbord dar, wo auch regelmäßig Bundesliga-Fußball gezeigt wird. »Wir zeigen die WM«, sagt Wirt Andreas Wolf. Für die Rolle der FIFA findet er trotzdem zynische Worte: »Ich kann keine qualitative Verschlechterung im Weltfußball feststellen«, konstatiert er. »Das war schon immer scheiße und wird auch immer scheiße bleiben.«

Anno’64-Chef Gerald Merten ist da rigoroser: »Wenn jemand fragt, sag ich knallhart nö«, gibt er zu Protokoll. Ihn ärgert auch, dass für die Übertragung zusätzliche Gebühren fällig werden würden.

Viele Fußballfans sind noch hin- und hergerissen

»Das geht ja alles zu den Lizenzinhabern und nach Katar«, sagt der Wirt. »Da kann ich das Geld auch direkt Putin und den anderen Diktatoren überweisen.« Er findet, »ein bisschen Resthaltung« müsse man schon zeigen.

Joachim Mühle, Wirt des Gasthaus Valentin, ist noch unentschlossen, vor allem weil die Meinung seiner Gäste schwankt zwischen denen, die die WM unbedingt sehen und denen, die sie unbedingt boykottieren wollen. »Das wird eh kein Riesending werden«, glaubt er. Schon bei den letzten Welt- und Europameisterschaften habe es kein »richtiges« Public Viewing mehr bei ihm gegeben. »Ich geh mal davon aus, das wird so nebenher laufen.« Seine fußballinteressierten Gäs­te seien ebenfalls hin- und hergerissen, »aber letztendlich kommen sie dann doch.« Über den Weltfußballverband hat er eine ähnlich hohe Meinung wie sein Kollege aus dem backbord: »Für mich ist die ganze FIFA-Scheiße so untendurch, dass es mich eh nicht mehr interessiert.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2022.

Wo wärst du heute, wenn die Mauer noch stehen würde?

Neun Kreuzberger fragen sich, wie ihr Leben verlaufen wäre. Erinnerung und Spekulation über ein geteiltes Deutschland

Vor fast 21 Jahren fiel die Mauer, und 20 Jahre ist die Wiedervereinigung her. Viele Menschen sind in Zeitungen und im Fernsehen zu Wort gekommen und haben erzählt, wie sie die Wende erlebt haben. Wir haben die umgekehrte Frage gestellt: Wie wäre dein Leben verlaufen, wenn die Mauer noch stehen würde? Wo wärst du heute, wenn es noch zwei deutsche Staaten geben würde?

Almut Gothe: Noch drei Jahre Dienst bei der NVA. Foto: rsp

Für Almut Gothe ist die Antwort einfach. »Ich wäre noch die nächsten drei Jahre bei der NVA.« Schon mit 14 Jahren hatte sie verkündet, Offizier werden zu wollen. Als 20jährige fing sie an, Militärfinanzen zu studieren und verpflichtete sich für 25 Jahre zum Dienst bei der Armee. Ohne die Wende wäre ihr Lebensweg damit fest vorgezeichnet gewesen. Oder zumindest größtenteils. »Vielleicht würde ich jetzt auch im Knast sitzen, weil ich meine Klappe nicht halten konnte.«

Heiko Salmon: »Wäre die Wende nicht gekommen wäre ich Pferdezüchter.« Foto: rsp

Auch Heiko Salmon, glaubte seinen Lebensweg zu kennen. »Ich wäre jetzt Pferdezüchter«, erzählt der gebürtige West-Berliner. Neben seinem Job als Verwaltungsbeamter hatte er damals mit zwei Freunden mit der Pferdezucht begonnen. Nach dem Mauerfall aber brach der Markt zusammen, da das Brandenburger Umland mehr und günstigere Weideflächen bot. Dazu schwand das Interesse des Berliner »Geldadels« am Trabrennen. Auch dass Wehrpflicht jemals ein Thema für ihn sein könnte, hatte er nicht erwartet, bis er Mitte der 90er zur Musterung bestellt wurde.

Harald Jaenicke: Auch kein Jurist, aber schneller. Foto: rsp

Harald Jaenicke, Kreuzberger Kellerkneipenkellner, kam dank anwaltlicher Beratung gerade noch so um den Wehrdienst herum. »Ich weiß nicht, ob es viel anders wäre, vermutlich hätte ich mein Jura-Studium drei Jahre früher abgebrochen«, sagt er. Das Interesse vieler Studenten aus den neuen Bundesländern an einem Studium an der FU sorgte für einen höheren NC und damit für Wartezeit für Harald. »Ich bin ein typisches West-Berliner Kiezkind, aber wahrscheinlich könnte ich mir die Wohnung in Schöneberg nicht mehr leisten.«

Iris Praefke: Vielleicht kein Kino, aber wohl doch was mit Kultur. Foto: rsp

Für Moviemento-Betreiberin Iris Praefke ist die Wende nur ein Faktor von vielen. »Hätte ich nicht zufällig meinen damaligen Freund kennengelernt, hätte ich nie Sozial- und Politikwissenschaften studiert« – was sie durch ein Auslandsstipendium wiederum indirekt zum Kino brachte. In der DDR hätte die Weimarerin aber garantiert nichts politisches studiert. »Wahrscheinlich hätte ich jetzt Kinder und wäre verheiratet. Aber irgendwas kulturelles würde ich wohl schon machen.«

Dominique Croissier: Zurück in der Provinz mit Kind und Kegel. Foto: privat

Dominique Croissier kam schon vor dem Mauerfall her und wäre wohl irgendwann wieder nach Heidelberg zurückgegangen. »West-Berlin war groß aber piefig. Da gab‘s zwar Kreuzberg, aber das war wie ein Dorf.« Als die Mauer weg war, gab es in Ost-Berlin einen gefühlt rechtsfreien Raum, in dem man ein Vakuum besetzten konnte – in Dominiques Fall einen ehemaligen Friseurladen, in dem sie mit ein paar Freunden einen angesagten Club aufmachte. »Ansonsten wäre ich wohl einfach in der Provinz versackt, mit einem ekligen Mann verheiratet, und hätte aus Verzweiflung Kinder bekommen, die wie Opossums an mir hängen würden.«

Chen Castello: »Wäre die Mauer nicht gefallen, wäre ich heute vielleicht tot.« Foto: psk

»Vielleicht würde ich dann gar nicht mehr leben«, meint Chen Castello nachdenklich. 1985 war er wegen des Bürgerkriegs aus seinem Heimatland Mozambique in die DDR geflüchtet und hatte dort im sächsischen Seifhennersdorf einen vierjährigen Arbeitsvertrag erhalten, der 1989 auslief. Ihm drohte die Rückführung und erneute Verfolgung. Ein befreundeter tschechischer Grenzbeamter wollte ihm zur Flucht durch die ČSSR nach Österreich verhelfen. Doch dann fiel die Mauer.

Silke Walter: Markenmanagerin in Berlin statt Kunstlehrerin in der Provinz. Foto: privat

Wäre die Mauer noch da, so würde Silke Walter heute als Englischlehrerin und Kunsterzieherin an einem Gymnasium in einer sächsischen Kleinstadt unterrichten. Wahrscheinlich hätte sie einen Ehemann und zwei Kinder, ihr Leben wäre in ruhiger Bahn verlaufen. Mit dem Fall der Mauer aber hat sich alles geändert. Sie machte Karriere in Berlin in einem internationalen Konzern als Marketingmanagerin und unterrichtet heute als Hochschuldozentin in Sachsen und Berlin ihr Fach Marketing.

Joachim Mühle: Gedenkstätte statt Gaststätte. Foto: rsp

»In der Gastronomie wäre ich eher nicht gelandet«, überlegt Joachim Mühle, Chef des Valentin. Er vermutet, dass er stattdessen ein gutes Auskommen im öffentlichen Dienst oder bei einem freien Träger in West-Berlin hätte. Als Diplom-Politologe suchte er nach dem Abschluss 1993 nach einem Job in einer antifaschistischen Gedenkstätte – aber da gab es 250 Bewerber, teils bereits promovierte Experten aus der DDR.

Claudia Bombach: Keine Souvenirstände am Potsdamer Platz mehr. Foto: psk

»Ich bin fast ein bisschen erschrocken, als ich über die Frage nachgedacht habe«, meint Claudia Bombach. Bei ihr hätte sich ohne den Mauerfall so gut wie nichts geändert. Als Stadtführerin würden ihre Touren heute noch an den Souvenirständen am Potsdamer Platz enden und ein Highlight der Tour wäre noch immer das Schöneberger Rathaus. »Ach, ja und die Mieten in Kreuzberg wären billiger.«

cs

psk

ro

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2010.