Eine Geschichte der Aufmüpfigkeit

Jürgen Enkemanns Kreuzbergbuch ist erschienen

Buchcover »Kreuzberg – das andere Berlin« von Jürgen Enkemann

Jürgen Enkemann kann wohl mit gutem Gewissen als »Kreuzbergversteher« bezeichnet werden. 1963 zog er nach Abschluss eines philologischen Studiums von Göttingen nach Kreuzberg und blieb dort. Als Mitbegründer und Mitglied zahlreicher Ini­tiativen im Bezirk und Herausgeber des Kiezmagazins »Kreuzberger Horn« (seit 1998) hat er viele der Ereignisse und Entwicklungen selbst miterlebt und mitgestaltet, von denen er in seinem jetzt im vbb verlag für berlin-brandenburg erschienenen Buch berichtet.

»Kreuzberg – das andere Berlin« lautet der Titel des 240 Seiten starken Werks. Was genau Kreuzberg jetzt so anders macht als die anderen Berliner Stadtteile, analysiert Enkemann gründlich und fundiert in zwölf Kapiteln, die jeweils einen thematischen Schwerpunkt näher beleuchten, der für das Werden und Sein, das Selbstverständnis und die Außenwahrnehmung Kreuzbergs eine Rolle spielte und spielt.

Er geht dabei (anders als etwa Martin Düs­pohl in seiner an mehreren Stellen von Enkemann zitierten »Kleinen Kreuzberggeschichte« von 2009) nicht strikt chronologisch vor. Vielmehr ordnet er die Phänomene nach der Zeit ihres ersten Auftretens an und konzentriert sich innerhalb der Kapitel auf die Ereignisse und Entwicklungen des jeweiligen Themas.

Beispielsweise be­ginnt das Kapitel über die (später legendäre) Kreuzberger Künstlerszene mit der Gründung der Galerie zinke 1959 und endet mit Entstehung, Rezeption und Wirkungsgeschichte des Lieds »Kreuzberger Nächte« der Gebrüder Blattschuss, während das darauffolgende Kapitel über die Entwicklung des multikulturellen Kreuzbergs den Bogen von der Anwerbung der ersten türkischen Arbeitskräfte 1961 bis hin zu aktuellen Debatten der Migrationsforschung spannt.

Als roter Faden durch die Geschichte zieht sich immer wieder die Aufmüpfigkeit, die Widerständigkeit des Bezirks, seiner Bewohner und – auch das mit einer überraschenden Kontinuität – seiner Verwaltung.

»Kreuzberg – das andere Berlin« ist keine Bedienungsanleitung für Touristen und Zugezogene, keine launige Anekdotensammlung und auch kein Geschichtsbuch mit Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität. Es ist eine wissenschaftlich fundierte und gleichwohl subjektive Analyse von Tendenzen, Kontinuitäten und Brüchen, reich bebildert mit zeitgenössischen Fotografien, Flugblättern, Plakaten, einem akribisch geführten Quellennachweis und Personenverzeichnis im Anhang.

Auch wenn der Text stellenweise recht nüchtern und sachlich daherkommt, ist das Buch dennoch von der ersten bis zur letzten Seite hochinteressant und uneingeschränkt lesenswert. Auch Leser, die sich (wie die Rezensentin) insgeheim selbst als Kreuzbergversteher verorten, können noch eine ganze Menge erstaunliche Details und Fakten über »ihr« Kreuzberg dazulernen.

Jürgen Enkemann: »Kreuzberg – das andere Berlin«, 240 Seiten, 179 Abbildungen. ISBN 978-3-947215-57-7, 25 Euro

Mehr zum Buch auf der Website des Verlags

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2020.

Es geht voran

Die Bedeutung der Baucontainer im Kiez

Der Blick auf schutt­überladene Baucontainer beim Spaziergang durch den Kiez regt den Gedanken an, die Renovierung Kreuzbergs schreite voran. Da keimt die Hoffnung auf eine Zukunft in einer zentralbeheizten Altbauwohnung mit gefliestem Badezimmer, Geschirrspülmaschine und romantischer Aussicht auf die Hasenheide auf. Doch der Blick auf die Marktsituation zum Beispiel in der Bergmannstrasse lässt dieses Luftschloss zerplatzen wie eine Seifenblase. Eine solche Wohnung muss man sich heutzutage schon kaufen, dumm nur, dass sich das kaum einer leisten kann.

Wo wie hier gebaut wird steigen vermutlich bald die Mieten.

Foto: pskWo wie hier gebaut wird steigen vermutlich bald die Mieten. Foto: psk

Dass hier irgendetwas schiefläuft, fiel sogar der Wirtschaftswoche auf. Im März 2009 bescheinigte sie dem Berliner Immobilienmarkt den drittletzten Platz: Mäßige Wirtschaftskraft, sehr mäßige Standortqualität, stagnierende Sozialstruktur – alles durch die Brille des Kapitalanlegers gesehen.

Doch unverdrossen wird weiter renoviert, entmietet, die Miete erhöht und gebaut. Nun hat ein aktiv-kreativer Umgang der Kreuzberger mit gesellschaftlich wirtschaftlichen Gegebenheiten eine lange Tradition. Die Polit-Bewegung der 70er mündete fließend in die Hausbesetzer-Bewegung der 80er, die sich gegen spekulativ erzeugten Leerstand richtete, der Platz für schöne neue Betonbunker geschaffen hätte.

Paradoxerweise wird der Erfolg dieser Hausbesetzer-Bewegung dem Kiez jetzt zum Verhängnis. Das Blatt hat sich gewendet, trotz schlechter Bewertung in Kapital-Fachzeitschriften treten auf dem Kreuzberger Wohnungsmarkt vermehrt solvente Käufer auf, die schicke, szenenahe Altbau-Eigentumswohnungen zu horrenden Preisen erstehen. Aber keine Sorge, auch diese Käufer tragen ihr eigenes Paradoxon mit sich herum. Ist der Umzug ersteinmal überstanden, geht es an die Neustrukturierung des Wohnumfeldes. Wer zwischen zweihunderttausend und einer Million Euro für eine Eigentumswohnung hinblättert, toleriert keine Lärmbelästigung. Mit Hilfe des Ordnungsamtes wird genau die Szene, wegen deren Nähe der Preis gezahlt wurde, mundtot gemacht. Kiez und Kneipe berichtet seit geraumer Zeit über die einschlägigen Probleme der Wirte in dieser Hinsicht.

Trotz der aktuellen Maßnahmen zum Milieuschutz scheint der Raum für die lebendige Szene in Kreuzberg zu schwinden. Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen?

Die politischen Direktkandidaten fordern – je nach politischer Couleur – Veränderungen im Mechanismus der Vergleichsmieten (Wawzyniak), Mietpreisbindungen (Ströbele), Raumzuweisungen für Kulturschaffende (Böhning), flexiblere Handhabung amtlicher Auflagen (Löning) oder bedingungsloses Grundeinkommen (Lengsfeld). Ob irgendeine dieser Maßnahmen gegen einen Verdrängungswettbewerb wirkt, der über die Umwandlung in (oder »Schaffung von«) Eigentumswohnungen geführt wird, bleibt zu beobachten. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass überhaupt Schutzmaßnahmen durchgesetzt werden können.

Kultur und Szene werden von real existierenden, lebendigen Menschen gemacht. Falls die aktuellen Tendenzen anhalten, werden diese Menschen durch einen Typus verdrängt, der »Szene« als ein Produkt begreift, das man kaufen und konsumieren kann. Es bleibt die Frage, wie ein kreativer Umgang mit solchen Gegebenheiten aussehen könnte. Die ersten Flucht-Tendenzen nach Neukölln werden sichtbar – sollte sich die Geschichte dort wiederholen? Der gemeinschaftliche Kauf eines Bonner Stadtteils und anschließende Umwandlung à la Worpswede scheint wenig wahrscheinlich und es ist als Kreuzberger auch nicht einzusehen, weshalb man sich von seinem eigenen Publikum aus der Stadt jagen lassen sollte.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.