Deutschlands intelligenteste Band

Tocotronic auf dem Weg in die Ewigkeit


»Die Unendlichkeit« – so lautet der Titel des neuen, mittlerweile zwölften Studioalbums der Band Tocotronic. Seit 25 Jahren gibt es die Gruppe um Sänger Dirk von Lotzow nun schon – und das ist, nach eigener Aussage, der Unendlichkeit ja schon ziemlich nah.

Angefangen haben die Musiker als Dilettanten. Was sie machen wollten, war zwar schon so etwas wie Musik, Instrumente spielen konnte aber keiner von ihnen. Und das war auch nicht wichtig. Entscheidend war, was wie gesagt und gesungen wird. Das war früher schon neu und auch heute gibt es keine deutschsprachige Band, die ihren Texten so viel Inhalt mit auf den Weg gibt, wie Tocotronic. Mit einem ungetrübten, selbstironischen Blick behandeln sie Themen, die ein ganzes Leben mit Stoff zum Denken ausfüllen. Manchmal geht es um den Alltag, manchmal um Liebe, manchmal um Rebellion und oft kann man das auch gar nicht so genau sagen. Dabei würden sie dem Hörer jedoch niemals eine Meinung aufdrücken. Viel eher vermitteln sie eine Einladung zum Selbstdenken.

Manche der Liedzeilen sind im Tocotronic-Kosmos mittlerweile zu geflügelten Worten aufgestiegen und verkörpern jedenfalls ein bisschen den Geist der vier Musiker. »Pure Vernunft darf niemals siegen«, »Im Zweifel für den Zweifel« und »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« sind nur drei Perlen aus den Untiefen der ausgefeilten Texte. Würde man den Wunsch haben, die Band in eine Schublade zu stecken, so wäre es mit Sicherheit eine mit der Aufschrift »Hamburger Schule« – eine Musikrichtung, die sich durch meistens simple, aber gut durchdachte Musik aus Gitarre, Schlagzeug, Stimme und Bass mit Elementen aus dem Punk, Grunge und experimentellem Pop zusammensetzt und großen Wert auf kluge und sozialkritische Texte legt.

Neben ihrer musikalischen Arbeit unterstützen Tocotronic auch antifaschistische Kampagnen (z.B. »I Can’t Relax in Deutschland«) und setzen sich zusammen mit »Pro Asyl« für den Schutz von Geflüchteten ein.

Im April werden Tocotronic zwei Konzerte in der Columbiahalle spielen. Die ins Ohr gebrachte Unendlichkeit – ein Erlebnis, das sowohl für langjährige als auch ganz neue Fans und Bald-Fans sehr lohnenswert ist.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2018.

Raven gegen Deutschland

Die Band Egotronic polarisiert – und begeistert

Eigentlich kommen die Mitglieder der Elektro-Punkband um Sänger, Frontmann und Ich-AG Projekt Torsun Burkhardt gar nicht aus Berlin. Das heißt: nicht hier geboren. Doch als sich die erste Möglichkeit ergab, steuerte Torsun Berlin als neue Heimat an. Verständlich, denn wer noch nicht über die Bezeichnung Elektro-Punk gestolpert ist, der wird spätestens bei den ersten Tönen wahrnehmen, dass diese Musik nicht in den Odenwald, die eigentliche Heimat, sondern in eine Großstadt passt.

Die musikalischen Wurzeln von Egotronic liegen in den antifaschistischen Zentren Hessens, also: Punk. Allerdings probierte sich Sänger Torsun früh an Elementen der elektronischen Musik und schließlich fusionierten diese beiden Genres zu dem oben benannten Elektro-Punk.

Bekannt wurde die Band durch ihr zweites Studioalbum mit dem klangvollen Namen »Lustprinzip«. Was dort zu hören ist, sind treibende Beats, Bässe und Texte. Sie handeln vom Tanzen gehen, Drogen und manchmal auch ein bisschen Liebe. Aber nie, ohne dem Hörer die politische Einstellung der Band auf dem Silbertablett zu präsentieren.

Als links, autonom und antifaschistisch wird die­se meist beschrieben. Was damit gemeint ist: antideutsch. Mit plakativen Werken wie »Raven gegen Deutschland« erregte und erregt die Band die Gemüter vieler Menschen. Und gibt trotzdem manch unpolitischen oder unentschlossenen Personen einen politischen und musikalischen Anker.

Im Mai 2017 erschien »Keine Argumente«, das neueste Album der Band. Dieses bedient Themen wie den Odenwald, die neue Platte der Band Hammerhead und natürlich Deutschland. Besser gesagt: Anti-Deutschland.

Zu den politischen Positionen kann sich natürlich ein Jeder seine eigenen Gedanken machen und Gegensätze oder Gemeinsamkeiten finden. Gesagt sei nur, dass die Band nicht darauf abzielt, die Massen zu begeistern, sondern zufrieden mit Fans ist, die sich auch mit ihnen identifizieren können. Worüber sich allerdings nicht streiten lässt, sind die großartigen und mitreißenden Konzerte, die in einem ziemlich regelmäßigen Rhythmus auch in Berlin stattfinden. Meine Empfehlung: Hingehen, angucken, raven!

Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2018.

So viel Ehrlichkeit

Max Prosa inspiriert mit großartiger Poesie

Wie ein deutscher Bob Dylan – so wird Max Prosa in den großen Medien beschrieben. Das liegt natürlich nahe, wenn man den Mann mit den Locken, der Gitarre und einer Mundharmonika spielen sieht. Dass er allerdings ein Songbuch von Bob Dylan zur eigenen Inspiration nutzt, verfeinert das Bild umso mehr.

Der Nachname Prosa ist ein Künstlername und angelehnt an das, was Max in seiner Musik unterbringt. Seine Texte sind voller Gefühl über das Leben und die Liebe. Es gehe ihm, wie er in dem Film über sein neuestes Album erzählt, nicht darum, etwas zu sagen, was noch niemand vorher gesagt hat, sondern darum, etwas, was schon oft gesagt wurde, so zu sagen, dass es jeder fühlt. Oder, wie es eine gute Freundin passend ausdrückte: »Ich kenne auch jedes dieser Worte und trotzdem kann ich sie nicht so aneinanderreihen«.

In Charlottenburg aufgewachsen, entschied er sich nach zwei abgebrochenen Studiengängen, sein Leben der Musik zu widmen. Seine Bewerbung an der Mannheimer Popakademie wurde zunächst abgelehnt, doch 2010 durfte er an einem Bandpool-Projekt der Akademie teilnehmen. Bald darauf wurde der Sänger Clueso auf ihn aufmerksam und nahm in auf seiner »An und für sich«-Tour als Vorband mit. 2012 folgte sein erstes wunderbares Studioalbum mit dem bezeichnenden Namen »Die Phantasie wird siegen« und der gleichnamigen ersten Solo-Tour. Nach einem weiteren erschien im März diesen Jahres sein drittes Album. Der erwähnte Film zu »Keiner kämpft für mehr« dokumentiert die Arbeit an dem Album und seine Entstehung. Zusammen mit dem Regisseur Marc Littler fuhr er dafür nach Irland, genau der Ort, an dem er sich vor zehn Jahren für die Musik entschied, und gibt seinen Hörern den Kontext für sein poetisches Schaffen.

Etwas herüberzubringen und dabei ehrlich zu sein, ist das, was sich der Musiker auf die Fahnen geschrieben hat. Und die­se Ehrlichkeit berührt so sehr, dass Tränen auf einem Konzert keine Seltenheit sind.

Am 23. März wird Max Prosa im Lido in der Cuvrystraße spielen und Gedichte lesen. Diesen Abend voller schöner Worte kann ich jedem nur wärmstens ans Herz legen, der den deutschen Bob Dylan kennen lernen möchte.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2018.

Düster und extrem traurig

In Kreuzberg erlebte Nick Cave seine punkigen Zeiten

Geheimnisvoll und düster ist die Comic-Biografie, in der der Berliner Illustrator Reinhard Kleist Nick Cave portraitiert – zwei Adjektive mit denen ein jeder Cave-Fan sein Idol verbindet.

Ursprünglich in Australien geboren, zieht der Sänger erst nach São Paulo, später nach London, Berlin und Brighton. Obwohl er dort bereits ein Kind hat, das fortan bei Mutter und Vater abwechselnd lebt, liebt und genießt er die Zeit in Kreuzberg und Schöneberg. Dort treibt sich Cave oft im Ex’n’Pop herum, im Dschungel-Club und im Risiko in der Yorckstraße. In Berlin erlebt Cave seine lauten und punkigen Zeiten, orientiert sich an der Berliner Undergroundszene und lässt sich von den befreundeten Einstürzenden Neubauten, die ein großes Vorbild für ihn sind, beeinflussen. Mit deren Sänger Blixa Bargeld gründet er bald die mittlerweile sehr berühmte Band The Bad Seeds, in deren Begleitung man Cave noch heutzutage oft auf der Bühne antrifft.

Doch schon früh stellt er klar, dass in ihm mehr schlummert als nur Musik. Im Jahr 1989 ist er erstmals Co-Autor und Darsteller des Filmes »Ghosts … of the Civil Dead«. Und trotz seiner Heroinabhängigkeit schafft es Cave, im gleichen Jahr seinen ersten Roman »And the Ass Saw the Angel« zu veröffentlichen.
Nach dem Umzug in die Küstenstadt Brighton wird Cave ruhiger. Er gründet zusammen mit seiner Frau Susie Bick, die ihn aus der Sucht rettete, eine Familie und gibt sich zusammen mit den Bad Seeds immer mehr den Einflüssen von Blues, Gospel und Country hin. Nach anderen Projekten, wie Soundtracks, weiteren Drehbüchern, einem zweiten Roman und vielen Alben, wird Cave 2007 in die ARIA Hall of Fame aufgenommen und spätestens nachdem er sogar mit einem seiner Idole, Johnny Cash, ein Duett aufnimmt und 2015 zum Mitglied der National Academy of Design gewählt wird, erlangt er weltweiten, verdienten Ruhm.

Doch auf dem Höhepunkt seiner Karriere erleidet Cave einen tragischen Schicksalsschlag: Im Alter von 15 Jahren stürzt sein Sohn Arthur unter Einfluss von LSD von einer der Klippen an der Küste von Brighton in den Tod. Dieser Verlust stellt einen unvorstellbaren Schmerz in Caves Leben dar, der fortan ein Teil des Sängers und seiner Musik ist. Auch der Film »One More Time With Feeling«, der im letzten Winter auch in den deutschen Kinos lief und die Entstehung des neuen Seeds-Album »Skeleton Tree« dokumentiert, hinterlässt beim Zuschauer eine zutiefst düstere und zugleich extrem traurige Stimmung. Eine Stimmung, die auch seine Musik vielleicht nie wieder verlassen wird.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2017.

Hausbesetzers Hausband

Ton Steine Scherben nahmen 1967 ihre ersten Songs auf

Welche Band kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie an Kreuzberg denken? Welche Richtung und welches Flair vermittelt diese Musik? Und aus welcher Zeit stammt sie und warum wurde sie geschrieben? In dieser Kolumne gehen wir den Kreuzberger Nächten und ihrer musikalischen Untermalung auf den Grund. Welche Bands kommen eigentlich von hier? Und was schreibt man über diesen berühmt-berüchtigten Stadtteil, wenn man gar nicht von hier kommt?

Eine Band sticht in der Geschichte Kreuzbergs als damals sogenannte Hausbesetzerband heraus. Eigentlich aus Hessen stammend, zogen die Musiker 1967 nach West-Berlin und nahmen in einem kleinen Studio in Kreuzberg die ersten beiden Songs auf. Einer davon hieß »Macht kaputt was euch kaputt macht« und sollte einen riesigen Bekanntheitsgrad im linksalternativen Spektrum erlangen. Ton Steine Scherben nannte sich die Gruppe um Sänger Rio Reiser. Ein Name, der sich laut Bassist Kai Sichtermann aus einem Brainstorming ergab. Reiser dagegen führt den Ursprung auf ein Zitat zurück.

Die Band haderte stark mit den Herrschenden und den Zuständen unter denen in West-Berlin gelebt wurde. Nachdem sie ihr eigenes Plattenlabel gegründet hatten, riefen sie immer stärker zu Protesten und der Aneignung durch das Häuserbesetzen auf. Sie waren es auch, die 1971 nach einem Konzert das Bethanien besetzten.
Immer wieder katapultierten sie sich durch ihre kritische Meinung und Lieder ins Rampenlicht.

Als sich die Band wegen persönlicher Probleme 1985 auflöste, hatte sie fünf geniale und heute (wieder) viel gehörte Platten veröffentlicht. Da die Platten damals allerdings von schlechter Qualität waren und somit die Nachfrage ausblieb, hatte die Band hohe Schulden. Reiser veröffentlichte daraufhin noch sechs weitere Alben, bevor er 1996 an den Folgen seines Alkoholismus verstarb.

2014 gründete sich die Band erneut und startete eine Tour mit zahlreichen Gastauftritten, bevor sie 2016 ihr endgültiges Gesamtwerk veröffentlichten. Doch der Tod Reisers zehrt an ihrer Bekanntheit und dem Interesse der Hörer. Doch tatsächlich spielen sie auch jetzt immer noch auf leider nur kleinen Bühnen in ganz Deutschland. Doch die Platten leben ewig.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2017.

Sex in the Cinema

Das Pornfilmfestival Berlin feiert seinen 10. Geburtstag / von Robert S. Plaul

Cineasten gilt das Genre »Pornofilm« nach wie vor meist ähnlich viel, wie dem Literaturwissenschaftler der Groschenroman – irgendwie schon ein Bestandteil der Populärkultur, aber meistens nichts, worüber man sich großartig Gedanken machen müsste. Dass diese Einschätzung grundfalsch ist, zeigte erneut das mittlerweile zehnte Pornfilmfestival Berlin, das Ende Oktober wieder fünf Tage lang im Kino Moviemento gastierte.

»Nova Dubai« – Rauer Sex auf den Gentrifizierungsbaustellen São Paulos.

Foto: Pornfilmfestival Berlin»Nova Dubai« – Rauer Sex auf den Gentrifizierungsbaustellen São Paulos. Foto: Pornfilmfestival Berlin

Schon der Name der Veranstaltung ist in gewisser Weise Provokation, Irreführung und Oberbegriff zugleich: Was hier gezeigt wird, ist eben nicht die uninspirierte und uninspirierende Standard-Schmuddelkost à la YouPorn & Co., sondern vielmehr eine facettenreiche Auseinandersetzung mit verschiedensten Formen der Sexualität. Feministische Herangehensweisen an das Thema finden sich hier ebenso wie künstlerisch-ästhetisch-experimentelle und dokumentarische sowie alle möglichen Kombinationen daraus.

»Wir hätten es auch ‚Festival der alternativen Sexualität‘ nennen können«, sagt Mit-Organisatorin Sirkka Möller gerne zu Leuten, die das Konzept noch nicht ganz verstanden haben und vielleicht etwas anderes erwartet haben, »aber wärst du dann gekommen?«

Tatsächlich sind viele gekommen, sehr viele sogar. Kaum eine Vorstellung ist nicht ausverkauft. Manche sind aus Neugierde da, die meisten aber wissen ganz offensichtlich schon, was sie erwartet. Viele Filmemacherinnen und Filmemacher sind anwesend und stehen nach den Screenings für Fragen aus dem Publikum bereit. Das besteht nicht nur seit Jahren zu gut 50 Prozent aus Frauen, sondern auch aus verschiedensten Altersstufen, irgendwo zwischen Student und Frührentnerin.

Die Filme und Kurzfilmprogramme sind im Programmheft mit Kürzeln versehen, um die Orientierung zu erleichtern. »X« und »NX« für explizites bzw. nicht-explizites Material, »D« für Dokus, »SW« für Sex Work. »H«, »L«, »S« und »T« stehen für »Hetero«, »Lesbisch«, »Schwul« und »Transgender«. Es ist ein wenig eigenartig, diese Schubladen zu sehen, hier beim Pornfilmfestival, das gerade davon lebt, eben nicht alles in Schubladen zu packen. Fast wirkt es wie eine Trigger-Warnung: »Achtung, wenn du in diesen Film gehst, wirst du dich vielleicht mit etwas auseinandersetzen müssen, das dir fremd ist.«

»Fuck the Police« nimmt die entsprechende Aufforderung wörtlich.

Foto: Pornfilmfestival Berlin»Fuck the Police« nimmt die entsprechende Aufforderung wörtlich. Foto: Pornfilmfestival Berlin

Tatsächlich zwingen die meisten Filme zur Auseinandersetzung mit Ungewohntem – und sei es, gemeinsam mit fremden Menschen einen expliziten Pornofilm zu sehen. Doch die Stimmung bei den Aufführungen ist gelöst. Es wird viel applaudiert und gelacht – nicht verschämt, sondern herzlich – und das nicht nur in der »Fun Porn«-Kurzfilmkategorie.

Für die meisten Zuschauer ebenso ungewohnt ist zweifellos das diesjährige Schwerpunktthema »Sex und Behinderung«. Hier sei vor allem der beachtenswerte spanische Dokumentarfilm »Yes, we fuck!« von Antonio Centeno und Raúl de la Morena erwähnt, der Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen und ihren Umgang mit Sexualität portraitiert. Weil das Moviemento gerade für Menschen im Rollstuhl schlecht erreichbar ist, gibt es einige Sonderscreenings in barrierefreien Räumlichkeiten – keine wirklich befriedigende Lösung, aber immerhin ein Anfang, das wissen auch die Veranstalter. Aber irgendwie gehört das Moviemento, seit Jahren Spielstätte des Festivals, inzwischen auch fest dazu.

Fünf Tage lang wird das Kino auch zu einem Treffpunkt sexueller Sub-Kulturen. Hier wird niemand blöd angemacht, weil er auf das falsche Geschlecht steht oder komisch aussieht. Das ist ein krasser Gegensatz nicht nur zu der Welt draußen vor der Tür am Kottbusser Damm, sondern auch zu den weltweiten politischen Entwicklungen.

»Schnick Schnack Schnuck« erinnert an den Pornofilm der Siebziger und ist Hommage und Persiflage zugleich.

Foto: Pornfilmfestival Berlin»Schnick Schnack Schnuck« erinnert an den Pornofilm der Siebziger und ist Hommage und Persiflage zugleich. Foto: Pornfilmfestival Berlin

Auch die sind Thema des Festivals. In Großbritannien beispielsweise ist seit Ende letzten Jahres der Vertrieb von Pornos verboten, die bestimmte BDSM-Praktiken zeigen oder auch nur weibliche Ejakulation. In Australien sieht die Lage noch düsterer aus für die Branche. In Deutschland gibt es außer dem Jugendschutzgesetz keine derartigen Vertriebsbeschränkungen – dafür drohen Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern mit der geplanten Änderung des Prostitutionsgesetzes eine Zwangsregistrierung und weitere Gängelungen – von dem Protest dagegen (in der Berliner U-Bahn anlässlich des 40. Welthurentages) handelt der Kurzfilm »Underground Dance« aus dem »Political Porn«-Kurzfilmprogramm. Nicht erstaunlich ist es da, dass auch dem Gewinnerfilm des Festivals, »Nova Dubai« (→Trailer), ein höchst politisches Thema zugrundeliegt, nämlich die Gentrifizierung in einem Vorort von São Paulo.

Wenig überraschend geht der Preis für die beste Regie an Maike Brochhaus für ihren Film »Schnick Schnack Schnuck«, einen Film, der Hommage an und Persiflage auf den Pornofilm der Siebzigerjahre gleichermaßen ist und wie kaum ein anderer etwas vermittelt, das man bei allen gesellschaftspolitischen Diskussionen auch nicht geringschätzen sollte: Den Spaß am Sex, der – gerade vielleicht in der jüngeren Generation – keinen Halt macht vor Konventionen und Geschlechterbildern. Und das ist, ein knappes halbes Jahrhundert nach der sogenannten sexuellen Revolution, dann vielleicht auch einfach mal gut so.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2015.

Wiesbaden war der Vorreiter

Städtepartnerschaft feiert goldenes Jubiläum

Zehn nationale und internationale Partnerschaften pflegt der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Da sind exotische dabei, wie San Rafael del Sur in Nicaragua oder noch recht junge wie mit Oborischte, einem Stadtbezirk von Sofia, die es erst seit 1999 gibt.
Eine Partnerschaft sticht jedoch heraus. Die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden und der damalige Westberliner Bezirk Kreuzberg schlossen vor 50 Jahren eines Städtepartnerschaft – und das war die allererste.

Es war der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, der die Idee der Städtepartnerschaften mit westdeutschen Städten anregte, und es war eine Idee, die unter dem Eindruck des Mauerbaus geboren wurde. Vor allem Berliner Kinder und Jugendliche sollten so die Chance haben, aus der eingeschlossenen Stadt herauszukommen.

Die Städtepartnerschaft mit Wiesbaden war somit Versuchsfeld und Vorbild für alles, was danach kommen sollte, auch wenn andere Partnerschaften ganz anders ausgestaltet sind.

Das ganze Jahr steht im Zeichen von gemeinsamen Veranstaltungen. Zwischen dem Berliner Bezirk und der hessischen Kapitale gibt es deshalb einen intensiven Reiseverkehr. So gibt es Fußballturniere, Kunstprojekte, Zeitzeugengespräche und natürlich einen offiziellen Festakt, für den zwei Tage in Wiesbaden eingeplant sind.

Es gibt nahezu kein Gebiet, in dem die beiden Kommunen nicht in irgendeiner Art miteinander kooperieren. So gibt es seit 20 Jahren einen Austausch von Azubis in der Verwaltung.

Mit Wiesbaden verbunden im Wein

Es wird auch fleißig miteinander gewandert. Dabei nehmen die Wiesbadener ihre Partner aus Berlin schon mal mit in andere Partnerstädte, wie Stettin. Im Gegenzug wandeln die Gäste vom Rhein dann auf den Spuren von Theodor Fontane, wenn zu literarischen Wanderungen durch die Mark Brandenburg eingeladen wird.

Auch Schulen beteiligen sich rege, wenn es darum geht, den Partnerschaftsgedanken mit Leben zu erfüllen. Immer wieder besuchen sich Schulen nicht nur gegenseitig, sondern sorgen auch mit gemeinsamen Projekten für Aufsehen, wie vor sechs Jahren, als ein Wiesbadener Gymnasium und das Leibniz-Gymnasium in Kreuzberg einen Fotowettbewerb mit dem Titel »Wie sehe ich meine Stadt?« organisierten.

Darüber hinaus gibt es natürlich auch noch eine ganze Menge Kontakte zwischen Vereinen, Verbänden oder auch Parteien, die über die Jahre hinweg gewachsen sind, und nicht jede dieser Begegnungen findet noch Eingang ins das offizielle Partnerschaftsprogamm. Insofern ist die Partnerschaft mit Wiesbaden im positiven Sinne schon fast eine Normalität oder gar Routine geworden.

Vieles, was zwischen Wiesbaden und Kreuzberg passiert, geschieht, wenngleich vielleicht nicht so intensiv, auch bei anderen Partnerschaften.

Aber da gibt es ja noch dieses wunderbare Alleinstellungsmerkmal, das die anderen neun Partnerstädte eben nicht haben. Das ganze läuft unter dem Code: »Kreuz-Neroberger«. Das ist der Wein, der in Kreuzberg wächst und den die Wiesbadener im Jahre 1968, also schon vier Jahre nach Gründung der Partnerschaft, nach Kreuzberg brachten.

Seither gedeiht der Riesling, ein Ableger des Wiesbadener Weins, der am Hausberg der Stadt, eben am Neroberg wächst, auch an den Hängen des Kreuzbergs.

Und das soll auch so bleiben. Deshalb hat Wiesbaden nun 70 neue Rebstöcke nach Kreuzberg geschickt.

Gekeltert werden die Trauben nach der Weinlese allerdings nicht in Berlin, sondern im Rheingau – unter der Aufsicht eines Mitglieds der Partnerschaftsvereins.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Mai 2014.

Karneval wird eine Frage des Geldes

Teilnehmerzahlen gehen zurück

Angetrieben mit Muskelkraft: Dieser Wagen benötigte wenigstens keinen Sprit.

Foto: mrAngetrieben mit Muskelkraft: Dieser Wagen benötigte wenigstens keinen Sprit. Foto: mr

Jahre lang hatte die brasilianische Samba-Formation Afoxé Loni den Umzug zum Karneval der Kulturen angeführt. Letztes Jahr fehlte die gelbweiße Formation. Auch in diesem Jahr hatten Gruppen abgewunken. Das Ganze wird einfach zu teuer.

Auch auf dem Straßenfest herrschte nicht nur ungetrübte Freude. Ein Wirt, der sich zum ersten Mal mit einem Stand am Straßenfest zwischen Blücherstraße und Waterloo-Ufer beteiligte, beklagte, dass er rund 3.000 Euro Verlust mit dem Abenteuer Karneval gemacht habe. Tatsächlich waren die Tage außer dem Sonntag alles andere als straßenfestkompatibel. Regen und Kühle vertrieb die meisten Festbesucher recht schnell wieder vom Ort des Geschehens.

Angesichts des Verlustes und der Standmiete von über 3.000 Euro wird der Wirt nicht wiederkommen. Auch Gruppen mit aufwändigen Kostümen und üppiger Ausstattung werden sich eine Teilnahme wohl zweimal überlegen.

Die Macher der größten Parade in Berlin fordern einen öffentlichen Topf, aus dem wenigstens die Teilnehmer des Umzugs ein wenig gesponsort werden können. Angesichts der Haushaltslage beim Senat und im Bezirk wird dies allerdings ein frommer Wunsch bleiben.

Noch immer ist der Karneval der Kulturen ein gewaltiger Magnet für die Besucher. Alleine der Umzug lockt fast eine Million Zuschauer an. Insgesamt waren die Publikumszahlen eher rückläufig, was jedoch dem Wetter geschuldet war.

Ein wenig Geld gibt‘s für die Teilnehmer ja doch – so sie zu dem Preisträgern gehörten. Bei den Gruppen gewann »Ghana« vor »Deutsch-Kameruner Grasland« und »Dancing Dragon«. Bei den Wagen wurde »Carnee« aus Argentinien und einmal mehr der Neuköllner Wagen »49 Kidz 44« ausgezeichnet.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2013.

Plötzlich Gentleman

Robert S. Plaul sah die Verfilmung eines Charles-Dickens-Klassikers

Die Kühle und der Waisenknabe. Estella (Holliday Grainger) will Pip (Jeremy Irvine) nicht an sich heranlassen.

Foto: SenatorDie Kühle und der Waisenknabe. Estella (Holliday Grainger) will Pip (Jeremy Irvine) nicht an sich heranlassen. Foto: Senator

Der Waisenjunge Pip (als Kind: Toby Irvine, als Erwachsener: Jeremy Irvine) wächst in einfachen Verhältnissen bei seiner älteren Schwester und ihrem Mann, dem Dorfschmied Joe Gargery (Jason Flemyng) auf. Ein Jahr nach der Begegnung mit einem entflohenen Sträfling (Ralph Fiennes), dem Pip aus Furcht versucht zu helfen, wird er von der reichen, exzentrischen Miss Havisham (Helena Bonham Carter) als Spielgefährte für ihre Pflegetochter Estella (als Kind: Helena Barlow, als Erwachsene: Holliday Grainger) engagiert. Trotz Estellas kühler Art ist der gerade mal 11-Jährige vom ersten Augenblick in das Mädchen verliebt. Doch die aufkeimenden zarten Bande, denen schon aufgrund des sozialen Unterschieds keine Zukunft beschieden wäre, finden ein Ende, als Miss Havisham seine Besuche nicht mehr wünscht, weil Pip alt genug ist, um bei seinem Schwager in die Lehre zu gehen.

Zehn Jahre später wird Pip von einem unbekannten Wohltäter mit einem kleinen Vermögen ausgestattet, um fortan in London das Leben eines Gentleman zu führen. Schnell findet er sich in die Welt der Snobs ein, und er ist voller »großer Erwartungen« – erst recht, als er Estella wiedertrifft. Doch als er erfährt, wer der geheimnisvolle Wohltäter ist und was hinter dem ungewöhnlichen Arrangement steckt, gerät seine Welt ins Wanken.

Regisseur Mike Newell, der schon so unterschiedliche Filme wie »Vier Hochzeiten und ein Todesfall« und »Harry Potter und der Feuerkelch« gemacht hat, liefert erwartungsgemäß eine solide Verfilmung des Dickens-Klassikers ab. Schauspielerisch am meisten überzeugen allerdings ausgerechnet die Darsteller vermeintlicher Nebenrollen wie etwa Robbie Coltrane als Anwalt Jaggers. Insbesondere Holliday Grainger als erwachsene Estella bleibt hinter ihrer jugendlichen Kollegin Helena Barlow zurück. Auch aus Pips Nebenbuler Bentley Drummle (Ben Lloyd-Hughes) hätte man mehr machen können als einen eitlen Snob. Eine erfreuliche Neuentdeckung hingegen ist Jeremy Irvings kleiner Bruder Toby, der in seiner Rolle als junger Pip sein Debut gibt.

Anders als viele der zahlreichen anderen Verfilmungen – etwa die modernisierte Adaption mit Ethan Hawke und Gwyneth Paltrow von 1998 – hält sich Newells Film sehr eng an den Roman. Allerdings ist der Versuch, ein über 700 Seiten dickes Buch auf 128 Minuten einzudampfen schon prinzipbedingt ein gewagtes Unterfangen, das einige wohlüberlegte Modifikationen erfordert hätte. Keine Frage: Die finstere Hintergrundgeschichte, die erst allmählich ans Licht kommt, ist durchaus komplex. Doch hier wäre es Aufgabe des Drehbuchschreibers David Nicholls gewesen, den Knoten für den Zuschauer zu entwirren.

Nichtsdestotrotz ist »Große Erwartungen« ein sehenswerter Film, der trotz dramaturgischer Schwächen einen Kinobesuch auf jeden Fall rechtfertigt.

»Große Erwartungen« läuft ab 13. Dezember im Kino.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2012.

Neue Sambaklänge zum Start

17. Karneval der Kulturen in Kreuzberg

Fesselnde Vorstellungen beim 17. Karneval der Kulturen in Kreuzberg. Foto: phils

Wie sind die klassischen Karnevals- und Fastnachtshochburgen zu bedauern, dass sie ihre Hohen Tage stets im kalten Januar, Februar oder März feiern müssen. Der Berliner Karneval der Kulturen hat es da mit seinem traditionellen Pfingsttermin schon besser getroffen.

Vier Tage lang beschien die Sonne den 17. KdK, der wie jedes Jahr auf dem Blücherplatz und am Waterloo-Ufer gefeiert wurde. 350 Stände gruppierten sich um die vier großen Bühnen, auf denen vier Tage lang fast ununterbrochen Programm mit Musikrichtungen aus der ganzen Welt geboten wurde.

Die Wiese im Park verwandelte sich wieder zu einem großen Action-Bereich.

Der Samstag gehörte den Kindern, die ihren eigenen Umzug vom Mariannenplatz bis zum Görlitzer Park gestalteten. Dort wartete dann noch ein großes Kinderfest auf die Teilnehmer. Das Motto für den Kinderkarneval lautete in diesem Jahr: »Flieg mit der Eule.«

Den Höhepunkt bildete wie in jedem Jahr der große Umzug vom Hermannplatz bis an die Yorckbrücken. 99 Gruppen und Wagen hatten sich in diesem Jahr angemeldet. Erstmals wurde der Zug von der Gruppe »Sapucaiu no Samba«. angeführt. Somit blieb es zumindest bei süd­amerikanischen Samba-Rhythmen, allerdings war die Optik bunter.

Jahrelang hatten die weiß-gelben Tänzer von Afoxé Loni die Parade eröffnet. Im vergangenen Jahr hatte die Gruppe an ihren Rückzug bekannt gegeben. Grund dafür waren massive Finanzierungsschwierigkeiten, die unter anderem auch mit behördlichen Auflagen zu tun hatten.

Trotzdem waren wieder 80 verschiedene Nationalitäten in fast einhundert teilnehmenden Gruppen vertreten. Sie alle sorgten für einen bunten und abwechslungsreichen Zug, den nach Angaben der veranstaltenden Werkstatt der Kulturen 700.000 Menschen an der knapp dreieinhalb Kilometer langen Strecke verfolgten.

Es ging allerdings nicht nur um ausgelassene Fröhlichkeit. Am Südstern mussten sich die Teilnehmer den gestrengen Blicken der Preisrichter stellen, die die jeweiligen Auftritte bewerteten.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juni 2012.

Fest, Fester, am Festesten

Der Kiez zwischen Karneval der Kulturen und Bergmannstraßenfest

Abschiedsvorstellung? Afoxé Loni führt seit 15 Jahren den KdK-Umzug an. Es war in diesem Jahr wohl das letzte Mal. Foto: mr

Im Juni kam es dann wirklich knüppeldick. Dass sich im späten Frühjahr und im frühen Frühsommer die Feste häufen, ist ja nichts Außergewöhnliches, doch eine solche Ballung auf einen Monat hat es selten gegeben. Mit schuld war natürlich der Kalender, der in diesem Jahr Ostern und damit logischerweise auch Pfingsten auf den zweitspätesten nur möglichen Termin im Jahr geschoben hat. Damit rückte der Karneval der Kulturen anderen traditionellen Junifesten schon bedenklich nahe.

Über eine Million Menschen zog es innerhalb der vier Festtage auf den Blücherplatz und am Pfingssonntag zum großen Umzug. Der wurde möglicherweise zum letzten Mal traditionell von der brasilianischen Formation Afoxé Loni angeführt. Den weiß-gelben Bahnbrechern geht das Geld aus, und ein Auftreten beim Karneval 2012 ist zumindest ungewiss.

Die Gruppe Comparsa Chamanes wusste die Jury am besten zu überzeugen und gewann den Wettbewerb mit 107 Punkten, gefolgt von »Der ungarische Schnurrbart« und den Kids 44 aus Neukölln, die bereits im Vorjahr für ihren Wagen ausgezeichnet worden waren.

Während der Karneval der Kulturen in diesem Jahr vom Wettergott einigermaßen begünstigt war, hatten die anderen Feste nicht ganz soviel Glück. Die Fête de la musique ertrank zwar nicht ganz so im Regen wie vor einigen Jahren, doch der eine oder andere kalte Guss sorgte dann doch für Abkühlung. Insgesamt gab es zumindest im Süden Kreuzbergs etwas weniger Bands, als in den letzten Jahren zu hören, was wohl auch dem Termin mitten in der Woche an einem Dienstag geschuldet war.

Einen feuchten Auftakt erlebte auch das Bergmannstraßenfest. Drei Tage wurde dort gejazzt und am Chamissoplatz von Sterneköchen gekocht. Auf vier Bühnen und in der Passionskirche wurde drei Tage fleißig Musik gemacht. Jazz war dabei aber nicht alles. Darüber hinaus war die Bühne in der Nostizstraße für Theaterprojekte reserviert.

Guten Appetit: Die Kreuzberger Spitzenköche präsentierten am Chamissoplatz für wenig Geld ihr großes Können. Foto: phils

Für den kulinarischen Höhepunkt sorgten sechs Kreuzberger Spitzenköche, angeführt von Stefan Hartmann, der erst vor kurzem für seine Küchenkunst mit einem Stern im Guide Michelin belohnt wurde. Er servierte gebackenen Kabeljau mit französischem Gemüse und Wildkräutern. Für gerade mal sieben Euro konnte sich der Besucher auf diese Weise einmal von einem echten Sternekoch bekochen lassen.

Den Festreigen vervollständigte schließlich das Festival »Berlin lacht«. Auf dem Mariannenplatz hatten sich wieder zahllose Straßenkünstler versammelt, die dort gemeinsam ihr Können darboten. Ganz ungetrübt blieben die Feiern indes nicht. Am ersten Tag des Karnevals stürzte ein betrunkener Gast am Halleschen Tor in den Landwehrkanal und ertrank.

Was hätte Mühlenhaupt gesagt

Wowereit versteigert Bilder des Künstlers für japanische Erdbebenopfer

Zum Ersten, zum Zweiten: Regierender Auktionator Wowereit versteigert Mühlenhäupter. Foto: rsp

Auf der Galerie der Marheineke-Halle bekam der Besucher kaum Luft, so voll war es, als der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit am 26. März die Kurt Mühlenhaupt Ausstellung eröffnete. Anlässlich des 90. Geburtstages des Künstlers fand das Spektakel mit einer Versteigerung von Mühlenhaupt-Drucken statt. In seiner Rede über Leben und Werk des am 16. April 2006 verstorbenen Malers, Schriftstellers und Bildhauers verwies der Regierende auf den Mühlenhaupt, der »auf einer Wolke sitzt und sich über die Entwicklung Kreuzbergs freut«. Dem widersprach der Kreuzberger Bürgermeister Frank Schulz: »Ich glaube nicht, dass Mühlenhaupt seine Freude an der Entwicklung der Kreuzberger Mieten hätte«. Der Künstler wurde zweimal von Sanierung und Modernisierung gezwungen, sich eine neue Bleibe zu suchen. Mühlenhaupt, der rund um den Chamissoplatz arbeitete, hat in seinen Werken immer die Liebe zu Kreuzberg zum Ausdruck gebracht. Abgerundet wurde die Veranstaltung von Schauspielern, die aus Mühlenhaupt-Texten vorlasen.

Als Auktionator gefiel sich Wowereit und machte hier einen richtig guten Job. Die drei von Hannelore Mühlenhaupt, der Ehefrau des Verstorbenen, gestifteten Drucke gingen für insgesamt 4200 Euro an Kunstliebhaber. Zugute kam dieses Geld den Katastrophenopfern in Japan, das der japanische Gesandte entgegennahm.

Die Ausstellung ist noch bis 30. April zu besichtigen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2011.

Kunst zum Gedenken an Knut

Kulturkuratorium in Kreuzberg will den toten Eisbären würdigen

Der Eisbär Knut in jungen JahrenTrauer um Knut – auch in Kreuzberg. Foto: Jens Koßmagk/Wikipedia

Der unerwartete Tod von Eisbär Knut hat auch in Kreuzberg große Bestürzung hervorgerufen. Doch mit einfacher Trauer um den Dahingeschiedenen wollte es die 57jährige Sozialpädagogin und angehende Kunsthistorikerin Chlodhild Rheinweis dann doch nicht bewenden lassen. Die Kreuzbergerin gehörte zu den großen Fans von Knut und stattete dem Bären in den letzten vier Jahren mindestens zwei Mal wöchentlich einen Besuch ab.

Seither habe sie auch keinen Urlaub mehr gemacht, erklärt sie. Für Knut, der zum Inbegriff des Berliner Bären geworden sei, müsse mehr getan werden, als eine Statue im Zoo zu errichten oder ihn ausgestopft im Naturkundemuseum zu präsentieren.

»Kreuzberg ist das kreative Epizentrum der Republik«, meint Frau Rheinweis, die ankündigt, zu Ehren des verstorbenen Polarbären das »Kulturkuratorium Knut Kreuzberg«, kurz KKK zu gründen. Zentrale Aufgabe des Kuratoriums wird sein, einmal jährlich zweiwöchige Knut-Festspiele zu organisieren, in dem in vielfältigen künstlerischen Formen des Zoolieblings gedacht wird. Schon vor der Gründungsversammlung am 1. April im ehemaligen Bethanien-Krankenhaus haben sich zahlreiche Aktionsbündnisse entfaltet.

Beispielsweise arbeitet derzeit eine Gruppe an einem Ausdruckstanz, der Knut in seinem ebenso klischeebehafteten wie problematischen Verhältnis zum anderen Geschlecht darstellen soll. Dazu Frau Rheinweis: »Ich sage nur Giovanna!« Die Münchner Eisbärin hatte Knut einst auf offener Bühne geohrfeigt.

Weiterhin sind Ausstellungen, Konzerte und Körperperformances geplant. Eine Oper, die den Auftakt der Festspiele im August bilden soll, sieht gerade ihrer Vollendung entgegen.

Das neugegründete Kuratorium hat allerdings zu gewissen Verstimmungen zwischen den Bezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg geführt. Chlodhild Rheinweis räumt zwar ein: »Uns ist wohl bewusst, dass Knut eigentlich ein Tiergärtner war, aber hier geht es um das kreative Potential.« Der Konflikt konnte allerdings entschärft werden. Höhepunkt der Festspiele wird am 28. August die »Knut-Parade«, die von den Yorckbrücken aus zum Landwehrkanal und von dort bis zum Zoo führen wird.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2011.

Rettung in letzter Sekunde

Archiv der Jugendkulturen geht stiften

Was ist der Unterschied zwischen Gothics und Emos? Welche Musik hören Skater? Und wie ist das mit der Jugendkriminalität? Fragen wie diese sind es, die sich hevorragend im Archiv der Jugendkulturen in der Fidicinstraße klären lassen – vorausgesetzt, man ist bereit, sich durch den riesigen Berg von rund 8.000 Büchern, 30.000 Fanzines, 8.000 Schülerzeitungen und 480 Diplomarbeiten zu wühlen. In zwölfeinhalb Jahren ist hier die wahrscheinlich umfangreichste Sammlung zum Thema Jugendkultur entstanden und kann von jedermann kostenlos für Recherchen genutzt werden.

Archivgründer Klaus Farin inmitten der Zeitschriftensammlung. Foto: rsp

Doch obwohl das als Verein geführte Projekt seit Jahren auch einen wichtigen Beitrag für die Forschung leistet und bereits mehrfach für seine Schulprojekte ausgezeichnet wurde, muss es ohne einen Cent Regelförderung auskommen. Nach Bundesfamilienministerin Schröder hat zuletzt auch Bildungssenator Zöllner eine Förderung der Einrichtung abgelehnt. Die laufenden Kosten werden aus Spenden von Mitgliedern, einzelnen Förderern und den Einnahmen des eigenen Buchverlags mehr schlecht als recht getragen, die meisten Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich. Zu Ende Oktober stand deshalb die Entscheidung an, ob man den Mietvertrag verlängert oder das Projekt aufgibt.

Bereits vor einigen Monaten hatte der Verein daher die Gründung einer Stiftung beschlossen. Ziel war es, bis zum 31. Oktober die Stiftungssumme von 100.000 Euro zusammenzubekommen.

Dank der Spendenbereitschaft von Wissenschaftlern, Privatpersonen, Bundestagsabgeordneten aber auch 15-jährigen Schülern und Jugendclubs kamen bis zum Stichtag immerhin knapp 94.000 Euro zusammen. Damit wird es auf jeden Fall weitergehen, so Klaus Farin, Gründer des Archivs. Trotzdem darf natürlich weitergespendet werden. Denn wenn mehr als 100.000 Euro zusammenkommen, hat er auch schon Pläne.

»Wir bekommen ständig Anfragen von Leuten, die ein Freiwilliges Soziales Jahr machen wollen, können uns das aber momentan nicht leisten«, erklärt Farin. Mit dem Geld könnte das Archiv einen FSJ-Platz einrichten.

Sinn der Stiftungsgründung ist vor allem, in Zukunft einfacher an Fördergelder zu kommen, denn die Gesetzgebung erlaubt es, Spenden an Stiftungen einfacher steuerlich abzusetzen. Darüberhinaus genießen Stiftungen aufgrund ihrer Rechtsform ein relativ hohes Ansehen, da Spender sich sicher sein können, dass keine Gelder veruntreut werden.

Viel zu forschen: Meterweise Literatur zu den vielen Aspekten von Jugendkultur ergänzt die Sammlung von Fanzines und Flyern. Foto: rsp

Geld jedenfalls wird das Projekt auch weiterhin benötigen. Denn allein für Miete und Nebenkosten wie Strom und Versicherungen für die 700 Quadratmeter wird monatlich ein Betrag im oberen vierstelligen Bereich fällig.

Neben dem reinen Archivbetrieb, wird in der Fidicinstraße auch selbst zum Thema geforscht. Mit dem »Journal der Jugendkulturen« gibt es eine eigene Fachzeitschrift. Regelmäßig finden in den Räumlichkeiten auch Ausstellungen statt – wie zuletzt die Fotoausstellung »Heimat«, bei der es um Berliner Jugendliche mit verschiedenen kulturellen Hintergründen ging. Darüberhinaus ist das Archiv auch bundesweit unterwegs: Im Rahmen des Projektes »Culture on the Road« werden in Workshops und Projekttagen jugendkulturelle Themen vermittelt. Zielgruppe sind einerseits Schüler, andererseits Lehrer, Sozialarbeiter und Erzieher.

Weitere Infos: www.jugendkulturen.de

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2010.