Meine Oma hört im Hühnerstall Motörhead

Marcel Marotzke geht dem Wahrheitsgehalt von historischem Liedgut auf die Spur

Vierzylindermotorrad des belgischen Herstellers FN vom 1905Der belgische Vierzylinder des Herstellers FN ist kaum wendig genug für einen durchschnittlichen Hühnerstall. Foto: Yesterdays Antique Motorcycles en Classic Motorcycle Archive, FN 363 cc viercilinder 1905, CC BY-SA 3.0

Bevor mich jemand der Urheberrechtsverletzung oder, schlimmer, des unwissenschaftlichen Arbeitens zeiht, sage ich es lieber gleich zu Anfang: Die Überschrift dieser Kolumne stammt nicht von mir, sondern vom Twitter-User @mogelpony. Sie hat auch nichts mit der eigenartigen Debatte vom Jahreswechsel zu tun, in der es, so darf man das wohl zusammenfassen, darum ging, ob und mit welchen Worten man seine Ahnen der Umweltverpestung bezichtigen darf, denn der zitierte Tweet stammt von 2012.

Und sie hat auch nichts mit meiner eigenen Oma zu tun. Denn auch wenn ihre Eltern damals eine Schmiede hatten – soweit ich weiß ohne Hühnerstall –, war es in den Zwanzigerjahren mit Heavy-Metal noch nicht so weit her. Allerdings fuhr meine Oma durchaus Motorrad, denn das Lyzeum, das man ihr zu besuchen erlaubte, war mit dem ÖPNV, den man damals noch nicht so nannte, nicht vernünftig zu erreichen. A little bit of history repeating.

Auch mein Opa litt unter dem mies ausgebauten Personennahverkehr, und so lernte er einige Jahre später meine Oma kennen, als sie wiederholt seine Taxi-Chauffeurin war. Der urgroßelterliche Betrieb hatte sich mittlerweise auf das Reparieren von Automobilen verlegt und mit den Kraftdroschken ein zweites Standbein aufgebaut. Motorisierter Individualverkehr war damals die Zukunft. Einem Rühmann-Film mit dem Titel »Die drei von der Bushaltestelle« wäre wenig Erfolg beschieden gewesen.

Zu meinen frühesten Leseerinnerungen gehört das gelbe Schild an der großelterlichen Garage, das vor einer Kohlenmonoxidvergiftung beim Laufenlassen des Motors warnte. Und als mir meine Oma das Lied mit der Motorradfahrerin beibrachte, war meine größte Sorge nicht die Verletzungsgefahr des Federviehs, sondern die giftige Luft im Stall. Meine Oma erklärte mir damals, dass es ja nicht um eine wirkliche Oma in einem wirklichen Hühnerstall ginge, sondern dass das Ganze einfach nur ein lustiges Lied sei. Deshalb besäße sie auch keinen Nachttopf mit Beleuchtung, keine Brille mit Gardinen, und sie hätte auch – zu ihrem Bedauern, wie sie anfügte – kein Radio im hohlen Zahn. Den Scherz mit der gesparten Rundfunkgebühr, den sie dann noch machte, verstand ich zwar als kleiner Knirps noch nicht, aber den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion verstand ich schon. Eine Fiktion, in der niemand zu Schaden kommt, weder die aufgescheuchten Tiere, noch die tollkühne Bikerin, so bescheuert und unvernünftig ihr Verhalten auch gewesen sein mochte.

»Wo wir gerade von hohlen Zähnen sprechen«, sagte meine Oma dann, »du musst noch Zähne putzen.« Mit der zerstörten Hoffnung auf ein eigenes Radio wurde ich ins Bad geschickt.

Meine Oma war vielleicht, wie man so sagt, »ein Kind ihrer Zeit«, aber zweifellos auch ’ne ganz patente Frau. Und wenn sie nicht kurz vor Einführung des Grünen Punktes gestorben wäre, hätte sie auch die Sache mit der Mülltrennung hinbekommen, da bin ich mir sicher.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2020.

Wenn Gaia noch schläft

Ninell Oldenburg hat beim Rebschnitt am Fuße des Kreuzbergs geholfen

Rebschnitt am Fuße des KreuzbergsRebschnitt in der Kälte mit Peter (Mitte links) und Timo (Mitte rechts). Foto: no

Es ist Sonntag. Es ist kalt. Es ist nass. Berlin liegt im Bett.

Ich stehe auf, ziehe mir fünf Paar Socken und sechs Schichten obenrum an und fahre zum Kreuzberg. Ich bin verabredet: zum Rebschnitt.

So vielfältig Kreuzberg auch ist, eine der wenigen Sachen, die man neben Sonne im Januar garantiert nicht mit dem Stadtteil verbindet, ist Wein. Und nun stehe ich da wie ein Michelin-Männchen und habe eine Gartenschere, nein, Rebschere in der Hand.

Ich treffe Timo und Peter auf dem Wingert am Kreuzberg. In der vorherigen Einladung zum gemeinsamen Beschneiden der Schwestern und Brüder Rebe wurde freundlich darauf hingewiesen, bitte auf metallische Elemente an den Gartengeräten zu verzichten. Und die Handys, die sollten wir lieber am Eingang lassen. Wir wollen ja die Schwingungen spüren.

Ich weise Timo darauf hin, dass die tolle Reb­schere, die meine Schwester mir hat zukommen lassen, doch irgendwie aus Metall ist. Mir fällt in genau diesem Moment auf, dass Plastik- oder Holzscheren vielleicht gar nicht taugen würden. Timo grinst. Das würden die Reben vielleicht doch noch gerade so verkraften.

Seit den späten 60ern gibt es den »Weinberg«. Timo ist seit gut sieben Jahren, Peter seit drei Jahren dabei. Die Reben stehen bei der Hofgrün GmbH in der Methfesselstraße, und zwar auf einem historisch ziemlich wertvollen Platz. In dem Haus, das dort stand, bevor es zerbombt wurde, setzte Konrad Zuse seinerzeit den ersten laufenden programmierbaren Computer, den Z3, zusammen.

Doch zur Sache. Die Rebscheren sind am Platz, scharf und bereit zum Einsatz. »Dann gehen wir mal runter und fragen die Reben, wie sie es denn gerne haben wollen«, grinst Peter. Mit mir zusammen helfen noch zwei weitere Menschen. Einer von ihnen ist Victor, der Azubi in der Weinhandlung »Wein & Vinos« in der Mittenwalder Straße. Der soll jetzt auch mal lernen, was eigentlich vor dem Verkauf so passiert.

Und wir lernen: zwei Triebe lässt man stehen. Einen links, einen rechts. Die Verzweigung zu dem Trieb soll möglichst nah am Kopf sein. Also nah an dem Teil, wo die Triebe vom Stamm abtreiben. Die Augen, das sind die dicken Knubbel, die in regelmäßigen Abständen am Zweig sind, lassen wir mit ein bisschen Abstand stehen. Da treiben dann »im Frühjahr, wenn Gaia erwacht« die neuen Triebe aus und die Reben können »den Strom des Lebens in ihre Zweige lenken«. Vertrocknete Spitzen werden abgeschnitten, das versteht sich von selbst.

Nach zwei Stunden meditierender Arbeit im Wingert sagt das erste Mal wieder jemand etwas. Es ist Timo. »Pause! Kosten!« Der Spätburgunder aus den Jahren 15/16: Kalt und lecker. Natürlich gehöre das Weintrinken auch dazu. So passiere es ja überhaupt erstmal, dass man dazu kommt: »Drogen konsumieren, Drogen verkaufen, Drogen anbauen.« Erwerben kann man dann eine der 700-800 halben Flaschen Weiß- und 200 halben Flaschen Rotwein bei der Abteilung für Wirtschaftsförderung beim Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg.

Als es dunkel wird, stellen wir die Arbeit ein. Ich bin mittlerweile erkältet und zu Eis erstarrt. Und trotzdem habe ich mich lange nicht mehr so gesund gefühlt. Irgendwie gereinigt, geordnet und durchmeditiert. Gaia hat vielleicht doch ihre Spuren hinterlassen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2020.

Aktenaffäre wird nun untersucht

SPD wirft Florian Schmidt Manipulation vor

Florian SchmidtFlorian Schmidt. Foto: psk

Hat er, oder hat er nicht? Die Frage, ob Baustadtrat Florian Schmidt Akten manipuliert hat oder nicht, ist nicht nur in Kreuzberg ein Aufreger. Selbst die in München erscheinende Süddeutsche Zeitung widmet dem derzeit vermutlich bekanntesten Kommunalpolitiker der Republik eine ganze Reportage.

Darin erfährt der Leser, dass in Schmidts Büro eine ihn selbst zeigende Karikatur im Stile Che Guevaras hängt. Damit scheint geklärt, mit wem sich der Stadtrat eher vergleicht: Mit Che oder mit Robin Hood. Als solchen hat ihn der Regierende Bürgermeister Michael Müller bezeichnet, und ihm auch noch ein »Mini-« vorangestellt.

All das sind die Folgen jener Aktenaffäre, die nun so hochkocht, dass sich Schmidt Rücktrittsforderungen, Strafanzeigen und einer Untersuchung der Senatsverwaltung des Inneren gegenüber sieht.

Im Grunde hängt alles mit der unkonventionellen Art zusammen, mit der Schmidt seit Jahren versucht, den Immobilienspekulanten beizukommen. Das Mittel des Vorkaufsrechts hat schon einige Male gegriffen und auch schon Inves­to­ren in die Knie gezwungen. Das Problem bei diesem Konstrukt: Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg kann die Immobilien, für die er das Vorkaufsrecht geltend macht, gar nicht alle selbst kaufen. Also wird das Vorkaufsrecht an solche Investoren weitergegeben, die im Sinne des Bezirks investieren, etwa mit Blick auf die Kreuzberger Mischung, vor allem aber bezahlbaren Wohnraum.

Es war allerdings auch abzusehen, dass Schmidt diese Art von weißen Rittern irgendwann einmal ausgehen würde.

Mit der Gründung von »Diese eG« sollte Abhilfe geschaffen werden. Als die SPD nun Unterlagen zum Kauf von Wohnungen durch »Diese eG« in der Rigaer Straße einsah, fiel ihr auf, dass sie einerseits falsch paginiert waren und dass auch Teile fehlten.

In einer gemeinsamen Fraktionssitzung von Grünen, Linken und SPD räumte Florian Schmidt das zwar ein, sah darin aber keine Manipulation oder ein Versäumnis. »Er wollte verhindern, dass die Inhalte von Akten von CDU und FDP instrumentalisiert und von einem Redakteur des Tagesspiegels zur politischen Agitation genutzt werden«, heißt es in einer Pressemitteilung der SPD.

In der gleichen Pressemitteilung von 17. Januar stellte die SPD dem Baustadtrat ein Ultimatum bis zum 27. Januar. Bis dahin solle er Einsicht in alle Akten geben, »sonst ist sein Rücktritt unvermeidbar.«

Allerdings wurde inzwischen die Senatsinnenverwaltung tätig. Innensenator Geisel verfügte die Bezirksaufsicht über den Baustadtrat.

Linke hält sich im Fall Florian Schmidt zurück

Konkret heißt das, dass die Vorgänge um die fehlenden Akten nun untersucht werden. Außerdem beschäftigt sich nun auch der Landesrechnungshof mit der »Diese eG«.

Die Grünen sprangen ihrem angeschlagenen Bezirksstadtrat natürlich bei. Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann sieht auch keinen Grund dafür, dass Schmidt zurücktreten müsse. Allerdings fanden auch einige Parteifreunde Schmidts Wortwahl in der gemeinsamen Fraktionssitzung ein wenig unglücklich.

Ist Schmidt nun nachhaltig gefährdet oder ist alles nur wieder so ein berühmter Sturm im Wasserglas?

Für Außenstehende ist das nur schwer einzuschätzen. Interessant ist deshalb ein Blick auf den Dritten im Bunde der grün-rot-roten Konstellation im Bezirksamt.

In den vergangenen Monaten waren es stets die Linken, die, vor allem im Falle Bergmannstraße, Florian Schmidt oft sehr hart angegangen sind. Aus ihren Reihen ist jetzt eher beredtes Schweigen zu hören.

Es gibt allerdings Ausnahmen. Der stellvertretende Bezirksbürgermeister Knut Mildner-Spindler gab jüngst der Berliner Morgenpost ein Interview, in dem er unter anderem auch zum Fall Florian Schmidt befragt wurde. Auf die Frage, ob er auch Dokumente vor einer Akteneinsicht herausnehmen würde, meinte Mildner-Spindler, dass das ein ganz normaler Vorgang sei, weil es ja auch um schutzwürdige Belange Dritter oder das öffentliche Interesse gehe. Aber man müsse dann vor Einsichtnahme darüber informieren. Allerdings kann sich Mildner-Spindler nicht erinnern, dass sein Kollege im Bezirksamt dagegen verstoßen hätte.

Das Ultimatum der SPD ist ausdrücklich nicht vom Tisch, obwohl es durch die Untersuchungen von Innenverwaltung und Landesrechnungshof im Grunde überflüssig geworden ist. Wird man nämlich an diesen Stellen fündig und erkennt gravierende Fehler Schmidts, wird er sowieso zurücktreten müssen. Wird er allerdings durch die Untersuchungen entlastet, spielt das Ultimatum der SPD auch keine Rolle mehr.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2020.

Ein Wohnturm für das Dragonerareal

Architektenwettbewerb abgeschlossen

Es sind die umstrittensten und vielleicht begehrtesten viereinhalb Hektar in Berlin: Das Dragonerareal. Nun, so scheint es, könnten die endlosen Auseinandersetzungen und Diskussionen ein Ende nehmen. Bei einem Architekturwettbewerb setzten sich die Büros »Smaq Architektur und Stadt« und »Man Made Land« durch. Ihr Entwurf beinhaltet so ziemlich alles das, was man sich von einer zentralen Bebauung im Herzen Kreuzbergs vorstellt.

Vorgesehen sind nach diesen Entwürfen 525 neue Wohnungen im bezahlbaren Segment. Gewerbe ist auf 21.000 Quadratmetern geplant. 14.000 davon sollen an sogenannte »störende Betriebe« gehen. Es geht dabei um Handwerksbetriebe wie Schreinereien oder Metallverarbeitung, die von Natur aus mit einer höheren Lärmentwicklung verbunden sind und daher immer mehr an der Stadtrand gedrängt werden.

Damit wird der klassischen Kreuzberger Mischung Rechnung getragen: Stätten für Wohnen und Arbeiten liegen eng beieinander.

Blickfang der ganzen Planung ist das Modell eines Wohnturmes, der 16 Stockwerke umfasst. Um ihn herum wird ein ganzes neues Stadtviertel geplant.

Derzeit sind viele kleine Unternehmen und Werkstätten auf dem Gelände untergebracht – zum Teil in denkmalgeschützen Gebäuden, wie den alten Remisen der Kaserne. Gerade das Gewerbe soll nicht vetrieben, sondern gehalten werden, um auch weiteres anzulocken.

Doch ausgerechnet an diesem Punkt stört sich die bislang einzige Kritik. Die ausgewiesenen Gewerbeflächen sind nämlich etwas geringer ausgefallen, als in der Aufgabenstellung vorgegeben. Das haben die Gewerbetreibenden vom Dragonerareal moniert.

Ob da noch nachjustiert wird, wird sich zeigen. Eines ist nämlich klar: Nichts ist die Stein gemeißelt. Doch die Bebauung wird sich im Großen und Ganzen an dem Siegerentwurf orientieren. Dass der sich dann in Details verändert, bis der erste Spatenstich getan ist, ist normal. Die Planung soll nächtes Jahr beginnen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2020.

Da kann ja jeder kommen

Wie ich mich doch noch mit einem Plattenhändler anfreunde

Auf die Frage, ob ich denn mal ein Interview führen dürfe, reagierten in meiner noch jungen Journalistenkarriere so ziemlich alle Menschen gleich: ja, sehr gern, man wisse zwar nicht, was ich wolle, aber an sich, na klar.

Detlef Dieter Müller reagiert nicht so. Er verschränkt die Arme. Fragt, was das für ein Magazin sei. Mit irgendwelchen Kommerz-Heinis wolle er nicht reden. Sein Laden sei schon bekannt genug, die ganzen Gentrifizierer rennen ihm die Bude ein. Die Fragen seien eh immer die gleichen. Und ihr aus 61? Waschlappen! Wer habe denn Kreuzberg damals verteidigt? Toll, denke ich mir. Da habe ich mir ja was eingebrockt.

Ich bleibe. Oder besser: ich verharre. Wir kommen irgendwie ins Gespräch. Keine Kommerzkacke, ich interessiere mich wirklich für Musik. Und als ich sage, dass Tocotronic meine Lieblingsband ist, kann ich sogar sowas wie ein kleines Lächeln erahnen. Oder zumindest so ein verräterisches Zucken.

Ich glaube, Detlef hat einen weichen Kern. Dass ich ihn nun genau an dem Tag erwische, an dem er die frischen Erinnerungen ans Wochenende verarbeiten muss, an dem er drei Verabschiedungen von Läden aus seinem Kiez feiern musste, ist mein Pech. Der Kiez gehe kaputt und alle ließen es zu. Niemand würde sich mehr so richtig für die Geschichte des Kiezes interessieren. Langsam verstehe ich seinen Punkt.

Detlef hat 1985 seinen Laden Groove Records in der Pücklerstraße eröffnet. Ziemlich direkt neben der Markthalle Neun verkauft er Platten durch die komplette Bandbreite der Musikvarietät. Nur die Top 100 der Charts, die wolle er nicht bestellen.

Heute heißt der Beruf, den er damals gelernt hat, Musikfachhändler. Ob die Musik von damals noch jemand aus der heutigen Generation aufholen könnte? Er glaube nicht. Was es heute noch an guter Musik gäbe? Na pass uff, ick spiel dir mal wat vor. Ich freue mich. Ich fühle mich aufgenommen. Weicher Kern: ja. Und zwar ein sehr musikalischer.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2020.

Lenau-Abriss vor dem Aus?

Als Reaktion auf unsere neue Rubrik „Wildes Kreuzberg“ erreichte uns der nachfolgende Beitrag, der von unserem Leser Wolfgang Keller verfasst wurde.

Die Kreuzberger Nostitzstraße ist keine Flaniermeile, aber trotzdem eine Adresse. Nämlich die der Lenau Schule. Sie steht vor dem Abriss. Kann die Beobachtung eines Anwohners die Abrisspläne ins Wanken bringen?

Er hatte früher als andere erfahren, was der Schule blühte. Um sich den liebgewonnenen Anblick so lange als möglich zu gönnen, verstärkte er seine Spaziergangsaktivitäten und erlebte eines schönen Sonntags, vor dem schmiedeeisernen Tor zum großen Schulhof, was noch niemand erlebt hatte.

Eine Feuerwanze schritt aufrechten Ganges dem Tor zu, unterquerte es, tat einen deutlich hörbaren Seufzer und brach nach circa zwanzig Zentimetern tot zusammen.

Ein selten Tier, dachte der nun interessierte Anwohner. Dann legte er eine Schweigeminute ein.

Da er vor Wochen in der BZ gelesen hatte, wie eine aufgefundene Knoblauchkröte den Schulneubau am Koppelweg in Neukölln verhindern könnte, sah er seine Chance für bürgerliches Engagement gekommen und benachrichtigte das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Er schilderte ausführlich seine Beobachtung und fügte zugleich die Bitte an, gemäß Koppelweg, jedwede Abriss- oder Baumaßnahme ad acta zu legen, da ja bislang niemand wisse, was er in der Streichholzschachtel nach Haus getragen habe. Denn er selbst habe sich als engagierter Bürger inzwischen darüber informiert, dass die gemeine Feuerwanze ein stummes Krabbeltier sei, also ausscheide. Dass der Leichnam der allgemein bekannten und verbreiteten Feuerwanze zum Verwechseln ähnle, besage gar nichts. Mit engagiertem Gruß.

Es meldete sich telefonisch der wissenschaftliche Dienst des Bezirksamts und bat um Übersendung des Corpus. Der wurde in wattierter Streichholzschachtel zugesandt. Der mittlerweile stark interessierte Anwohner erhielt zwei Monate später die Streichholzschachtel samt Bericht zurück. Darin hieß es, dass es sich zweifelsfrei um die gemeine Feuerwanze (Pyrrhocoris apterus) handle, welche nicht unter Artenschutz stünde, somit auch keine Verzögerung der Baumaßnahmen angeraten sei. Vielmehr würde sich die Nachbarschaft sicher erleichtert zeigen, wenn die Käfer wegen der Baumaßnahmen aus dem Wohngebiet verschwänden, da Schädlinge, wie der Name schon sage, Schäden anrichten. Mit freundlichem Gruß.

Der stark interessierte Anwohner erkannte sofort, dass er mit seiner Beobachtung bei den Falschen gelandet war. Erstens war die Identifizierung falsch, zweitens sind Feuerwanzen keine Käfer und drittens fristen Feuerwanzen ihr Dasein bestenfalls als Lästlinge.

Der nunmehr sehr stark interessierte Anwohner wandte sich an Professor Lex Parker von der Hawaiʻi Pacific University in Honolulu, als einen Spezialisten von Weltruf. An dessen Institut gehen täglich dutzende Feuerwanzenfotos ein mit Variationen der Rückenzeichnung. Immer verknüpft mit der Hoffnung, eine neue Art entdeckt zu haben. Leider sind die Rückenvarianten der gemeinen Feuerwanze dermaßen zahlreich – bis hin zu einfarbig roten Exemplaren –, dass Prof. Lex Parker über Jahre nichts Neues unter die Augen gekommen war.
Anders der Brief aus Deutschland. Auch ohne Foto, versprach die Nachricht neue Erkenntnisse. Professor Parker antwortete umgehend.

Lieber Freund der Naturwissenschaften aus der Nostitzstraße,

Ihr Brief elektrisiert mich. Ich muss das Tier unbedingt unter meine Lupen nehmen. Her damit! Sorgen Sie für schadfreien Versand. Hier einige Hinweise, die sich bewährt haben.

  • Wärmedämmung.
  • Dampfsperre mittels Antidampffolie.
  • Gegen Durchbohren und Durchstoßen hilft nur Metall.
  • Der äußere Mantel hingegen aus Holz. Schraubsysteme sind immer besser als Stecksysteme.
  • Die Ausbreitung von Schall wird mittels Ultraschall-Longitudinalimpulsen gemessen. Tun Sie etwas in der Richtung. Auch Schall kann schädigen.
  • Und unbedingt beachten: Die äußeren Maße des Versandguts müssen kleiner sein als die der engsten Stelle, die während des Transports durchquert werden muss. Ist einfacher, als es sich anhört. Das kennen Sie vom Briefschlitz, old fellow. In ihrem Fall sind Breite und Höhe meiner Labortür zu beachten. Stellen Sie sich einen ausgewachsen Menschen vor. Geben sie nach oben zwei Köpfe dazu. Die Breite ergibt sich, wenn jener Mensch beide Ellenbogen nach außen spreizt.

Lex

Der liebe Freund der Naturwissenschaften aus der Nostitzstraße interpretierte Lexens Katalog als Soll-, nicht als Muss- Festlegungen.

Immerhin entfernte er nach langem Zögern die Trommel aus seiner guten alten Miele, stopfte Zeitungspapier hinein, drückte in die Mitte die Streichholzschachtel mit der Wanze, steckte die Trommel in einen blauen Müllsack und nagelte eine Holzkiste drumherum, die er mit Packpapier einschlug, das er wiederum mit Klebeband bändigte. Für 141,99 Euro ging das Premium-Paket ab in Richtung Honolulu. In die Zollinhaltserklärung schrieb er Waschmaschinentrommel Made in Germany. Das sollte durchgehen. Ging es auch.

Als das Paket auf dem Labortisch in Honolulu lag, arbeitete sich Prof. Lex Parker bis zur Streichholzschachtel im Innern der Trommel vor. Dann endlich lag die Wanze vor ihm.

Dem Hinweis auf den aufrechten Wanzengang ging er nach, indem er die Hinterbeine unter die Lupe nahm. Er entdeckte umfänglich aufgebaute Muskulatur. Eine ebenfalls nie beobachtete trichterförmige Verbindung vom Labium zum Pronotum, die sich grob umgangssprachlich als Megaphon bezeichnen ließe, erklärte das hörbare Seufzen. Die Fachkollegen am Institut waren der einhelligen Auffassung, eine neue Wanzenart auf dem Seziertisch des Chefs gesehen zu haben.

Prof. Lex Parker bereitete einen Aufsatz für den New Scientist vor, dem er den Arbeitstitel Die Wanze als seufzender Wandersmann gab.

Vorab teilte er dem Kreuzberger brieflich in groben Zügen das Obduktionsergebnis mit, dankte ihm und versprach namentliche Erwähnung im Aufsatz.

Der weiterhin sehr stark interessierte Anwohner berichtete triumphierend dem Bezirksamt, welches daraufhin mitteilte, dass man in den Nachtragshaushalt selbstverständlich einen sehr, sehr angemessen Betrag einstellen würde, um die ungemein wissenschaftlichen Bemerkungen jenes Herrn Lex Barker zu überprüfen, der sich vielleicht besser um Winnetou als um auf zwei Beinen laufende, seufzende oder singende Wanzen kümmern möge. Das Schreiben faxte der empörte Kreuzberger umgehend nach Honolulu.

Als der Professor las, wie mit seinem Namen und seinen Forschungen umgegangen wurde, gruppierte er einen Stab von Mitarbeitern um sich und buchte nach Europa. Von zwei US-Kamerateams begleitet, traf die Gruppe mit dem sehr stark interessierten Anwohner vor dem schmiedeeisernen Tor zum großen Schulhof der Lenau Schule zusammen.

„Nice to meet you, old fellow.“

Prof. Lex Parker ließ sich nun die genaue Lauf-, nein, die Gehrichtung der Wanze anzeigen und markierte den Todesort mit einem weißen Kreidekreuz. Dann gab er eine Probe seines detektivischen Spürsinns. Da das Kreuz außerhalb des Schulgeländes liege, die Wanze aber das schmiedeeiserne Tor unterquert habe, könne dass das Tier kein Zu-, sondern müsse ein Abwanderer gewesen sein. Mithin habe der Schulhof als Habitat zu gelten, wo weitere Population jener bis dato vollkommen unbekannten Wanzenart zu vermuten sei, konstatierte er.

Vor laufenden Kameras forderte er im Namen der Wissenschaft, den Schulbesuch vorfristig einzustellen und jegliche Baumaßnahmen zu unterlassen. Er schlug vor, das Gelände blickdicht einzuhegen und im zweiten Stock des Schulgebäudes eine Forschungsstation mit Ausblick auf den Hof einzurichten.

Dann nahm er eine inzwischen angefertigte Lageskizze zur Hand und zeichnete einen Quigong-Platz auf dem Gelände ein. Um des lieben Friedens habe es sich bewährt, der Nachbarschaft ein Angebot zu machen, erklärte er. Dieser Chinasport würde die Tiere, anders als Eishockey oder Baseball, nicht zermürben, fügte er an, um sich dann wieder der Skizze zuzuwenden.

Er markierte auf dem Schuldach, auf dem Dach der Turnhalle und auf den Dächern der rechts und hinten anliegenden Wohngebäude etwa drei Dutzend Orte, wo jene Dächer mit Scheinwerferbatterien zu bestücken seien, um werthaltige Nachtforschung zu ermöglichen. Zu diesem Punkt der Ausführungen wollte der sehr stark interessierte Anwohner einen zarten Einwand erheben, kam aber nicht dazu.

Außerdem seien Richtmikrofone und Bewegungsmelder auf dem Gelände zu installieren, fuhr Prof. Lex Parker fort. Die Crew sei außerdem mit transportablen Großlupen auszustatten, wobei er seine eigene aus der Tasche zog, in die Kameras hielt und verkündete, noch heute die Weltnaturschutzunion, IUCN, zu informieren.

Als Prof. Lex Parker per Räuberleiter das schmiedeeiserne Tor zwecks Begehung des Geländes erklomm, wurde ihm der finale Absprung hausmeisterlicherseits untersagt, da er als schulfremde Person eingestuft wurde. Selbst der Hinweis, dass die TV-Reportage in den USA from coast to coast laufen würde, änderte daran nichts.

Wir bleiben am Ball.