Der Aufstand

Mehrheit der BVV straft Grüne beim Haushalt ab

Das Rathaus in der Yorckstraße mit dem BVV-Saal von außenDie Bezirksverordneten der Linken, der SPD und der CDU probten den Aufstand gegen die Grünen. Foto: psk

Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann war einigermaßen fassungslos. Über 50 Änderungsanträge waren für die Haushaltsvorlage eingegangen. 44 passierten die BVV meist gegen die Stimmen der stärksten Fraktion, die ihrerseits mit ihren eigenen Anliegen an den Fraktionen der LINKEN, der SPD und der CDU abprallte. 

Die Grüne Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann war sichtlich angefressen und sprach von einer schwarz-rot-roten Koalition. Noch während der Haushaltsberatungen suchte sie Rat bei ihrer Vorgängerin Monika Herrmann, die das Geschehen auf der Pressetribüne verfolgte. Dort saß mit dem früheren CDU-Fraktionsvorsitzenden Timur Husein ebenfalls ein altbekanntes Gesicht. Er nahm die Vorgänge eher schmunzelnd zur Kenntnis.

Was war da passiert? Wie die KuK aus den Reihen der BVV erfuhr, war das Vorgehen schon von langer Hand zuvor minutiös geplant worden. Die Fraktionsvorsitzenden und Haushälter der drei Fraktionen hatten sich unter größtem Stillschweigen getroffen und die Änderungen ausgehandelt. 

Dabei hatte es schon einen Warnschuss von der nicht involvierten FDP gegeben, die sich bereits eine Woche vor der Beratung öffentlich darüber beklagt hatte, dass nur die Etats der Grünen Bezirksstadträte wachsen, die der drei anderen gleich bleiben oder gar schrumpfen sollten.

Die Stadträte aber hüllen sich in Schweigen. Sowohl Andy Hehmke (SPD) als auch der stellvertretende Bezirksbürgermeister Oliver Nöll (LINKE) verwiesen auf das Prinzip: »Das Bezirksamt spricht mit einer Stimme«. Immerhin ließ sich Oliver Nöll auf Nachfrage ein erstaunliches Statement entlocken. Er lobte ausdrücklich die gute Zusammenarbeit mit dem neuen Bezirksstadtrat Max Kindler von der CDU im Bezirksamt.

AfD-Stimmen für die Grünen sind kein Thema

Gesprächiger zeigten sich da schon die BVV-Mitglieder, von denen aber keiner seinen Namen in der Zeitung lesen wollte. 

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde: Aber ich wünsche mir wirklich Monika Herrmann zurück«, heißt es von einem Mitglied der Linken. Ein anderer amüsiert sich über den Begriff schwarz-rot-rote Koalition: »Wenn das eine Koalition wäre, dann wäre sie ja wohl rot-rot-schwarz. Aber das Erstaunliche ist doch, dass es diese Zusammenarbeit gibt. Und das liegt einzig an den Grünen.«

Die Liste der Vorhaltungen ist lang: Immer wieder fallen die Worte »kompromissunfähig« oder »arrogant«. Besonders wird das an der Bezirksbürgermeisterin festgemacht. Diese, so heißt es aus SPD-Kreisen, reklamiere stets alle Erfolge aller Ressorts für sich. »Sie kann niemandem einen Erfolg gönnen«, lautet ein Vorwurf. Auch ihre Verlässlichkeit als politischer Partner wird mehrfach infrage gestellt. 

Dass sich niemand aus der BVV mit Namen zitieren lassen will, hat übrigens einen interessanten Grund. Man wolle ja weiter mit den Grünen zusammenarbeiten, heißt es. Die vermeintlichen Koalitionäre betrachten das Abstimmungsergebnis in erster Linie als einen Schuss vor den Bug und nicht als Abkehr von einer gedeihlichen Zusammenarbeit. 

Dass das ernst gemeint ist, mag eine kleine Petitesse am Rande zeigen. Während FDP und die PARTEI bei der Abstimmung gar nicht zugegen waren, hatten sich die Bezirksverordneten der AfD zumindest für kurze Zeit im Sitzungssaal eingefunden – und stimmten plötzlich jedesmal mit den Grünen, vermutlich in der Hoffnung, ihnen einmal über die Hürde zu helfen. Doch das ganz offensichtlich boshaft gemeinte Abstimmungsverhalten blieb ohne Erfolg. Wäre das nicht ein gefundenes Fressen für die angebliche Koalition gewesen? 

Doch aus der Ecke winken sie nur müde ab. »Den Grünen ist sicher viel vorzuwerfen, aber dafür, dass sich die AfD an sie rangehängt hat, können sie nun wirklich nichts.«

Vom Bürgeramt der Zukunft

Bezirk stellt Projekt in der Schlesischen Straße vor

Oliver Nöll, Martina Klement und Ernst BürgerDas Bürgeramt der Zukunft stellten (v.l.n.r.) Oliver Nöll, Martina Klement (Senat) und Ernst Bürger (Bundesinnenministerium) in der Schlesischen Straße vor. Foto: psk

Wenn es ein Symbol für die angeblich dysfunktionale Verwaltung in Berlin gibt, dann ist es der häufig frustrierende Versuch, einen Termin bei einem Bürgeramt zu bekommen. Von Wartezeiten von bis zu vier Monaten war schon die Rede, nur um an einen Personalausweis oder einen Reisepass zu kommen.

Als vor knapp zwei Jahren der heutige stellvertretende Bezirksbürgermeister Oliver Nöll als Stadtrat für Soziales auch noch die Bürgerdienste erbte, setzte er sich das ehrgeizige Ziel, den Stau auf den Bürgerämtern aufzulösen. Dieses Ziel scheint zwar noch nicht erreicht, aber immerhin ist der Plan soweit vorangeschritten, dass man nun der Öffentlichkeit »Das Bürgeramt der Zukunft« präsentieren konnte.

Mit im Boot bei diesem Projekt sitzen Bund und Land. Beide hatten Vertreter ins Ausbildungsbürgeramt in der Schlesischen Straße geschickt, wo vorgestellt wurde, wie das Bürgeramt der Zukunft aussehen soll. 

Doch um diese Zukunft sinnvoll zu gestalten, war es zunächst notwendig herauszufinden, woran es eigentlich hakt. Diese Aufgabe hatte das CityLab übernommen und dabei einige überraschende Erkenntnisse gewonnen. Unter anderem sind an den langen Wartezeiten auch Bürger schuld, die zwar einen oder möglicherweise auch mehrere Termine buchen, dann aber nicht erscheinen.

Dieses Problem wurde mit einem Check-in-System angegangen, das Oliver Nöll mit den bekannten Systemen auf einem Flughafen vergleicht. Das neue System wurde zunächst an zwei verschiedenen Standorten getestet.

Bearbeitungsplätze bekommen Fototerminals

Bürger, die nun zu einem Termin kommen, werden eingecheckt. Das spart Zeit, weil man nicht auf Kunden wartet, die gar nicht erschienen sind. »Sowohl im Ausbildungsamt in der Schlesischen Straße, als auch im Bürgeramt in der Yorckstraße konnten wir zehn Prozent mehr Termine in der Testphase abarbeiten«, berichtet Oliver Nöll, der aber auch noch an anderer Stelle Potenzial sieht, Zeit einzusparen. Oft seien die mitgebrachten Bilder für Ausweis, Pass oder Führerschein unzureichend. Bürger müssten dann wieder weggeschickt und ein neuer Termin vereinbart werden. Fest installierte Fototerminals sollen das in Zukunft vermeiden. Die Terminals werden in den nächsten Wochen zunächst in der Schlesischen Straße installiert.

Wer einen Personalausweis oder einen Reisepass beantragt, muss bislang zwei Termine vereinbaren: Einen für den Antrag und einen für die Abholung. In Zukunft sollen Bürgerinnen und Bürger nur noch zur Antragstellung einen Termin vereinbaren müssen. Abholboxen werden es ermöglichen, terminunabhängig an die Dokumente zu kommen.

Schließlich sind auch noch Terminals geplant, an denen Dienst­leis­tun­gen, etwa ein Führungszeugnis, direkt abgerufen werden können. Zum Teil ist das allerdings heute auch schon vom heimischen PC aus möglich.

Die Neuerungen sollen bis 2024 sukzessive eingeführt werden.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2023.

Ade, Durchgangsverkehr

Bezirk stellt Konzept zur flächendeckenden Verkehrsberuhigung vor

Unter dem Titel »Xhain beruhigt sich« hat Friedrichshain-Kreuzberg Ende Juni als erster Bezirk ein Konzept zur flächendeckenden Verkehrsberuhigung vorgestellt. Erklärtes Ziel ist es, den Durchgangsverkehr aus den Nebenstraßen zurück auf die Hauptstraßen zu bringen – eine »funktionale Klärung«, wie es Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes formuliert. Damit soll sowohl die Verkehrssicherheit als auch die Lebensqualität in den Nebenstraßen erhöht werden. Maßnahmen am Hauptstraßennetz sind explizit nicht Bestandteil des Konzepts, da sie nicht im Zuständigkeitsbereich des Bezirks liegen. Gleichwohl soll weiterhin versucht werden, einzelne Straßen zu Nebenstraßen herabstufen zu lassen, wie das unlängst für die südliche Zossener Straße geschehen ist.

Felix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes, und Stadträtin Annika Gerold sitzen an einem Tisch. Im Hintergrund ein Bildschirm mit einer PräsentationFelix Weisbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes, und Stadträtin Annika Gerold stellen das Konzept zur Verkehrsberuhigung vor. Foto: rsp

Das Konzept ist im Wesentlichen eine Bestandsaufnahme von bereits geplanten, beantragten und diskutierten Maßnahmen, ergänzt um Gebiete, für die es noch keine konkreten Vorschläge gab. Dabei wurden beispielsweise auch Einwohner*innen­anträge von Kiezblock-Initiativen be­rück­sich­tigt. So wurden insgesamt 280 Einzelmaßnahmen identifiziert, zusammengefasst in 15 Planungsräume.

Die einzelnen Maßnahmen funktionieren gewissermaßen nach einem Baukastenprinzip: Vorgesehen sind einerseits Querungshilfen/Gehwegvorstreckungen für Fußgänger, sogenannte Schulzonen sowie Geschwindigkeitsreduktionen durch Asphaltkissen oder Temposchwellen. Diese drei Maßnahmenarten dienen vor allem der Verkehrssicherheit und lassen sich auch ohne Beteiligungsverfahren umsetzen.

Anders sieht das mit den drei anderen Modulen aus: Modale Filter – also Diagonalsperren exklusiv für Autos –, Fußgänger*innenzonen und Einbahnstraßen finden unter Beteiligung der Anwohner statt. Bei diesen Maßnahmen geht es vor allem um das Ziel der Verdrängung des Durchgangsverkehrs. Allen Maßnahmen ist gemein, dass sie sich, anders als umfangreichere Umgestaltungen, verhältnismäßig kostengünstig umsetzen lassen. Derzeit geht man von insgesamt 2 Millionen Euro Planungs- und 1 Million Euro Baukosten aus.

Über den Stand der Planung informiert die Website xhain-beruhigt.berlin. Dort sind zu jedem Gebiet auch die zugrundeliegenden Beschlüsse der Bezirksverordnetenversammlung (BVV), existierende Machbarkeitsstudien und Ähnliches verlinkt. Darüber hinaus verweist jeder Eintrag auch auf eine dazugehörige Seite auf der Beteiligungsplattform mein.berlin.de, über die bereits im Vorfeld eines »echten« Beteiligungsverfahrens Kommentare und Meinungen von Anwohnern eingesammelt werden.

Screenshot mit einer Karte von xhain-beruhigt.berlinUnter den Maßnahmen finden sich auch »alte Bekannte« wie die seit 20 Jahren diskutierte Modalsperre Mittenwalder/Fürbringerstraße. Screenshot: xhain-beruhigt.berlin

Bis die Maßnahmen umgesetzt werden oder auch nur Detailplanungen und Beteiligungsverfahren beginnen, wird es indessen in den meisten Gebieten noch einige Jahre dauern. Einerseits ist dem Bezirksamt und Verkehrsstadträtin Annika Gerold an einer rechtssicheren Umsetzung gelegen, andererseits muss natürlich jeweils die Finanzierung geklärt werden, die unmöglich allein aus bezirklichen Mitteln erfolgen kann. Jetzt sei es an Verkehrssenatorin Schreiner, »zu zeigen, ob ihr die Sicherheit von Fuß­gän­ger*innen und Schü­ler*innen wirklich wichtig ist«, lässt sich Gerold in einer Pressemitteilung zitieren.

Tatsächlich sieht das Konzept, abgesehen von den angedachten Fußgängerzonen, kaum eine Reduktion von Parkplätzen vor, sodass es hier zu weniger Widerständen seitens der Senatorin kommen müsste als beim Radwegeausbau. Dagegen sind Verkehrs‑ und Schulwegsicherheit erklärte Ziele von Manja Schreiner.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juli 2023.

Verkehrssenatorin stoppt Radwegebau

Finanzierung »vorläufig« ausgesetzt

Radstreifen entlang der Zossener Straße (Höhe Heilig-Kreuz-Kirche) mit einem RadfahrerVermutlich »vorläufig« nicht gefährdet: Radstreifen in der Zossener Straße. Foto: psk

Update: Bezirk bezweifelt Rechtmäßigkeit des Stopps / Radweg in der Stallschreiberstraße wird gebaut (s.u.)

Es fing an mit ein paar E-Mails: Mitte Juni teilte die Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt (SenMVKU) den Bezirken mit, dass die neue Hausleitung – also Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) – darum bitte, geplante Radwegeprojekte auszusetzen, sofern dafür auch nur ein einziger Parkplatz oder ein Fahrstreifen für Autos wegfiele.

Schon einen Tag später ruderte Schreiner zurück: »nicht mehr als zehn Parkplätze auf 500m« seien einer Pressemitteilung zufolge dann doch akzeptabel, sofern Wirtschafts- und Lieferverkehr nicht erheblich beeinträchtigt würden und, weiterhin, keine Fahrstreifen wegfielen. Alle anderen Projekte würden »überprüft und priorisiert«.

Doch »priorisiert« heißt in dem Kontext: erstmal gestoppt.

In den Bezirken herrscht seitdem erhebliche Unsicherheit. Auch in Friedrichshain-Kreuzberg könnten mehr als zehn Projekte betroffen sein, teilte das Bezirksamt auf Anfrage mit, jedoch ließe »die Kommunikation der SenMVKU sehr viele Fragen offen«.

Bei Projekten wie der Stallschreiberstraße dürfte die von der Senatsverwaltung formulierte Ausnahme für Maßnahmen gelten, die die Schulwegsicherheit erhöhen. Tatsächlich hat die Senatsverwaltung den Stopp für diesen Radweg am Dienstag zurückgenommen. Anderswo jedoch, etwa in der Urbanstraße und der Oranienstraße, ist fraglich, welche Zukunft die­se Projekte haben. Hier läuft die Vorplanung teilweise bereits seit Jahren. Doch mit der »Bitte« der Senatsverwaltung sei auch ein vorläufiges Aussetzen der Finanzierungszusagen verbunden, erklärte Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne). Ein entsprechendes Schreiben war dem Bezirk am 20. Juni zugegangen.

1,5 Millionen Euro drohen zu verfallen

Allein im Bezirk geht es um Gelder in Höhe von insgesamt rund 1,5 Millionen Euro, die jetzt auf der Kippe stehen. Darunter sind vor allem Fördermittel des Bundes, die zu verfallen drohen, wenn sie nicht noch dieses Jahr ausgegeben werden oder wenn die von Senatorin Schreiner an­ge­kün­dig­te Überprüfung der Projekte zu größeren Umplanungen führt.

Ende Juni fand eine Gesprächsrunde zwischen Bezirksstadträten und Senatorin statt – zur Frage, wie konstruktiv die lief, gibt es jedoch sehr unterschiedliche Einschätzungen. Zuletzt hatten Verkehrsstadträte aus mehreren Bezirken der Senatorin ein Ultimatum gestellt, den allgemeinen Projektstopp zurückzunehmen und für Planbarkeit zu sorgen.

Rechtsamt bezweifelt Rechtmäßigkeit

Bereits vor einigen Tagen hatte Friedrichshain-Kreuzberg sein Rechtsamt mit einer juristischen Überprüfung des Radwegestopps beauftragt. Bei einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz am heutigen Mittwoch wurde jetzt das Ergebnis verkündet. Demnach bestünden seitens des Bezirks Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Senatsverwaltung. Eine temporäre Außerkraftsetzung der Mittelzusagen gäbe die Landeshaushaltsordnung nicht her. »Wir haben einen geltenden Haushalt«, betonte Rolfdieter Bohm, Leiter des Rechtsamts. Der Doppelhaushalt sei vom Abgeordnetenhaus beschlossen worden und sei so auch vom Senat und den Bezirken zu beachten. Wenn darin Mittel für Fahrradwege vorgesehen seien, so die Argumentation, könnten diese nicht einfach vorübergehend außer Kraft gesetzt werden.

Zudem bestünde bei laufenden Ausschreibungen die Gefahr, dass sich das Land Berlin regresspflichtig mache, wenn die Ausschreibung wegen eines Aussetzens der Finanzierung gestoppt werde.

Eine Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit vor Gericht prüfen zu lassen gibt es allerdings nicht. Berlin ist eine sogenannte Einheitsgemeinde, sodass die Bezirke keine eigenen Rechtspersönlichkeiten sind, die etwa gegen »das Land Berlin« klagen könnten. Von dem Ergebnis der Prüfung durch das Rechtsamt verspricht man sich allerdings eine weitere Argumentationsebene gegen die Senatsverwaltung, denn auch die könne kein Interesse daran haben, gegen Recht und Gesetz zu handeln.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juli 2023.

Am Ende bleiben tiefe Gräben

Mehrheit für die große Koalition spaltet die Genossen von der SPD

Hannah Lupper und Niklas Kossow (SPD) vor der Redaktion der Kiez und KneipeHannah Lupper und Niklas Kossow von den Kreuzberger Sozialdemokraten. Foto: psk

Katerstimmung herrsch­te bei den SPD-Genossen in Kreuzberg nach der Bekanntgabe des Ergebnisses der Mitgliederbefragung zur großen Koalition in Berlin. Mit 54,3 Prozent stimmte die Basis für den Koalitionsvertrag. In Friedrichshain-Kreuzberg hatte sich bei einer Kreisdelegiertenkonferenz eine Mehrheit gegen ein Bündnis mit der Union ausgesprochen.

»Das Ergebnis akzeptieren wir«, erklärte Niklas Kossow, Vorsitzender der Abteilung Südstern. »Das Ergebnis ist knapp. Die Partei hat sich mit der Entscheidung schwergetan.« Die Partei müsse sich nun neu aufstellen, um wieder zu­ein­an­der­zu­finden.

Doch das wird nicht einfach werden, wie die Vorsitzende des benachbarten Ortsvereins, der Abteilung Kreuzberg 61, meint. Hannah Lupper war in den letzten Wochen zu einer der wichtigsten Protagonistinnen der NoGroKo-Kampagne in der Berliner SPD geworden. Sie sieht durch das knappe Ergebnis die Führung der Landes-SPD beschädigt. »Der Landesvorstand hat es geschafft, Kai Wegner zum Regierenden Bürgermeister zu machen und sich gleichzeitig zur Disposition zu stellen.«

Im Vorfeld hatte Hannah Lupper beklagt, dass der Landesvorstand auf einzelne Mitglieder e­nor­men Druck ausgeübt habe. So sind tiefe Gräben zwischen der Landesspitze und einzelnen Kreis- und Ortsvereinen aufgerissen worden. Die Landesvorsitzenden Franziska Giffey und Raed Saleh hatten auf einer Pressekonferenz angekündigt, auf die unterlegene Seite zuzugehen. Allerdings hat Hannah Lupper Zweifel daran, ob das den beiden gelingen kann.

Für einen gewissen Vertrauensvorschuss warb dagegen Niklas Kossow, der glaubt, dass sich die neue Regierung nun beweisen müsse, und zeigen, dass sie zu einer progressiven Politik überhaupt in der Lage sei.

Was wird aus der Cannabis-Legalisierung?

Als Nagelprobe betrachten beide Ortsvereinsvorsitzende das Thema Cannabis-Legalisierung. Eine Enthaltung Berlins im Bundesrat könnte dieses neue Gesetz auf den letzten Metern zu Fall bringen. Das hätte gerade für Friedrichshain-Kreuzberg massive Folgen. Der Bezirk bereitet sich nämlich bereits darauf vor, als Modellprojekt diesen neuen Weg in der Drogenpolitik zu begleiten. »Es wäre ja ein Treppenwitz, wenn das neue Gesetz am Ende ausgerechnet an Berlin scheitern würde«, sagt Hannah Lupper.

Sie wird das Geschehen in der Bezirksverordnetenversammlung dann übrigens nur noch als einfaches Mitglied ihrer Fraktion verfolgen und nicht mehr als ihre Vorsitzende. Wenige Tage vor dem Abstimmungsende über den Koalitionsvertrag hatte die SPD-Fraktion in der BVV einen Wechsel der Fraktionsspitze bekanntgegeben. Tessa Mollenhauer-Koch folgt Hannah Lupper im Amt nach.

Schnell hatte das Gerücht die Runde gemacht, die bisherige Vorsitzende sei für ihre Opposition gegen den Koalitionsvertrag abgestraft worden. Sie selbst allerdings hat diesen Verdacht entkräftet. Der Wechsel sei schon länger besprochen gewesen. Nach zwei aufreibenden Wahlkämpfen innerhalb von anderthalb Jahren wolle sie nun einfach ein wenig kürzer treten. Abteilungsvorsitzende von Kreuzberg 61 will sie allerdings bleiben.

Immerhin gibt es in den nächsten dreieinhalb Jahren bis zur nächsten Berlinwahl noch genug zu tun. So sind nicht nur innerhalb der SPD Gräben aufgerissen worden, auch zwischen SPD und Grünen herrscht nun Eiszeit. Wenn sie wieder ein politischer Partner werden wollen, »dann müssen wir die Gesprächskanäle offen halten«, erklärt Hannah Lupper.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Mai 2023.

Kreisverband der SPD lehnt CDU-Koalition ab

Delegierte aus Friedrichshain-Kreuzberg folgen dem Landesvorstand nicht

Darüber herrschte Einigkeit: Die SPD des Bezirks ist gegen die Karstadt-Pläne des Unternehmens Signa am Hermannplatz. Archivfoto: rsp

Immerhin bei einem Punkt zeigte sich der Kreisparteitag der SPD in Friedrichshain-Kreuzberg dann einig. Die Pläne des österreichischen Investors Signa für den Karstadt am Hermannplatz lehnt man ab. Aber ansonsten krachte es beträchtlich. Selbst für einen so diskussionsfreudigen Kreisverband war das dann eher unüblich. Die Gemüter scheiden sich an der geplanten Koalition mit der CDU.

59 Delegierte stimmten gegen eine Koalition mit der CDU auf Landesebene, 44 waren dafür und drei enthielten sich. Für eine war das ganz besonders bitter: Cansel Kiziltepe aus Kreuzberg ist nicht nur Bundestagsabgeordnete, sondern auch stellvertretende Landesvorsitzende. Außerdem gehört sie der Delegation an, die mit der CDU den Koalitionsvertrag aushandeln soll. Sowohl sie als auch Landesgeschäftsführer Sven Heinemann, der ebenfalls dem Kreisverband angehört, warben vor den Delegierten des Kreisverbandes für die angestrebte Koalition, ein Weg, den die Mehrheit der Anwesenden nicht mitgehen will. Viele stellten sich die Frage, ob denn die SPD tatsächlich mehr Schnittmengen mit der Union als mit Grünen und der Linken habe.

Vor allem die Position von Cansel Kiziltepe gab etlichen Mitgliedern Rätsel auf, wird sie doch eher dem linken Lager in der SPD zugeordnet. Als  Staatsekretärin im Bundesbauministerium gehört sie auch der Bundesregierung an, wo die Koalitionsverhandlungen in Berlin ebenfalls mit Sorge verfolgt werden. Eine neue Koalition verschiebt auch das Kräfteverhältnis im Bundesrat. Allerdings ist fraglich, ob Cansel Kiziltepe noch lange im Bauministerium bleibt. Laut Berliner Zeitung wird sie nämlich bereits als Kultursenatorin in einem Senat unter Führung von Kai Wegner gehandelt.

CDU soll Ampelprojekten zustimmen

Was wird mit vielen Projekten der Ampel, wenn in Berlin eine schwarz-rote Koalition regiert? Normalerweise wird in solchen »Mischkoalitionen« vereinbart, dass sich das Bundesland bei Abstimmungen im Bundesrat enthält, wenn man sich nicht einigen kann. Etlichen Ampelprojekten könnte daher spätestens im Bundesrat das Aus drohen, weil die Stimmen aus Berlin fehlen.

Das trieb auch die queere SPD in Friedrichshain-Kreuzberg um. Sie beantragte, dass in den Koalitionsvertrag, so er denn zustande kommen sollte, ein Passus aufgenommen wird, dass Berlin im Bundesrat bestimmten Projekten zustimmen muss. Genannt werden insgesamt elf. Darunter fallen die Kindergrundsicherung und die Legalisierung von Cannabis. Sollte die CDU dieser Liste nicht zustimmen können, dann solle es auch keinen Koalitionsvertrag geben, fordert die queere SPD.

Noch sind die Verhandlungen nicht beendet, doch bis zum 23. April sollen die Mitglieder darüber abstimmen. Der Ausgang ist ungewiss. »Das gibt jetzt einen richtigen Wahlkampf«, meint die Fraktionsvorsitzende der SPD in der BVV, Hannah Lupper, die sich ebenfalls gegen eine Koalition mit der CDU stemmt. Selbst wenn sich eine Mehrheit der Mitglieder für eine Koalition aussprechen sollte, ist das noch nicht entschieden. Offiziell muss das ein vorgezogener Landesparteitag beschließen. »Der Parteitag ist eines der höchsten Beschlussgremien. Aber natürlich muss er sich auch an ein Mitgliedervotum halten.«

Tendenziell votieren die SPD-Mitglieder bei einer Befragung eher etwas konservativer. Doch dieses Mal wagt kaum jemand eine Prognose abzugeben. Das Rennen scheint völlig offen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2023.

Der schnelle Weg zum Ausweis

Vielversprechender Versuch zur Reform der Terminvergabe

Ein Personalausweis und ein ReisepassSchneller zum Pass: Die endlos langen Wartezeiten auf Termine im Bürgeramt sollen bald der Vergangenheit angehören. Foto: psk

So groß der Ärger in Berlin war, so groß war in den letzten Jahren der Spott im Rest der Republik. Dass Bürger hier zwei, drei, manchmal vier Monate warten müssen, um an einen neuen Personalausweis, einen Reisepass oder eine Geburtsurkunde zu kommen, wurde Symbol für eine dysfunktionale Verwaltung und bot Satiresendungen wie »extra 3« oder der »heute-show« jede Menge Material.

Als Bezirksstadtrat Oliver Nöll im Herbst 2021 sein Amt antrat, versprach er, das zu ändern. Doch Corona-Krise, Flüchtlingsströme aus der Ukraine und nicht zuletzt die Wiederholungswahl schienen dieses Vorhaben zu durchkreuzen. Tatsächlich jedoch ist inzwischen enorm viel Bewegung in die Sache gekommen. Mit einem neuen System sollen Bürger nun viel schneller an Termine und ihre notwendigen Papiere kommen. Zwei Versuche im Ausbildungsbürgeramt in der Schlesischen Straße und im Bürgeramt in der Yorckstraße verliefen so vielversprechend, dass das neue System ab März langfristig in der Schlesischen Straße getestet werden soll.

»Die Ergebnisse haben meine kühnsten Erwartungen übertroffen«, erklärt Oliver Nöll, der nun die Hoffnung hat, dass die inakzeptabel langen Wartezeiten auf einen Termin nicht nur in Kreuzberg und Friedrichshain, sondern bald in ganz Berlin der Vergangenheit angehören.

Tatsächlich werden zwischen 20 und 25 Prozent der über die zentrale Teminvergabe vereinbarten Termine nicht eingehalten. Fast ein Viertel aller Terminslots könnte also theoretisch kurzzeitig vergeben werden. Durch die nicht eingehaltenen Termine ergibt sich zwangsläufig auch ein Stau, der immer größer wird. Wenn alle Terminslots vergeben werden könnten, müsste sich dieser Stau zwangsläufig auch wieder auflösen. Die ersten Ergebnisse sind ermutigend.

Kreuzberger Modell auch für den Bund?

Offiziell hatten die Arbeiten an dem Programm, das die Terminvergabe auf neue Füße stellen sollte, bereits im Sommer begonnen. Hilfe dafür war nicht nur von der Senatsinnenverwaltung, sondern auch vom Bundesinnenministerium gekommen. Dort glaubt man nämlich, dass das Modell aus Kreuzberg so vielversprechend ist, dass es auch in anderen kommunalen Verwaltungen in ganz Deutschland eingesetzt werden könnte.

»Man muss sich das vorstellen wie Check-in-Automaten auf dem Flughafen«, erläutert der Bezirksstadtrat. Dort stehen dann die freien Slots sofort zur Verfügung. Die letzten kleineren Unstimmigkeiten bei der Software sollen während des Langzeitversuchs noch beseitigt werden.

Für Oliver Nöll bedeute das neue System aber nur einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Digitalisierung der Verwaltung. Er prophezeit: »In den nächsten drei Jahren werden wir bei der Digitalisierung der Dienstleistungen einen Quantensprung erleben.«

Darüber hinaus weist er auch noch auf einen anderen Aspekt hin. Die Zusammenarbeit zwischen Bezirksamt, Senats­innenverwaltung und Bundesinnenministerium habe in diesem Fall ausgezeichnet geklappt. »Das ist der Beweis dafür, was alles geht, wenn man zusammenarbeitet.«

Vor allem den Mitarbeitern im eigenen Haus fühlt er sich zu tiefem Dank verpflichtet. Neben dem Bereich Flüchtlinge, Corona und Wahlorganisation habe sein Amt auch noch das neue Wohngeld plus und das Bürgergeld bewältigt und bereits jetzt die ersten Bescheide verschickt. Ganz so dysfunktional könne die Verwaltung also nicht sein, meint er.

Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2023.

Zum Kandidieren verdammt

Der kommende Wahlkampf steckt voller Absurditäten

Lange Schlange vor einem WahllokalZwei Stunden anstehen für nichts. Die Berlin-Wahl vom September 2021 wird wiederholt. Foto: psk

»Ich freue mich ganz unglaublich darauf«, sagt Oliver Nöll und die beißende Ironie ist nicht zu überhören. Als Bezirksstadtrat unter anderem für Bürgerdienste fällt die Vorbereitung für die Wiederholung der Berlinwahl in sein Ressort. An der Person des stellvertretenden Bezirksbürgermeisters lässt sich der ganze Irrsinn dieser Wahlwiederholung ziemlich gut verdeutlichen.

Der ehemalige Spitzenkandidat der Linken muss erneut für die BVV kandidieren, obwohl er als Bezirksstadtrat der BVV gar nicht angehören darf. Seinen Job im Rathaus wird er auch über den 12. Februar hinaus behalten können, denn im Gegensatz zum Senat bleiben die Bezirks­ämter in ihrer Besetzung erhalten – es sei denn, ein Bezirksstadtrat wird mit Zweidrittel-Mehrheit abgewählt. Eine solche Mehrheit scheint gegen keinen Bezirksstadtrat in Friedrichshain-Kreuzberg in Sicht.

Wie er allerdings Wahlkampf führen und gleichzeitig die Wahl vorbereiten soll, ist Oliver Nöll jedoch einigermaßen schleierhaft.

Auch Hannah Lupper muss erneut kandidieren. Die SPD-Kandidatin ist im Wahlkreis 1 angetreten, ausgerechnet gegen Katrin Schmidberger, die Stimmenkönigin der Grünen. »Alle Parteien haben die Wahlplakate schon vor dem Urteil des Landesverfassungsgerichts in Auftrag gegeben«, erzählt Hannah Lupper. Natürlich wird sie sich auch dieses Mal wieder voller Elan in den Wahlkampf stürzen. Ein mulmiges Gefühl hat sie diesmal allerdings schon. Sie wurde von einem Stalker verfolgt und hatte das in der Presse auch öffentlich gemacht. Und ausgerechnet nun wird ihr Gesicht bald wieder auf Hunderten von Wahlplakaten zu sehen sein. Sehr glücklich ist sie bei dem Gedanken nicht. Aber sie ist von Gesetzes wegen verpflichtet anzutreten.

Berlin droht nun der Dauerwahlkampf

Wäre es übrigens nach den gesetzlichen Fristen gegangen, dann hätten in der Heiligen Nacht die ersten Plakate aufgehängt werden dürfen. Die Parteien haben sich aber geeinigt: Nun darf erst ab 2. Januar plakatiert werden. Für Hannah Lupper ist das eigentlich immer noch zu früh. Sie denkt an Wahlkampfhelfer, die in das neue Jahr feiern »und am nächsten Tag auf Metallleitern klettern müssen.«

Wer den neuen Wahlkampf nun eigentlich finanziert, ist weder der SPD-Kandidatin noch dem Bezirksstadtrat von der Linken klar. Wie das mit der Wahl­kampf­kos­ten­rück­er­stattung aussieht, weiß derzeit wohl niemand genau.

Es ist nicht die einzige Frage, die bislang noch ungeklärt ist. Ist eine beantwortet, so scheinen sich gleich zwei neue zu stellen. Sowohl Hannah Lupper als auch Oliver Nöll erinnern allerdings auch daran, dass diese Situation einzigartig ist. Noch nie hat in Berlin eine komplette Wahl wiederholt werden müssen. »Es gibt einfach keinen Präzedenzfall«, meint Oliver Nöll.

Er kann zwar davon ausgehen, dass er Bezirksstadtrat bleibt, doch was geschieht, wenn die SPD die Linke überholt? Wird dann Kollege Andy Hehmke stellvertretender Bezirksbürgermeister? Oliver Nölls offene Antwort: »Ich weiß es nicht.«

Hannah Lupper treibt derweil noch eine ganz andere Frage um. Sie rechnet vor, dass nach der Berlinwahl im Jahr darauf die Europawahl, dann die Bundestagswahl und danach schon die nächste reguläre Berlinwahl folgen. »Wir haben dann fünf Jahre jedes Jahr Wahlkampf. Und im Wahlkampf wird keine Politik gemacht«, meint sie und befürchtet nun den völligen politischen Stillstand.

In einem sind sich parteiübergreifend wohl die meisten Akteure einig: Das ist ein Wahlkampf, den niemand wirklich will.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2022.

Balanceakt zwischen Wahl und Bürgerservice

Oliver Nöll erklärt, wie er beides gleichzeitig in Griff bekommen will

Eingangstüren des Rathaus KreuzbergDie Bürgerämter sollen trotz Wahlvorbereitung offen bleiben. Foto: psk

90 Tage Zeit für etwas, was eigentlich ein Jahr erfordert. Die Vorbereitung für die Wiederholung der Berlinwahl am 12. Februar ist eine Mammut­aufgabe für die örtliche Verwaltung. In anderen Bezirken hat man darauf bereits mit der Schließung von Bürgerämtern reagiert. In Friedrichshain-Kreuzberg soll es nach Möglichkeit nicht dazu kommen, erklärt der zuständige Stadtrat für Bürgerdienste, Oliver Nöll. 

Lediglich das Ausbildungs-Bürgeramt in der Schlesischen Straße sei bislang etwas zurückgefahren worden. Wahlvorbereitung und Bürgerdienste sollen so wenig wie möglich miteinander kollidieren. Vor der letzten Wahl habe es 18.000 Terminabsagen gegeben. Das will Oliver Nöll dieses Mal vermeiden – trotz der besonderen Situation.

Um das alles zu bewältigen, werden nun kurzfristig 40 bis 50 Mitarbeiter für ein Vierteljahr eingestellt. Dadurch entsteht auch ein erhöhter Raumbedarf, der ebenfalls gedeckt werden muss. Die Einstellung von neuem Personal, Anleitung und die Organisation von Räumlichkeiten bindet natürlich auch wieder Kapazitäten in den Bürgerämtern.

Hinzu kommen aber auch noch andere Zusatzbelastungen für die Bürgerämter. Auch sie sind daran beteiligt, das gerade frisch verabschiedete Bürgergeld Realität werden zu lassen. Zudem bringt die Wohngeldreform eine Menge Arbeit für die Ämter mit.

Doch trotz dieser zahlreichen zusätzlichen Aufgaben will Nöll ganz bewusst nicht an die Bürger appellieren, in den nächs­ten Monaten auf Bürgerdienste zu verzichten. Aber er fügt auch hinzu: »Wenn jemand aber mit seinem Anliegen 90 Tage warten kann, sind wir natürlich nicht traurig.«

Und wie sieht es mit der Briefwahl aus? Das ist in der Tat ein Dilemma. So offensiv wie in der Vergangenheit will man dieses Mal eigentlich nicht für das Briefwählen werben. Schließlich binden auch Briefwähler Kapazitäten. Andererseits vermindert jeder Briefwähler ein erneutes Chaos in den Wahllokalen. 

Doch wie soll das bei der Wiederholungswahl vermieden werden? Vor allem mit Masse. In ganz Berlin gibt es dieses Mal 8.000 Wahlhelfer mehr als bei der Wahl im September 2021. In Friedrichshain-Kreuzberg ist die Rückmeldung schon sehr gut. Von den 4.000 anvisierten Wahlhelfern haben sich schon mehr als 1.500 gemeldet, die dann ein deutlich höheres Erfrischungsgeld erhalten werden.

Es wird außerdem in jedem Wahllokal mehr Wahlkabinen geben. Die langen Schlangen hatte es im vergangenen Jahr auch deshalb gegeben, weil die Wählenden sich deutlich mehr Zeit in der Wahlkabine gelassen hatten, als vorher berechnet. Auch wenn jetzt zumindest die Bundestagswahl wegfällt, will Nöll trotzdem mit mehr Wahlkabinen langen Schlangen entgegenwirken.

Eine andere Rechnung war bei der gescheiterten Wahl in vielen Wahllokalen ebenfalls nicht aufgegangen: Die Zahl der Stimmzettel. Die gingen mancherorts aus. Wie konnte das passieren? Oliver Nöll klärt auf: »Es gibt immer eine Anzahl von Nichtwählern und eine Anzahl von Briefwählern. In Wahllokalen gibt es nie so viele Wahlzettel wie mögliche Wählende. Doch das werden wir dieses Mal ändern. In jedem Wahllokal sollen 100 Prozent der Stimmzettel liegen.«

Es ist dem Bezirksstadtrat für Soziales und Bürgerdienste schon klar, dass er einen weiten Spagat wagt. Einerseits will er die Wahl so gründlich und sicher wie möglich vorbereiten, andererseits will er aber auch den Service der Bürgerämter so wenig wie möglich einschränken. So mutig der Versuch ist, so sehr macht er auch Sinn. Seit Jahren klagen Berliner Bürger über die Dysfunktionalität der Verwaltung. Die missglückte Wahl sah da nur aus wie eine Bestätigung für den Unmut.

Wenn es nun also gelingen sollte, die Wahl gut vorbereitet über die Bühne zu bekommen und gleichzeitig die Bürgerämter am Laufen zu halten, kann das vespielten Kredit wieder zurückholen. Oliver Nöll ist vorsichtig: »Ich bin verhalten optimistisch, aber es gibt viele Unwägbarkeiten.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2022.

Kommt die Kotti-Wache im NKZ?

Kritik an Innensenatorin Spranger wächst

Galerie des NKZDie Galerie des NKZ soll künftig eine Polizeiwache beherbergen. Foto: rsp

Wie Mitte Juni bekannt wurde, ist der Mietvertrag für die von Innensenatorin Iris Spranger (SPD) geplante Polizeiwache am Kottbusser Tor bereits unterschrieben – sehr zum Verdruss der zahlreichen lokalen Initiativen, die den Standort im ersten Stock des Neuen Kreuzberger Zentrums (in der Galerie über der Adalbertstraße) kritisch sehen. 

»Wir sind fassungslos, mit welcher Ignoranz gegenüber Widerspruch und Kritik von allen Seiten Frau Innensenatorin hier ihr persönliches Prestige-Projekt rücksichtslos durchpeitscht«, so Lino Hunger von »Kotti für alle«.

Kritik gibt es aber auch vonseiten der Gewerkschaft der Polizei (GdP), die die angedachte Personalausstattung mit 20 Kräften wie auch die Fläche von rund 200 Quadratmetern für unzureichend hält und – auch aus Sicherheitsgründen – eine ebenerdige Wache präferiert. 

Bei den Anwohner- und Gewerbetreibendeninitiativen ist man nicht grundsätzlich gegen eine Polizeiwache am Kotti, sondern stört sich vor allem an der Symbolik der exponierten Lage über den Köpfen der Menschen – und daran, dass die Innensenatorin bislang nicht den Dialog mit den Initiativen oder auch der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) gesucht hat. Zuletzt ließ sich Spranger für eine Sonderausschusssitzung der BVV entschuldigen. Einen runden Tisch mit den Beteiligten will die Innensenatorin frühestens im August stattfinden lassen.

BVV mahnt Bürgerbeteiligung an

Die Ausschussmitglieder, die sich am 22. Juni vor Ort dann ohne die Innensenatorin trafen, fordern dagegen, dass der runde Tisch zeitnah stattfindet und bis dahin keine Baumaßnahmen eingeleitet werden. Bis dahin solle auch »Transparenz zu den Ergebnissen der Prüfungen von alternativen Standorten für eine Polizeiwache hergestellt werden«, heißt es in der Resolution, die Ende Juni von der BVV beschlossen wurde. »Insgesamt muss die Sicherheit, Lebens- und Aufenthaltsqualität am Kottbusser Tor mit einem Bündel aus städtebaulichen, verkehrlichen und sozialen Maßnahmen, wie dem Ausbau der aufsuchenden Sozialarbeit, der Absicherung der Gesundheitsangebote der Suchthilfe und des Drogenkonsumraums, aber auch der Müllvermeidung und besseren Entsorgung sowie einer klimafreundlichen Umgestaltung durch Begrünung und Entsiegelung gesteigert werden, um die vielfältigen Problemlagen vor Ort nachhaltig lösen zu können«, so das Fazit des Antrags.

Neben der Kritik aus dem Bezirk hat die von der Innensenatorin stets als alternativlos dargestellte Kotti-Wache auf der NKZ-Galerie aber auch noch mit einer Kos­ten­ex­plo­sion zu kämpfen. Bereits im Frühjahr war klar geworden, dass die Kosten für das Projekt nicht bei den im Koalitionsvertrag ursprünglich ausgehandelten 250.000 Euro bleiben würden, sondern sich eher verzehnfachen. Inzwischen sind gar zusätzliche 3,5 Millionen Euro beschlossen. 

Wegen der Lage im ersten Stock muss unter anderem ein Aufzug gebaut werden, der aber nach der derzeitigen Planung offenbar noch nicht einmal groß genug sein wird, um mit dem Rollstuhl benutzt werden zu können. Auch die große Glasfront muss zum Schutz der Polizeiwache durch Sicherheitsglas ersetzt werden.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juli 2022.

Bezirk bereitet sich auf Flüchtlinge vor

Noch weiß niemand, wie viele Menschen aus der Ukraine kommen werden

Update: Zwei Wochen nachdem dieser Artikel geschrieben wurde, ist immer noch kein Ende von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine in Sicht. Die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine liegt EU-weit bereits seit einiger Zeit deutlich über den im Artikel genannten Schätzungen. In Deutschland waren es laut Tagesschau.de zuletzt knapp 123.000 Personen (Stand 12.3.2022).

Eingangstor eines ContainerdorfsDie Tempohomes in der Alten Jakobstraße werden wohl bald Flüchtlinge aus der Ukraine beherbergen. Foto: psk

Was lange befürchtet wurde, ist schließlich eingetreten. Russland hat die Ukraine angegriffen. 700 Kilometer entfernt von Berlin fallen Bomben. Während die Regierungen über Sanktionen gegen Putins Regime beraten, laufen inzwischen bereits die Vorbereitungen für die Aufnahme von Flüchtlingen an.

»Das Problem ist, dass wir jetzt natürlich noch nicht wissen, wie viele Flüchtlinge kommen werden«, erklärt der Sozialstadtrat des Bezirks, Oliver Nöll. Doch andernorts ist man auch nicht klüger. Auf Nachfrage bei der EU erfahren wir, dass es verschiedene Szenarien gibt, die sich zwischen 50.000 und einer Million bewegen.

Wenigstens eines ist klar: Die Verteilung der Flüchtenden bemisst sich nach dem Königsteiner Schlüssel. Konkret würde das bedeuten, dass, wenn 100.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland Schutz suchen sollten, 5.000 dem Bundesland Berlin zugewiesen würden.

Als erste Maßnahme ist geplant, dass das Containerdorf »Tempohomes« in der Alten Jakobstraße nicht wie geplant abgebaut wird. Auch über andere Standorte wird nachgedacht, wie das ehemalige House of Life. »Das ist aber wirklich das Worst-Case-Szenario«, versichert Oliver Nöll.

Er drängt auch darauf, dass sogenannte »Statusgewendete«, also Asylsuchende, deren Status geklärt wurde, vorerst im Verantwortungsbereich des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) verbleiben, denn das entlaste die Bezirke bei der Suche nach Unterkünften.

»Es soll nicht so laufen, wie 2015«, erklärt der Sozialstadtrat und ist zuversichtlich, dass Stadt und Bezirk dieses Mal besser gerüstet sind. Eine Konsequenz war, dass das LAF aus dem damals völlig überlasteten LaGeSo ausgegliedert wurde.

In Friedrichshain-Kreuzberg lief vor sieben Jahren vieles besser als in anderen Bezirken. Oliver Nöll weiß auch warum: »Es war das zivilgesellschaftliche Engagement, das sehr geholfen hat.«

»Der ganze Verein steht bereit, um zu helfen«

Viele Vereine und Initiativen hatten sich damals der Hilfe für Geflüchtete verschrieben. Dazu gehörte auch der Nachbarschaftsverein mog61. Auch dort habe man bereits begonnen, die Lage und mögliche Hilfsmaßnahmen zu diskutieren, wie die Vorsitzende Marie Höpfner erklärt. Allerdings gilt für den vergleichsweise kleinen Verein das gleiche wie für die kontinentale Organisation EU, es fehlen im Moment noch Zahlen. »Wir wissen ja noch nicht, wie viele Menschen unsere Hilfe brauchen«, sagt Marie Höpfner und fügt hinzu: »Wir stehen auf jeden Fall bereit, wieder zu helfen.«

Wie die Hilfe konkret ausgestaltet werden kann, darüber wird in den nächsten Tagen ausführlich gesprochen werden. Die mog-Vorsitzende erinnert daran, dass der Verein vor sechs Jahren schon während der Krim-Krise aktiv war. Damals wurde Hilfspakete geschnürt und in die Ukraine geschickt. Dieses Mal sei das etwas anderes, fürchtet sie, denn sie glaubt nicht, dass man angesichts des Krieges noch Päckchen verschicken kann. Dagegen ist sie fest davon überzeugt, dass der ganze Verein sich ebenso tatkräftig zeigen wird, wie in den vergangenen Krisen.

Zurück zum »Tempohome« in der Alten Jakobstraße. Dort können in den 40 Wohneinheiten 160 Geflüchtete untergebracht werden. »Ich bin zwar kein Freund von Containern«, gesteht Oliver Nöll, »aber immer noch besser als in Turnhallen.« Auch im Fall des im Februar 2018 eröffneten Containerdorfes hatte die Bevölkerung tatkräftig dabei geholfen, die Bewohner in das Kiezleben zu integrieren. So zeichneten Ehrenamtliche für Themencafés und Kurse verantwortlich. Gemeinsame Feste wurden ausgerichtet.

Nachdem die letzten Bewohner ausgezogen waren, sollte in diesem Jahr alles abgebaut werden. Die Laufzeit soll nun mindestens für ein halbes Jahr verlängert werden. Oliver Nöll erwartet da keine Probleme: »Es ist ja schon betriebsfertig.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2022.

Keine Straßenfeste im ersten Halbjahr

Bezirk sagt MyFest ab / Karneval der Kulturen plant für 2023

Menschenmassen auf der Wiese am Oranienplatz beim MyFest 2011Das MyFest wird auch 2022 nicht stattfinden können. Foto: rsp

Auch im ersten Halbjahr 2022 werden wohl keine Großveranstaltungen oder großen Feste im öffentlichen Straßenland oder Grünanlagen stattfinden können. Da aktuell nicht absehbar sei, wie sich die Infektionslage in den nächsten Monaten entwickeln wird, könne man »die Planung von Großveranstaltungen und ähnlichem im öffentlichen Raum aktuell nicht unterstützen«, teilte das Bezirksamt in einer Pressemitteilung mit. Davon betroffen ist unter anderem das MyFest.

»Die aktuellen Infektionszahlen sind dramatisch. Jeden Tag werden neue Rekorde vermeldet. Es ist daher nicht die richtige Zeit, um große Veranstaltungen und große Feste zu planen«, erklärte Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann. Wenn sich die pandemische Lage im Frühjahr entspannen sollte und die Inzidenzen massiv sinken, werde man aber darauf reagieren.

Bereits einige Tage zuvor hatten die Veranstalter des Karnevals der Kulturen das Event zu Pfingsten abgesagt. Die dafür notwendige Einzäunung spräche »dem Grundgedanken des Karnevals entgegen, der sich auf eine auf Beteiligung ausgelegte, frei zugängliche innerstädtische Intervention bezieht«, teilten die Verantwortlichen mit, die eine erneute kurzfristige Absage nicht riskieren wollen.

Gemeinsam mit allen Akteuren solle 2022 genutzt werden, um in einem umfänglichen partizipativen Verfahren das Konzept des Karnevals zu überdenken. 2023 solle die Veranstaltung dann mit neuer Strategie kraftvoll in die Zukunft starten, hieß es weiter.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2022.

Wieder Wahlpannen im Bezirk

Seniorenvertreter sollen im März gewählt werden

Das Nachbarschaftshaus in der Urbanstraße ist eines von fünf Wahllokalen. Hier kann am 14. März die Seniorenvertretung gewählt werden. Foto: psk

»Ich habe Unterlagen aus dem Wedding bekommen«, erzählt ein Rentner aus der Skalitzer Straße. Er gehört zu denen, die sich sehr dafür interessieren, im März eine neue Seniorenvertretung zu wählen. Damit dürfte er allerdings zu einer Minderheit zählen, denn vor fünf Jahren nahmen von den etwa 43.000 wahlberechtigten über 60-Jährigen im Bezirk gerade mal etwa fünf Prozent an der Abstimmung teil.

»Viel zu wenig«, findet Tobias Baur, der zum ersten Mal für das Gremium kandidiert. »Das müssen in Zukunft mehr werden«, fordert er.

Doch die Voraussetzungen sind nicht so gut dafür. Für die berlinweiten Wahlen wurden insgesamt etwa 70.000 fehlerhafte Wahlunterlagen verschickt. Verantwortlich war dafür einmal mehr der landeseigene Dienstleister ITDZ, das einstige Landesamt für Informationstechnik.

Der zuständige Stadtrat ist gerade mal sechs Wochen im Amt und ziemlich angefressen. Oliver Nöll hätte am liebsten seine eigenen Mitarbeiter die Post an die Kreuzberger und Friedrichshainer Senioren verschicken lassen. »Dann hätte ich wenigstens gewusst, dass es klappt.« Natürlich ist ihm klar, dass das undurchführbar war, sonst hätte er bei der Einkuvertierung von 43.000 Briefen sein eigenes Haus für ein paar Tage lahmgelegt.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Angesichts der dramatisch gestiegenen Coronazahlen sah sich Nöll gezwungen, die öffentlichen Vorstellungsrunden abzusagen. »Ich kann doch nicht 20 Kandidaten und 80 bis 100 Zuhörer in einen Raum stecken, die alle auch noch zur Hochrisikogruppe zählen.«

Stattdessen setzt er nun auf ein digitales Format, das im Februar umgesetzt werden soll. Dem Stadtrat ist dabei durchaus bewusst, dass er sich auf juristisch dünnes Eis begibt. Allerdings sieht er auch keine andere Möglichkeit.

Kandidaten nur im Stream

So werden die 19 Kandidaten im Internet vorgestellt. Das ist für den 14. Februar von 14 bis 17 Uhr und den 22. Februar von 10 bis 12 Uhr geplant.

Dabei allerdings tut sich noch ein Problem auf. Etliche Senioren sind wenig bis gar nicht computeraffin. Für die wird es schwer sein, überhaupt auf die Seite zu kommen. Wer nämlich nur das Stichwort »Seniorenvertretung Friedrichshain-Kreuzberg« eingibt, kommt zwar auf die Seite, doch auf der gibt es keinen Hinweis auf die Wahlen für das Gremium. Man muss also schon gezielt nach den Wahlen für die Seniorenvertretung suchen.

Nach den verkorksten Wahlen zum Bundestag, dem Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen hat das erneute Chaos viele verärgert.

Allerdings bleibt ein schwacher Trost: Nie wurde im Vorfeld einer Senioren-Beiratswahl so viel darüber berichtet. Vielleicht nimmt die Wahlbeteiligung ja deswegen zu.

Was wird gewählt?
Die Bezirks-Senioren-vertretung setzt sich für die älteren Mitbürger im Bezirk ein. Mitglieder haben in Ausschüssen der BVV Rederecht und beraten das Bezirksamt.
Wer wird gewählt?
Das Gremium besteht aus bis zu 17 Mitgliedern und wird auf fünf Jahre gewählt. Wahlberechtigt sind alle über 60-Jährigen im Bezirk, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit.
Wie wird gewählt?
Jeder Wahlberechtigte kann bis zu zehn Stimmen verteilen. Stimmenhäufungen sind nicht erlaubt.
Wann wird gewählt?
  • 14.3. 10:00–15:00: Nachbarschaftshaus Urbanstraße, Ur­ban­straße 21, 10961 Berlin
  • 16.3. 15:00–18:00: Stadtteilzentrum Familiengarten, Oranienstraße 34, 10999 Berlin
  • 18.3. 10:00–15:00: Begegnungsstätte Mehring-Kiez, Friedrichstraße 1, 10969 Berlin

sowie in Friedrichshain:

  • 15.3. 10:00–15:00: Stadtteilzentrum F´hain, Pauline-Staegemann-Str. 6, 10249 Berlin
  • 17.3. 10:00–15:00: Seniorenzentrum Friedrichshain, Singerstr. 83, 10243 Berlin

Mehr Infos gibt es hier.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Februar 2022.

»Wenn wir immer einig wären, wären wir in einer Partei«

Die künftige Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann und ihr Stellvertreter Oliver Nöll im Gespräch

Oliver Nöll (Linke) und Clara Herrmann (Grüne)Oliver Nöll und Clara Herrmann beim Gespräch mit Kiez und Kneipe. Foto: rsp

Ein Blick auf das Wahlergebnis in Friedrichshain-Kreuzberg ließe vermuten, dass es im Bezirksamt genau so weitergehen könnte, wie in den vergangenen fünf Jahren. Tatsächlich ändert sich aber eine ganze Menge – und das liegt nicht nur daran, dass es künftig sechs statt fünf Stadträte und Stadträtinnen geben wird. Kiez und Kneipe hat sich mit der künftigen Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann und ihrem neuen Stellvertreter Oliver Nöll getroffen, um zu erfahren, was die Bürgerinnen und Bürger in den nächsten fünf Jahren vom neuen Bezirksamt erwarten können.

Die erste Erkenntnis aus diesem Gespräch ist: Zwischen der Grünen und dem Linken stimmt die Chemie. In vielen Bereichen sind die Ansichten nahezu deckungsgleich. Allerdings betont Oliver Nöll auch die Unterschiede: »Wenn wir alle einer Meinung wären, dann wären wir in der gleichen Partei.« Seine Partei, die Linke, profitiert im Übrigen von der Neuordnung, denn für sie gibt es einen Stadtratsposten mehr, den Regine Sommer-Wetter einnehmen wird. Für die Grünen rückt Annika Gerold nach. Clara Herrmann, Florian Schmidt und Andy Hehmke von der SPD gehörten dem Bezirksamt schon in den vergangenen fünf Jahren an.

Was den Zuschnitt der Ressorts bestrifft, wird sich einiges ändern: Clara Herrmann dazu: »Durch die neuen Regelungen sind wir in unseren Ressortzuschnitten eingeschränkt. Bestimmte Kombinationen sind nicht mehr möglich.« Trotzdem zeichnet sich ein Ressortzuschnitt ab: Der Bürgermeisterin fällt nun automatisch das Ressort Finanzen zu, das Clara Herrmann aber ohnehin schon in den letzten fünf Jahren verwaltet hat. An ihren Stellvertreter Oliver Nöll gehen Arbeit und Soziales sowie Bürgerdienste. Schulstadtrat Andy Hehm­ke wird das Ordnungsamt abgeben. Das geht wohl an Annika Gerold, die auch die öffentlichen Räume mit dem Straßen- und Grünflächenamt (SGA) verwalten soll. Jugendstadträtin wird Regine Sommer-Wetter.

Florian Schmidt bleibt Baustadtrat. Er war in der vergangenen Legislatur das umstrittenste Mitglied des Bezirksamts. Doch Oliver Nöll signalisiert, dass sich seine Fraktion dem Personalvorschlag der Grünen nicht entgegenstellen wird. Er legt auch Wert auf die Feststellung, dass die Linke sich nie gegen das Instrument des Vorkaufsrechts gestellt habe. Nur in der Umsetzung sei man nicht immer einer Meinung gewesen.

Doch das Vorkaufsrecht ist nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts jetzt erst einmal Geschichte. Clara Herrmann nennt das »eine Katastrophe« und sieht nun die neue Bundesregierung in der Pflicht. Dem schließt sich ihr künftiger Stellvertreter ausdrücklich an.

Während auf vielen Gebieten nahezu Harmonie herrscht, gibt es einen Bereich, an dem die unterschiedlichen Standpunkte sehr deutlich werden. Es geht um das Thema Verkehr. Zwar sind sich beide einig, dass eine Verkehrswende im Bezirk umgesetzt wird, doch beim Wie gehen die Meinungen auseinander. Clara Herrmann setzt hier voll auf die Initiativen der Kiezblocks. Sie verweist darauf, dass es zwar auch bei der hochumstrittenen Umwandlung der Bergmannstraße sehr heftige Debatten gegeben habe, »aber am Ende hat das mit der Beteiligung sehr gut funktioniert. Wie wir das auf den letzten Metern gemacht haben, kann auch eine Blaupause dafür sein, wie man das in anderen Kiezen angeht.«

Hier widerspricht ihr Oliver Nöll. »In der Bergmannstraße wohnt jetzt nicht gerade das Prekariat«, meint er. Grundsätzlich sind die Linken der Meinung, dass die Bevölkerung durch Bürgerbeteiligungen mehr mitgenommen werden muss.

Ein großes Thema in ganz Berlin sind die Bürgerdienste. Bürger, die monatelang auf einen Reisepass oder einen Personalausweis warten und dann von Kreuzberg möglicherweise auch noch nach Hellersdorf oder nach Spandau fah­ren müssen, sind keine Ausnahme, sondern fast schon die Regel. Bundesweit gilt das als Paradebeispiel für die dysfunktionale Verwaltung Berlins. Jüngst hatte ausgerechnet der ehemalige regierende Bürgermeister Klaus Wowereit die Bezirksämter für das Versagen verantwortlich gemacht.

Das macht die beiden Kommunalpolitiker gleichermaßen wütend. Tatsächlich sei die zentrale Terminvergabe ja unter Wowereits Regierung eingeführt worden, die gleichzeitig auch die Mittel so stark gekürzt habe, dass das Personal immer stärker zurückgefahren wurde.

Doch beide belassen es nicht bei Schuldzuweisungen, sondern haben auch ganz konkrete Vorschläge, wie die Situation entschärft werden kann.

»Beim Ausweis zum Beispiel«, meint Clara Herrmann, »würde ich mir wünschen, dass man einen Hinweis vom Bürgeramt bekommt, wenn er ausläuft, und gleichzeitig einen Terminvorschlag für die Verlängerung.«

Oliver Nöll regt an, den Antrag von Personalausweisen und Reisepässen zu digitalisieren. Der Abgleich von Bild und Unterschrift könne dann bei der Abholung geleistet werden.

Da dieser Bereich in die Zuständigkeit des Landes falle, könne der Bezirk aber immerhin versuchen, hier Einfluss zu nehmen. Für neue Verfahren könne der Bezirk auch Vorreiter sein, dazu sei er bereit.

Darüber hinaus glaubt Clara Herrmann, dass Dinge, die immer wieder neu beantragt werden müssen, nicht jedesmal mit einem Gang aufs Bürgeramt verbunden sein sollten. Sie nennt als Beispiel Anwohner-Park­ausweise. »Das könnte man machen wie mit einem Zeitungsabo, das sich auch immer wieder verlängert. Nur wenn sich etwas verändert, müsste man dann noch kommen.«

Um die Arbeit des Bezirks effektiver zu machen, benötigt es allerdings Geld. Und das ist ein Punkt, der ebenfalls beiden Sorgen macht. Während die Kommunen in den Flächenstaaten über eigene Steuereinnahmen, etwa über die Gewerbesteuer, verfügen, hängen die Bezirke Berlins komplett am Tropf des Senats. Tatsächlich hat es in der Vergangenheit sogar immer wieder Bestrebungen gegeben, die Bezirke als un­ters­te Verwaltungseinheit komplett abzuschaffen. Ein sogenannter Verfassungskonvent soll in der neuen Legislaturperiode das Verhältnis zwischen Senat und Bezirken klären. Bestrebungen hin zu mehr Zentralismus in Berlin erteilen beide eine entschiedene Absage. Clara Herrmann weist darauf hin, dass sowohl sie selbst als auch Oliver Nöll ja durchaus auf Erfahrungen auf Landes­ebene verweisen können, sie als ehemalige Abgeordnete und er als Bediensteter in der Senatsverwaltung für Soziales.

Allerdings droht jetzt erst einmal Ungemach: Es gibt noch keinen Haushalt, sondern nur einen Senatsbeschluss. »Wenn der zum Tragen kommt, müssen im Bürgeramt Stellen abgebaut werden«, meint Oliver Nöll und Clara Herrmann fügt hinzu: »Das betrifft nicht nur das Bürgeramt, sondern alle Bereiche.

Beide hoffen, dass es soweit nicht kommt. Oliver Nöll erinnert die designierte Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey an ihr Versprechen. »Sie hat mit diesem Thema Wahlkampf gemacht und versprochen, dass es allen Berlinern besser gehen wird. Das bedeutet, dass wir an dieser Stelle mehr Geld brauchen.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2021.