Kein Geld für Verkehrsberuhigung

Senatsverwaltung streicht dem Bezirk Mittel

Völlig unklar ist derzeit, wann es mit der Bürgerbeteiligung zur Verkehrsberuhigung in der Ur­ban­straße weitergehen kann. Bild: Gruppe Planwerk / Stadtentwicklungsamt FK

Ein Schreiben der Senatsverkehrsverwaltung sorgte Mitte März für Unmut und Besorgnis  in mehreren Berliner Bezirksämtern – unter anderem auch dem von Friedrichshain-Kreuzberg.

Es wurde mitgeteilt, dass im Jahr 2024 keinerlei Haushaltsmittel für laufende und geplante Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung zur Verfügung gestellt werden könnten.

Gemeldet war aus Friedrichshain-Kreuzberg ein Bedarf von knapp 300.000 Euro, unter anderem für Projekte im Bereich Schulwegsicherheit sowie für die Bürgerbeteiligung zu geplanten Verkehrsberuhigungsmaßnahmen in der Urbanstraße und Verkehrssicherheitsmaßnahmen im Gebiet Südliche Friedrichstadt West.

Dem Tagesspiegel erklärte die Verkehrsverwaltung, dass der Teilansatz »Entwicklung von Verkehrskonzepten und Begleituntersuchungen in den Bezirken« von 700.000 Euro in 2023 auf 400.000 in 2024 und 2025 habe gekürzt werden müssen.

Die Friedrichshain-Kreuzberger Verkehrsstadträtin Annika Gerold ist verärgert: »Die Streichung der Mittel betrifft Projekte für mehr Verkehrssicherheit für schwache Ver­kehrs­teil­neh­mer*in­nen. Damit macht der Senat einmal mehr deutlich, dass Verkehrssicherheit für ihn ein reines Lippenbekenntnis ist. Die Senatsverwaltung für Verkehr kürzt ausgerechnet bei denjenigen, die von mehr Verkehrssicherheit am meisten profitieren würden […] Viele im Bezirksparlament beschlossene und bereits gestartete Projekte und Maßnahmen müssen nun abgebrochen werden. So verlieren Politik und Verwaltung das Vertrauen der Bürger*innen.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2024.

Verkehrssenatorin stoppt Radwegebau

Finanzierung »vorläufig« ausgesetzt

Radstreifen entlang der Zossener Straße (Höhe Heilig-Kreuz-Kirche) mit einem RadfahrerVermutlich »vorläufig« nicht gefährdet: Radstreifen in der Zossener Straße. Foto: psk

Update: Bezirk bezweifelt Rechtmäßigkeit des Stopps / Radweg in der Stallschreiberstraße wird gebaut (s.u.)

Es fing an mit ein paar E-Mails: Mitte Juni teilte die Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt (SenMVKU) den Bezirken mit, dass die neue Hausleitung – also Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) – darum bitte, geplante Radwegeprojekte auszusetzen, sofern dafür auch nur ein einziger Parkplatz oder ein Fahrstreifen für Autos wegfiele.

Schon einen Tag später ruderte Schreiner zurück: »nicht mehr als zehn Parkplätze auf 500m« seien einer Pressemitteilung zufolge dann doch akzeptabel, sofern Wirtschafts- und Lieferverkehr nicht erheblich beeinträchtigt würden und, weiterhin, keine Fahrstreifen wegfielen. Alle anderen Projekte würden »überprüft und priorisiert«.

Doch »priorisiert« heißt in dem Kontext: erstmal gestoppt.

In den Bezirken herrscht seitdem erhebliche Unsicherheit. Auch in Friedrichshain-Kreuzberg könnten mehr als zehn Projekte betroffen sein, teilte das Bezirksamt auf Anfrage mit, jedoch ließe »die Kommunikation der SenMVKU sehr viele Fragen offen«.

Bei Projekten wie der Stallschreiberstraße dürfte die von der Senatsverwaltung formulierte Ausnahme für Maßnahmen gelten, die die Schulwegsicherheit erhöhen. Tatsächlich hat die Senatsverwaltung den Stopp für diesen Radweg am Dienstag zurückgenommen. Anderswo jedoch, etwa in der Urbanstraße und der Oranienstraße, ist fraglich, welche Zukunft die­se Projekte haben. Hier läuft die Vorplanung teilweise bereits seit Jahren. Doch mit der »Bitte« der Senatsverwaltung sei auch ein vorläufiges Aussetzen der Finanzierungszusagen verbunden, erklärte Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne). Ein entsprechendes Schreiben war dem Bezirk am 20. Juni zugegangen.

1,5 Millionen Euro drohen zu verfallen

Allein im Bezirk geht es um Gelder in Höhe von insgesamt rund 1,5 Millionen Euro, die jetzt auf der Kippe stehen. Darunter sind vor allem Fördermittel des Bundes, die zu verfallen drohen, wenn sie nicht noch dieses Jahr ausgegeben werden oder wenn die von Senatorin Schreiner an­ge­kün­dig­te Überprüfung der Projekte zu größeren Umplanungen führt.

Ende Juni fand eine Gesprächsrunde zwischen Bezirksstadträten und Senatorin statt – zur Frage, wie konstruktiv die lief, gibt es jedoch sehr unterschiedliche Einschätzungen. Zuletzt hatten Verkehrsstadträte aus mehreren Bezirken der Senatorin ein Ultimatum gestellt, den allgemeinen Projektstopp zurückzunehmen und für Planbarkeit zu sorgen.

Rechtsamt bezweifelt Rechtmäßigkeit

Bereits vor einigen Tagen hatte Friedrichshain-Kreuzberg sein Rechtsamt mit einer juristischen Überprüfung des Radwegestopps beauftragt. Bei einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz am heutigen Mittwoch wurde jetzt das Ergebnis verkündet. Demnach bestünden seitens des Bezirks Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Senatsverwaltung. Eine temporäre Außerkraftsetzung der Mittelzusagen gäbe die Landeshaushaltsordnung nicht her. »Wir haben einen geltenden Haushalt«, betonte Rolfdieter Bohm, Leiter des Rechtsamts. Der Doppelhaushalt sei vom Abgeordnetenhaus beschlossen worden und sei so auch vom Senat und den Bezirken zu beachten. Wenn darin Mittel für Fahrradwege vorgesehen seien, so die Argumentation, könnten diese nicht einfach vorübergehend außer Kraft gesetzt werden.

Zudem bestünde bei laufenden Ausschreibungen die Gefahr, dass sich das Land Berlin regresspflichtig mache, wenn die Ausschreibung wegen eines Aussetzens der Finanzierung gestoppt werde.

Eine Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit vor Gericht prüfen zu lassen gibt es allerdings nicht. Berlin ist eine sogenannte Einheitsgemeinde, sodass die Bezirke keine eigenen Rechtspersönlichkeiten sind, die etwa gegen »das Land Berlin« klagen könnten. Von dem Ergebnis der Prüfung durch das Rechtsamt verspricht man sich allerdings eine weitere Argumentationsebene gegen die Senatsverwaltung, denn auch die könne kein Interesse daran haben, gegen Recht und Gesetz zu handeln.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juli 2023.

Wildwest in der Körtestraße

Der Kampf um die Fahrradstraße

Absperrung in der KörtestraßeDurchfahrt verboten? Viele Autofahrer interessiert das einfach nicht. Foto: psk

Das Bild im Newsletter des Tagesspiegels entbehrte nicht einer gewissen Dramatik. Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann stellte sich mitten in der Nacht in der Körtestraße einem BMW in den Weg. Tatsächlich muss es an jenem Abend zu dramatischen Situationen gekommen sein, als das Bezirksamt auf sehr unkonventionelle Art und Weise das neue Durchfahrtsverbot durch die Körtestraße durchsetzen wollte. Es hatte schon den Hauch eines Showdowns im Wilden Westen.

Zur Vorgeschichte gehört, dass die Körtestraße bis vor kurzem eine der wichtigen Querspangen zwischen den Hauptmagistralen Urban- und Gneisenaustraße war. Doch seit sie zur Fahrradstraße umgewidmet wurde, ist der Autoverkehr eigentlich nur noch für Anlieger gestattet. Doch Schilder alleine, so eine bittere Erkenntnis, machen noch keine Fahrradstraße. Bis zum 15. August hoffte der Bezirk noch auf die Einsicht der Autofahrer. Eine Beinahekatastrophe änderte alles. Gegen 20 Uhr raste damals ein weißer Audi R8 durch die Körtestraße Richtung Urbanstraße. Die Einmündung von der Körte- in die Fichtestraße wurde dem Raser zum Verhängnis und um ein Haar auch einer mehrköpfigen Familie, die beinahe von dem Sportwagen erfasst worden wäre. Dafür nietete das Auto »nur« zwei Verkehrsschilder um. Der 22-jährige Fahrer war ohne Führerschein und auf der Flucht vor der Polizei.

Trotzdem war der Unfall der Anlass für das Bezirksamt, in der Körtestraße auf ganz andere Art und Weise Gas zu geben. So sollen Autofahrer in Zukunft nicht nur mit Schildern ausgebremst werden. Eine breite Barriere bestehend aus Blumenkübeln, Absperrbaken und Schildern auf Höhe der Freiligrathstraße soll den Autofahrern die Lust an der Durchfahrt nehmen. Doch die Fahrer zeigen sich widerspenstig.

Bauliche Veränderungen bewegen bislang wenig

Selbst die baulichen Veränderungen haben kaum etwas an der Situation geändert. Schließlich schritt Monika Herrmann höchstpersönlich zur Aufhaltemission. Gemeinsam mit Felix Weisbrich vom Straßen- und Grünflächenamt versuchte sie, die Autofahrer über die neue Situation aufzuklären. Statt Einsicht ernteten die beiden häufig »Hass, Drohungen und Ignoranz«, wie ein Augenzeuge auf Twitter berichtete.

Auch die KuK hat sich wenige Tage später die Situation angesehen, allerdings bei Tag. Das Ergebnis ist ganz ähnlich: Manchmal umfuhren fünf Wagen hintereinander die Sperre in sportlichem Schlenker, um sich am Südstern in die Schlange an der roten Ampel einzureihen. Anlieger? Definitiv nein. Beim Versuch, die Verkehrssituation zu fotografieren, tritt ein Fahrer beherzt aufs Gaspedal. Die obszöne Geste bleibt an diesem Tag kein Alleinstellungsmerkmal.

Auch die neuen Markierungen auf der Straße machen jetzt jedem Autofahrer deutlich, dass er sich auf einer Fahrradstraße befindet und damit als Verkehrsteilnehmer nachrangig ist. Manche Radler nutzen das und fahren bewusst nebeneinander. Sie bilden sozusagen ein rollendes Verkehrshindernis. Doch möglicherweise braucht es noch mehr als das.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2020.

Karstadt wird Pop-up-Kaufhaus

Dritter Stock bietet ein halbes Jahr Gebrauchtwaren an

Karstadt am HermannplatzEin halbes Jahr lang gibt es im dritten Stockwerk vom Karstadt am Hermannplatz Gebrauchtwaren. Foto: rsp (Archiv)

Ist Signa ein Segen oder ein Fluch für den Karstadt am Hermannplatz? Für die Fraktion der Grünen, der Linken und der PARTEI in der BVV ist das eine klare Angelegenheit. Sie wollen nicht, dass das Unternehmen Signa den Bau am Hermannplatz abreißt und nach historischem Vorbild wieder neu baut.

Der Einfluss der Bezirksverordnetenversammlung ist indes sehr beschränkt, denn seit der Senat das Verfahren an sich gerissen hat, bleibt nicht viel mehr als eine Resolution zu verabschieden. Und die wurde mit 17 zu 11 Stimmen noch nicht einmal mit einer überwältigenden Mehrheit angenommen.

Derweil arbeitet das Unternehmen des österreichischen Investors René Benko unbeirrt weiter an einer Charmeoffensive, die im vergangenen Jahr ihren Anfang nahm. Damals wurde durch den Hinterhof des Kaufhauses eine Radstraße als Verbindung zwischen Hasenheide und Ur­ban­stra­ße angelegt. Hinzu kamen Radparkplätze und eine Fahrradwerkstatt. Signa signalisierte damit, dass es hinter der Verkehrswende steht.

Am 9. September folgt eine weitere Neuerung. Das dritte Stockwerk wird für ein halbes Jahr für eine ziemlich ungewöhnliche Aktion freigeräumt. Zum ersten Mal bietet dann ein Kaufhaus in Deutschland auf einer ganzen Etage Gebrauchtwaren an.

Federführend ist bei dieser Aktion der neugegründete Verein Re-Use Berlin. Es werden nicht nur gebrauchte Dinge verkauft, es wird auch Workshops geben, ein Repaircafé und ein Reparaturnetzwerk unterstützt.

Verkauft werden kann aber nur, was da ist. Die Initiatoren sammeln in der ganzen Stadt auf Ökomärkten Geschirr, Bücher, CDs, LPs, Modeschmuck, Kleidung und Textilien, Spiele und Spielsachen. In guten Zustand muss alles allerdings noch sein, ehe es an die Frau oder den Mann gebracht wird.

Umweltsenatorin Günther freut sich über die Aktion: »Mit dem Pop-up-Store werden wir gut erhaltene Gebrauchtwaren für noch mehr Menschen einfach zugänglich machen. Deshalb gehen wir dorthin, wo die Menschen einkaufen: ins Kaufhaus. So kann jeder schnell prüfen, ob das Gesuchte auch gebraucht erhältlich ist. Das lohnt sich doppelt, weil es Geld spart und die Umwelt schützt. Mit dem Begleitprogramm zum Pop-up-Store wollen wir das Bewusstsein für nachhaltigen Konsum und umweltfreundliches Einkaufen stärken.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2020.

Nachbarschaftshaus wieder eröffnet

Mit viel Liebe zum Detail wurde das Nachbarschaftshaus restauriert, wie dieser Wandfries im großen Saal beweist. Die Arbeiten an Fassade und Dach gehen aber weiter. Der Garten des NHU bleibt deshalb auch weiter geschlossen. Foto: psk

Es scheint fast, als sei der Verhüllungskünstler Christo in der Urbanstraße am Werk gewesen. Das Nachbarschaftshaus ist jedenfalls dicht verpackt. Und das entbehrt nicht einer gewissen Ironie.  Fast ein Jahr war das NHU wegen Bauarbeiten geschlossen. Seit 22. Juni ist es wieder für das Publikum zugänglich. Auch das gute Dutzend Gruppen konnte wieder in ihre angestammten Räumlichkeiten zurückkehren. Doch erst seit Anfang Mai verhüllen Bauplanen das Gebäude. Auch wenn die Bauarbeiten weitergehen, bleibt das NHU nun geöffnet.

Für den Geschäftsführer des Nachbarschaftshauses Matthias Winter ist die Geschichte der Renovierung ein treffliches Beispiel, was für Überraschungen ein denkmalgeschütztes Gebäude bergen kann. Eigentlich hatten er und seine Mitarbeiter damit gerechnet, ein halbes Jahr früher wieder ins Haus zurückkehren zu können. Doch dann kam alles ganz anders.

Das Haus wurde 1913 errichtet und diente zunächst als Offizierskasino für die umliegenden Kasernen. Es hat immerhin zwei Weltkriege überstanden. Und das ziemlich unbeschadet. »Das Haus hat eine sehr gute Bausubstanz«, erklärt Matthias Winter. Trotzdem war es nun dringend renovierungsbedürftig.

Doch schnell stellte sich heraus, dass es mit ein paar Eimern Farbe nicht getan war. Zudem entdeckten Denkmalschützer immer wieder neue schützenswerte Details, die teils sehr aufwendig restauriert wurden, etwa das Parkett im großen Saal.

Auch bei Dach und Fassade wurde schnell klar, dass es mit einer simplen Renovierung nicht getan war. Das Dach etwa, muss erneuert werden. Dazu sollten eigens Ziegel nach dem historischen Vorbild gebrannt werden.

Garten bleibt noch ein Jahr geschlossen

Das ließ sich jedoch deshalb nicht umsetzen, weil die alten Ziegel so wertvoll sind, dass sie nicht entsorgt werden durften. Stattdessen sollen sie auch nach der Renovierung das Dach des NHU zieren. Dafür müssen die alten Ziegel aber aufwändig von Bauschaum und anderen Spuren, die ein Jahrhundert hinterlassen hat, gereinigt werden. Das wird dann etwas teurer.

Doch Matthias Winter will den Denkmalpflegern keinen Vorwurf machen. Im Gegenteil, er würdigt ihr Engagement. Auch dass die Renovierung nun teurer ausfallen wird, als geplant, kann er verkraften. Allerdings meint er: »Ich hätte mir im Vorfeld mehr Gutachten gewünscht.« So kommt es nun zu neuen Verzögerungen. Er zeigt das am Beispiel des Daches: »Seit Wochen haben wir bestes Dachdeckerwetter, können aber nicht anfangen.« Durch die Neubewertung von »Reparatur« in »Erneuerung« sei nun auch eine neue Ausschreibung nötig. Er glaube nicht, dass man jetzt auf die Schnelle eine Dachdeckerfirma  finden werde, die Kapazitäten für so ein Projekt habe. »Das ist schließlich kein Garagendach.«

Die Folgen sind in der Tat gravierend. Solange die Außen- und Dacharbeiten nicht beendet sind, kann das NHU seinen Garten nicht nutzen.

Das war auch der Grund, warum das NHU seine Wiedereröffnung beim traditionellen Tag der offenen Tür nicht im Garten, sondern im Saale feierte. Die Veranstaltung war trotzdem sehr gut besucht und viele Gruppen feierten ihre Rückkehr mit entsprechenden Darbietungen. Der Andrang war so groß, dass sich das NHU nur wenig Sorgen machen muss. Es wird sich schnell herumsprechen, dass es wieder offen ist. Auch wenn es von außen so verpackt aussieht.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Juli 2018.

Agåta, 82, ist jetzt j-fidel

Ein 40-jähriges Kneiperleben ist zu Ende / von Joachim Mühle

Da steht sie zum ersten Mal vor dir. 76 Jahre ist sie alt, hast du dir sagen lassen, und wird wohl bald aufhören zu arbeiten. 1,60m groß, so dass sie kaum über den Tresen schauen kann; rot-orange gefärbtes Haar; eher klapprig als drahtig, mit kaputter Hüfte. Kein heißer Feger ist sie, das siehst du; sondern ein Besen, das hörst du, wenn sie ihre ersten Sätze spricht, in ihrem unnachahmlichen Marika-Rökk-Slang mit den vielen ås und äs. Wenn sie dir gleich zu Beginn des ersten Gesprächs unmissverständlich klarmacht, dass ihre Kneipe zwar »Agatha« heißt, sie selber sich im Deutschen aber »Agata« schreibt und »Agåta« (fast schon »Agota«) spricht. Ein Transkriptionsproblem aus dem Ungarischen.

»Wer soll denn da kommen?« Agåta Plath mit Gast-Gastwirt Joachim Mühle beim »Valentinstag«.

Foto: fh»Wer soll denn da kommen?« Agåta Plath mit Gast-Gastwirt Joachim Mühle beim »Valentinstag«. Foto: fh

Am 20. Juni 1933 ist sie in Budapest geboren. Das Land hat sie schon Anfang der 50er verlassen; unter Zurücklassung aller sozialen Kontakte, auch einer Tochter. Auf Umwegen ist sie in Westberlin gelandet, hat sich mit Gelegenheitsjobs und einer Änderungsschneiderei über Wasser gehalten. Und dann, Anfang der Siebziger, kam Raimond Schröter. Zusammen haben sie das »Agatha« in der Jahnstraße aufgemacht. 2005 hat Raimond sie verlassen. Herzinfarkt. 2014 hat das »Agatha« aufgehört zu existieren. Kiezinfarkt (neudeutsch: Immobiliendruck). Und jetzt, Mitte Juli, hat Agåta Plath hingeschmissen. Halb freiwillig, Hirntumor, exitus. Aber der Reihe nach.

Was waren das für Zeiten, Anfang der Siebziger. Die Studentenunruhen waren vorbei. Manche ihrer Teilnehmer ließen sich im gutsituierten Charlottenburg oder Dahlem nieder und bereiteten sich auf die Professur vor, andere auf den Untergrund. Bewegung 2. Juni, Ermordung des Kammergerichtspräsidenten von Drenkmann, Entführung des CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz. Was von der Studentenbewegung noch so blieb, waren die ganzen Kneipen. Die »Dicke Wirtin« gibt es heute noch. Aber das war weit weg von Kreuzberg, vor allem in Charlottenburg. TU-nah eben. In Kreuzberg und den angrenzenden Ecken Neuköllns gab es auch Kneipen. Die klassischen Schultheiss-Engelhardt-Kindl-Eckkneipen, die gerade vor der ersten Welle des Kneipensterbens standen, weil ihre traditionellen Gäste, Handwerker und Industriearbeiter, wegzuziehen begannen in die Komfortwohnungen der neuen Großsiedlungen. In die Substandard-Wohnungen Kreuzbergs zogen Türken und Studenten. Die »Kreuzberger Mischung« erfuhr eine neue Belebung, an der auch Agåta Plath und Raimond Schröter teilhaben wollten.

Ihre Idee: die erste Studentenkneipe Kreuzbergs. Und am 15. März 1974 eröffnete das »Agatha« in den Räumen einer uralten Speisegaststätte. In der kleinen, ruhigen, südlichen Verlängerung der Schönleinstraße war das, zwischen Urbanstraße und Hasenheide, Jahnstraße 15, die deshalb so heißt, weil sie direkt auf das Turnvater-Jahn-Denkmal am nordöstlichen Rand des Volksparks zuläuft. Agåta machte die Küche, Raimond den Tresen. Ihr Konzept – eine duster-plüschige Atmosphäre, preiswerte Speisen und Getränke für die jungen Leute, viel Qualm und rockig-bluesige Musik – ging auf und war stilbildend für alles, was sich in der Folge rund um Hermannplatz und Südstern ansiedelte.

Dank Jukebox, Dart, Kicker und Billard, der herzlich-rauen Art des Wirtes und der ungarisch beeinflussten Kochkunst der Wirtin war die Bude immer voll. Bis Mitte der Achtziger wohnten die Beiden auch noch in ihrem Laden, mit Schäferhund. Durchs rechte Fenster sah man den Tresen, durchs linke die weinroten Samtvorhänge, die den Privatbereich markierten. »Wie ein Puff wirkte es auf Leute, die sich nicht auskannten.« Irgendwann erzählte Agåta ihren Gästen, dass sie Wandteller und Handpuppen gerne mag. Von da an wurde der Laden damit zugepflastert. Von allen Wänden hingen die mehr oder weniger geschmackvollen Keramikteile und von der Decke jeden Quadratmeter ein halbmetergroßer Staubfänger. Aber genau das und das knallrot lackierte Tresenbuffet, ein uraltes, riesiges Apothekenregal, machte die Kneipe unnachahmlich.

Über dreißig Jahre lang war alles gut, mit den üblichen Höhen und Tiefen. Die Wirtsleute wohnten längst im Nachbarhaus in einer richtigen Wohnung, als eines Tages Raimond nicht zur Arbeit erschien. An diesem 5. Januar 2005 fand Agåta ihren Mann tot im Flur ihrer Wohnung. Herzinfarkt. Aus und vorbei. Agåta stürzte erst in ein tiefes Loch und dann sich selber in neue Aufgabenfelder. Mitarbeiter hatte es in all den Jahren nur zwei gegeben: Ingrid und Thomas, nach seinem Hund Cato-Thomas genannt. Agåta musste sich nun um alles kümmern, auch das, was ihr nicht so lag, und immer Raimonds Domäne gewesen war: der lockere Plausch am Tresen. Agåta war nicht der joviale Typ, sondern eher die Zicke. Diese Überforderung spürte sie, und sie ließ es ihre Gäste spüren. Ihr selbst ging es nicht gut, und manchen Gast vergraulte sie. Aber sie hatte auch neue Ideen, mit denen sie ihren Stamm zusammenhielt: Live-Auftritte junger Nachwuchsmusiker zwischen 15 und 55 etwa, oder die im jahreszeitlichen Wechsel stattfindenden Muschel-, Eisbein- und Gänseessen. Legendär sind ihre, dem ungarischen Gehör geschuldeten Stilblüten, wie »j-fidel«, wenn sie »j.w.d.« meinte, oder wenn sie etwas in ihren Laptop »einspeichelte« (einspeicherte). Leider nehmen aber die altersbedingten gesundheitlichen Probleme zu. Die gute Agåta ist mittlerweile über siebzig! Als am 1. Januar 2008 das Berliner Nichtraucherschutzgesetz in Kraft tritt, ist mit der Küche Schluss. Denn eines ist für Agåta, die Kettenraucherin, klar: die Luft in ihrer Kneipe muss rauchgeschwängert sein, sonst wäre es ja keine Kneipe mehr.

Und so lerne ich Agåta ein gutes Jahr später kennen. Sie: ein Jever light in der Linken, eine Zigarette (Aldi No. 7) in der Rechten; orange-rote Haare auf dem Kopf und kratzbürstige Haare auf den Zähnen; humpelnder Gang, weil die Hüfte gar nicht mehr mitspielt. Ich muss demnächst sanierungsbedingt das »Gasthaus Valentin« schließen und suche ein Übergangsquartier für meine Gäste, meine Mitarbeiter und mich. Stammgäste beider Lokale haben uns zusammengebracht. Agåtas Laden läuft nicht mehr, weil sie nicht mehr kann. Aber sie kann und will nicht loslassen. Ihre Augen blitzen misstrauisch: »Ihr kriegt mich hier nicht lebend raus!« Ich will sie ja gar nicht raushaben, sondern schildere ihr meine Idee: Immer donnerstags soll in ihrer Kneipe »Valentinstag« als Treffpunkt meiner treuen Stammgäste sein. Sie findet die Idee witzig aber bescheuert. »Wer soll denn da kommen?« – aber wenn es ihr ein paar Euro mehr in die Kasse bringt… Wir einigen uns, legen nach ein paar Wochen los und aus den geplanten zwei bis drei Monaten »Exil-Valentin« wird ein dreiviertel Jahr. So lange dauert es auch, bis wir uns zusammengerauft haben. Erst mag sie es gar nicht, wenn Anna, Astrid und ich hinter ihrem Tresen stehen – auch wenn wir ihr nur ihre Arbeit erleichtern. Aber irgendwann siegt die Bequemlichkeit über den Starrsinn. Donnerstags, wenn wir da sind, thront sie auf dem Barhocker am Tresenende und überwacht mit flinken Augen das Geschehen. Als im Frühjahr 2010 das neue »Gasthaus Valentin« in der Hasenheide eröffnet, bleibt der Kontakt zwar bestehen, aber arbeitsbedingt werden die Besuche im »Agatha« immer seltener. Und sie selber kriegt, trotz mehrfacher Einladung und angebotenem Fahrservice »ihren Hintern nicht in die Höhe« – was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Denn die Probleme mit der Hüfte und dann auch den Beinen werden immer größer. Es folgen mehrere kurze Krankenhausaufenthalte, aber verbissen macht sie weiter, proklamiert ein großes Ziel: den vierzigsten Jahrestag ihrer Gaststätte zu schaffen. Was ihr bis auf wenige Wochen auch gelingt. In den letzten Jahren ist im Zuge der Internationalisierung von »Kreuzkölln« auch wieder neues, jüngeres Publikum in ihren Laden geströmt. Aber da ist es für das wirtschaftliche Überleben schon zu spät. Eine vom Vermieter geforderte Mieterhöhung kann sie sich nicht leisten. Nach einer einjährigen »Gnadenfrist«, die sie durch das Engagement von Hausnachbarn eingeräumt bekommt, kommt Ende Februar 2014 das endgültige Aus fürs »Agatha«. Und Agåta?

Agåta Plath verlässt ihre Wohnung nur noch zu Arztbesuchen oder wenn Sie wieder einmal ins Krankenhaus muss. Ich besuche sie Mitte Juli 2015 noch zweimal im Klinikum Friedrichshain. Lungenkrebs mit Metastasen am Gehirn, die eine Lähmung der linken Körperhälfte bewirken. Vom Mundwerk her ist Agåta noch ganz die Alte. Ob es um die Krankenpflege oder das Essen geht – sie schimpft wie ein Rohrspatz. Aber dann muss sie erfahren, dass sie wohl zeitlebens halbseitig gelähmt bleiben wird und an ein gewohntes Leben in ihrer Wohnung nicht zu denken ist. Das nimmt ihr, so scheint es mir, die Illusionen, die sie bis dahin hatte. Sie wird noch in das Pflegeheim Bethesda in der Dieffenbachstraße überstellt, aber ein Pflegefall wollte sie nie sein. Jetzt lässt sie los und stirbt friedlich am 19. Juli 2015 im Alter von 82 Jahren.

Einmal wird Agåta noch umziehen, nach j.w.d. – j-fidel wie sie selbst gesagt hätte. Am 8. September 2015, um 14:00 Uhr, findet ihre Beisetzung auf dem Kirchhof Gottlieb-Dunkel-Straße 28/29 in Tempelhof statt.

Agåta-Deutsch richtige Bedeutung
j-fidel j.w.d.
Kalderwelsch Kauderwelsch
einspeicheln einspeichern
ab und da ab und an
Hutkrempel Hutkrempe
Australianer Australier
hilfslose Person hilflose Person
aus Jux und Toleranz aus Jux und Tollerei
Bingo Bells Jingle Bells (Lied)
Kleinkanone Kleinganove
…bis der Tag lang ist …wie der Tag lang ist
Solidar Solitär
auf den Dott gehen auf den Docht gehen
Römische Dörfer Böhmische Dörfer
auf dem Kerbel haben auf dem Kerbholz haben
Baukolonie Baukolonne
Ölmandant Ölmagnat
Ost-Regie Ostregime
Inquisition Invasion
zusammen kluckern zusammen glucken
Clichvertrag Knebelvertrag
inkonsequent inkontinent
Das Agåta-Glossar

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2015.

Kurze Flucht der Tankstellenräuber

Gegen 19 Uhr überfielen am Sonntagabend zwei Jugendliche eine Tankstelle in der Kreuzberger Urbanstraße. Die 35jährige Angestellte war allein, als die Täter das Geschäft betraten. Sie bedrohten die Verkäuferin mit einer Schusswaffe und forderten Geld. Das Duo entwendete zusätzlich das Portemonnaie der Frau. Sie flüchteten in Richtung Jahnstraße, was von zwei Zeugen, die zu dem Zeitpunkt tankten, beobachtet wurde. Zivilpolizisten nahmen einen 18jährigen Tatverdächtigen nach kurzer Verfolgung fest. Polizisten des Abschnitts 52 und der 21. Einsatzhundertschaft entdeckten dessen 16jährigen Komplizen später in der Graefestraße und nahmen auch ihn fest. Die Täter wurden dem Raubkommissariat der Polizeidirektion 5 überstellt

In der Bank überfallen

Opfer eines Überfalls wurde ein 27-Jähriger in der Nacht zum Mittwoch in Kreuzberg. Der Mann wollte kurz nach Mitternacht Geld in einen Automaten einer Bankfiliale in der Urbanstraße einzahlen, als ein Unbekannter ihn mit einem Messer bedrohte. Der Täter verlangte das Geld, zusätzlich weiteres Geld vom Konto sowie das Mobiltelefon. Nachdem er das Geforderte erhalten hatte, musste sich der Überfallene auf den Boden legen. Zwischenzeitlich flüchtete der Räuber mit seiner Beute über die Urbanstraße in Richtung Baerwaldstraße. Der 27-Jährige blieb unverletzt. Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen übernommen.

Bau auf, Bau auf

Baustellen legen Verkehr in Kreuzberg lahm

Hier baut der Bund: Baustelle Gneisenau.

Foto: piHier baut der Bund: Baustelle Gneisenau. Foto: pi

Selbst das Bauamt hat es inzwischen wohl aufgegeben und den Überblick über die Baustellen verloren. Eine Liste gibt es jedenfalls nicht. Nur soviel ist klar: Die Bauorgie im Bezirk wird noch einige Wochen weitergehen.

Ärgerlich ist es für die Autofahrer vor allem, wenn sie in Ost-West-Richtung unterwegs sind. Die drei Magistralen Gitschiner/Skalitzer, Urbanstraße und Gneise­nau­straße sind alle unterschiedlich von Baustellen betroffen. Es nützt also nicht besonders viel, von der einen auf die andere auszuweichen.

Hart hat es die Bewohner rund um den Südstern getroffen. Seit gefühlten fünf Jahren wird da nun gebaut. Grund war der Umbau des U-Bahnhofs. In den letzten Jahren waren sogar Karneval der Kulturen und der Berlin-Marathon immer wieder gezwungen gewesen, ihre angestammten Routen zu verändern. Endlich, so schien es, war ein Ende abzusehen. Die Anlagen nördlich der Kirche waren frisch eingesät, die letzten Bagger verschwunden, und dann kamen schon die nächsten. Jetzt wurde die Fahrbahndecke im Zuge der Stra­ßen­sa­nie­rung erneuert.

Inzwischen ist auch die Zufahrt zur Blücherstraße blockiert, womit eine weitere Ausweichmöglichkeit, dem zwangsläufigen Stau in der Gneisenau zu entkommen, genommen ist.

Immerhin outet sich der Übeltäter an der Gneisenau sehr klar. Hier baut nämlich die Bundesregierung, die dem staunenden Autofahrer mehr oder weniger aufdringlich auf einem Schild klarmacht, dass die Gelder aus dem Konjunkturpaket II gerade in der Gneisenaustraße verbuddelt werden.

Wenn diese Gelder ihre segensreiche Wirkung getan haben werden, dann wird der Verkehr wunderbar und ungestört durch die Gnei­se­nau­straße rollen? Von wegen. Die BVG saniert derzeit die Tunnel der U7, und das bleibt auch nicht ganz ohne Auswirkungen auf den oberirdischen Verkehr.

Wer sich dem Ost-West-Chaos entziehen will, der kann es ja einfach mit einer Nord-Süd-Verbindung versuchen. Auf der Baerwald- und Prinzenstraße kommt er allerdings auch nicht besonders weit. Auch hier wird seit Wochen gebaut. Dann nichts wie raus aus der Stadt, am besten über die Stadtautobahn, doch um dorthin zu kommen, muss der Autofahrer erstmal den Engpass auf dem Tempelhofer Damm passieren.

Bleibt noch die U-Bahn zu benutzen. Aber bitte nicht die U1. Zwischen Warschauer Brücke und Kotti gibt es Schienenersatzverkehr. Vorausgesetzt, der Bus steckt nicht im Stau fest.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2009.